CTOUR on Tour: Wasser-Wald-Inseln-Kultur: Estlands Westküste

Aktive Erholung, wo Tradition und Moderne zu einem Juwel verschmelzen

Ein kleines Land, ein reiches Land – an Traditionen und Kontrasten, sowohl landschaftlich als auch kulturell. Ein EU-Land in Osteuropa, über das man hierzulande noch viel zu wenig weiß. Zwar nicht ganz nah, aber uns kulturell und historisch nahestehend.

Den Hafen von Tallinn, Estlands Hauptstadt-Perle, steuern im Sommer viele Kreuzfahrtschiffe an. „Zu viele“, wie manche Esten meinen, „wenn täglich weit über 10.000 Gäste die malerische Altstadt fluten“. Dazu kommen die Großfähren mit tausenden Finnen aus Helsinki oder Schweden aus Stockholm. Die Verbindung zu den Nachbarländern ist profitabel und historisch wie ökonomisch sehr eng. Seit dem 13. Jahrhundert prägten deutsche Kreuzritter die Region, später Adlige, Kaufleute und Handwerker. Mit dem Hitler-Stalin-Nichtangriffs-Pakt von 1939 wurden die deutschbaltische Oberschicht enteignet und alle Deutschen nach Westen umgesiedelt.

Tallinner Altstadt-Panorama
Tallinner Altstadt-Panorama

Tere tulemast in Estland!
Wer indes das hansestädtische und baltendeutsche Flair des alten Reval, wie die heutige UNESCO-Stadt früher hieß, geschnuppert hat, kann nicht behaupten, das Land gesehen zu haben. Das fängt außerhalb der 400.000-Einwohner-Stadt an.

Daher sollte man sich unbedingt auf den Weg machen zu einer Schnuppertour, zum Beispiel von Tallinn aus entlang der malerischen Westküste über Haapsalu nach Pärnu. „Tere tulemast!“, „Willkommen!“ heißt es überall gastfreundlich.

Die COSTA Luminosa während ihrer Ostsee-Kreuzfahrt vor Tallinn
Die COSTA Luminosa während ihrer Ostsee-Kreuzfahrt vor Tallinn

Wer per gechartertem oder eigenem Boot kommt, kann insgesamt 3800 Kilometer Küstenlinie und 2222 naturbelassene Inseln erkunden. Wobei man unter 130 Häfen mit teilweise sehr guter Infrastruktur, wie zum Beispiel in Dirhami südlich der Insel Osmussaar, wählen kann; abgesehen von rund 300 Liegeplätzen an Bojen, Kais oder Pontons. Maximaler Abstand der Häfen voneinander: nicht mehr als 30 Seemeilen. Da kann man schnell mal an Land gehen, wenn´s draußen pustet oder man sich die Beine vertreten möchte. Auch Kajakfahren ist an der gesamten Küste mit ihren Sandstränden, Steilufern und Inseln sowie auf den inländischen Flüssen und Seen sehr beliebt.

Naturparadies mit Bewusstsein
Die Fahrt über Land ist eine Reise rückwärts – in die Vergangenheit. Über Kilometer ist weder ein Gebäude zu sehen noch kommt ein Auto entgegen. Die grüne Kulisse bilden nur tiefe, urwüchsige Kiefern-, Birken- und Fichten-Mischwälder, feuchte Auwiesen und Moore, die fast ein Drittel des Staatsgebietes bedecken. Sie sind berühmt für ihren Pilz- und Beerenreichtum. Außer Rothirschen, Rehwild und Wildschweinen fühlen sich hier auch bedrohte Tierarten wie Elche, Wölfe, Luchse und Braunbären zu Hause. An den Ufern der fischreichen Gewässer tummeln sich Biber und Fischotter. Ein Paradies auch für rund 400 Vogelarten, darunter Seeadler, Kraniche, Moorhühner und Schnepfen.

Der historische Dampfeisbrecher SUUR TOLL
Der historische Dampfeisbrecher SUUR TOLL

Die sowjetische Besatzung hat, wie man hört, gravierende Umweltprobleme hinterlassen. Doch die Esten haben ein ausgeprägtes Bewusstsein dafür entwickelt, so dass von den Altlasten heute nur noch wenig zu spüren ist.

Baltischer Tiger auf dem Sprung
Das gilt auch politisch: Bei allem Trennenden zwischen den drei baltischen Staaten hat sie das geteilte Leid 50-jähriger Sowjetherrschaft – unterwegs erinnert lediglich eine riesige düstere Gefängnisruine mit Kalksteinbruch daran – zu einer machtvollen Demonstration vereint. Am 23. August 1989 schlossen sich zwei Millionen Menschen in einer von Tallinn nach Vilnius reichenden Menschenkette zusammen, um gemeinsam für ihre Unabhängigkeit zu demonstrieren. Russen, die rund 30 Prozent der 1,35-Millionen-Bevölkerung ausmachen, leben von den Esten isoliert. „Mit den Russen spricht man nicht“, heißt es häufig. Ältere Russen verlassen sich nur auf ihre Muttersprache, während die nachwachsende Generation junger „Eurorussen“ die Landessprache beherrscht und bewusst auf Integration setzt.

Mit dem Charterboot vom Olympiahafen Tallinn auf die Ostsee
Mit dem Charterboot vom Olympiahafen Tallinn auf die Ostsee

Die – völlig zu Unrecht angstbesetzte – Nähe zu Russland mag ein Grund dafür sein, so munkelt man in Fachkreisen, dass Touristen aus mittel- und südeuropäischen Ländern Estland noch nicht für sich entdeckt haben. Dabei kommt man per Fähre von Deutschland, Schweden oder Finnland, auf der Straße via Polen, Litauen und Lettland oder durch die Luft relativ schnell und günstig ins Land. Das gilt als „baltischer Tiger und war Musterknabe unter den EU-Beitrittskandidaten. Per Internet wird hier fast alles geregelt, sogar die Parlamentswahlen. Funklöcher? Kennt man hier nicht. Ein in jeder Hinsicht fortschrittliches Land.

Im Kurort der Zarenfamilie
Das zeigt sich besonders in den liebevoll restaurierten Städten. Die erste Station nach rund 130 Kilometern auf gut ausgebauten Nebenstraßen, das 12.000-Einwohner-Heilbad Haapsalu, in dem auch die Zarenfamilie öfter weilte, ist ein gelungenes Beispiel dafür: ob das 1905 im Jugendstil erbaute Kurhaus oder der hölzerne Alte Bahnhof, das heutige Estnische Eisenbahnmuseum, mit dem 1906 längsten überdachten Bahnsteig Europas. Auf den Gleisen träumen sowjetische Lokomotiven, darunter auch eine graue 52er-Kriegslok aus München, von bewegten Zeiten unter Dampf.

Segeln vor der Stadtsilhouette von Tallinn
Segeln vor der Stadtsilhouette von Tallinn

Von der langen Strandpromenade, Estlands romantischster Spaziermeile, kann man im Wasser schwimmende Kunst bewundern; oder von der hochmodernen Marina aus, in der auch das deutsche Unternehmen Marinepool Segelbekleidung und Rettungswesten produziert, mit dem 6-PS-Dampfer-Oldtimer KALLIS MARI in See stechen. In einem typischen Holzhaus wird das Werk von Ilon Wikland gezeigt. Die heute 90-Jährige mit estnisch-schwedischen Wurzeln illustrierte die Bücher von Astrid Lindgren mit den bezaubernden Figuren wie „Karlsson vom Dach“ oder „Ronja Räubertochter“. Nicht weit entfernt davon, im Zentrum der Altstadt, spukt auf der romantischen Bischofsburg aus dem 13. Jahrhundert die „Weiße Dame“ in hellen August-Vollmondnächten.

Lebensstil wird zelebriert
Dann sollte man hier tunlichst in einem der zahlreichen geschmackvollen Gästehäuser übernachten und die gemütlichen Gaststätten mit einheimischen Fischgerichten wie gegrilltem oder geräuchertem Stint und Weißfisch testen. Es lohnt sich! Zu Preisen allerdings, die den deutschen kaum nachstehen. Das ist schon verwunderlich bei einem Durchschnittsgehalt von rund 500 Euro pro Monat. „Es reicht“, sagt erstaunlicherweise so mancher Este, „wenn man mehrere Jobs hat“. Viele arbeiten inzwischen auch „drüben“ in Finnland und Schweden, weil die Löhne mindestens dreimal so hoch sind. Was sich letztlich auch im sichtbaren Lebensstil wiederspiegelt. Junge, arrivierte Esten zelebrieren das neue Lebensgefühl auch gern in der Jugendstilvilla Ammende. Ein wunderschöner Palast mit ausgezeichneter Küche, Hotellerie und Park.

Blick in das Schifffahrtsmuseum mit U-Boot
Blick in das Schifffahrtsmuseum mit U-Boot

Deutsche Unternehmen indes profitieren von den Niedriglöhnen und dem handwerklichen Geschick der Esten. Wie die Polar Yacht Manufactory, die hochwertige Segelkatamarane baut und damit großen Anklang weltweit findet.

Mediterranes Flair in Hansemauern
Rund eineinhalb Autostunden südöstlich kuschelt sich Pärnu, Estlands Sommerhauptstadt, am Ende einer Bucht in die Dünen. In dem charmanten 48.000-Einwohner-Kurort mit seinem kilometerlangen weißen Sandstrand glaubt man mediterranes Flair zu spüren, das Gäste und Einwohnern anscheinend genießen. Durch schattige Alleen und Parks per Fahrrad die ehemalige Hansestadt zwischen Tallinner Tor und Rotem Turm zu erkunden, ist geradezu eine Erholung. Auffallend: viel Stille überall ohne den gewohnten Verkehrslärm.

„Das“, so empfehlen die estnischen Insider, „ist auf unseren großen Inseln Saaremaa, Hiiumaa und Muhu noch viel ausgeprägter, auch die unverfälschte Natur und ein echtes Dorfleben“. Schon notiert für den nächsten Besuch, auch das weitgehend unentdeckte hügelige Wald-, Seen- und und Flüsseland um den Vörtsjärv im Südosten.

Jetzt heißt es erst mal: „Hüvasti!“, „Auf Wiedersehen!“

Weitere Infos:
www.visitestonia.com

Fotos: Dr. Peer Schmidt-Walther (5), Hans-Peter Gaul