Was für ein hinreißend gut geschriebenes, faszinierendes Buch. Wie viel Neues, Bedeutsames, Gewichtiges habe ich erfahren – obwohl ich als Reporterin der Illustrierten FREIE WELT wohl an die hundert Mal in Moskau war – oft allerdings nur für ein oder zwei Tage, weil – meiner journalistischen Spezialisierung entsprechend – mein eigentliches Ziel die kleinen Völkerschaften der ehemaligen Sowjetunion waren.
„Moskau lesen“, 1984 im Siedler Verlag erschienen, hat verschiedene Nachauflagen erfahren und ist ins Russische und Englische übertragen worden. Da „Moskau lesen“ nun aber seit langem vergriffen war, entschloss sich der Münchener Carl Hanser Verlag zu einer neuen und erweiterten Auflage. Das Buch von 1984 zeigt das alte, das sowjetische Moskau bis unmittelbar vor dem Ende des sowjetischen Systems, „es war“, schreibt Karl Schlögel in seinem Vorwort, „die Erkundung einer Stadt in einer langen Zeit der Agonie am Vorabend einer rasenden Beschleunigung der Geschichte“.
Der erste Teil des Buches – zumindest für Russisten inzwischen zum Kultbuch geworden – ist unverändert geblieben und somit „eine Art Führer in eine untergegangene Stadt“ – kein Reiseführer, „sondern ein Führer auf einen geschichtlichen Schauplatz, vor allem des 20. Jahrhunderts, das die Nachgeborenen nur vom Hörensagen kennen. Es geht darin …um Stein gewordene Schicksale von Menschen, ja ganzer Generationen.“
„Moskau lesen“ hat nahezu alle Themenbereiche im Blick: die Politik, Geschichte, Literatur, Kunst, Architektur, Natur und Umwelt, das Bildungswesen, das russische Alltagsleben… Dieses Buch des schriftgewaltigen Osteuropa-Historikers sind viele Bücher in einem! Kenne ich den Komponisten Sergej Tanejew (1856-1915) aus Sofja Tolstajas Roman „Eine Frage der Schuld“, so erfahre ich von Schlögel darüber hinaus, dass Tanejew (und Andrej Bely, Sergej Solowjow, Michail Ertel, Waleri Brjussow) im Eckgebäude des Arbat 55 regelmäßig an den sonntäglichen Treffen der „Argonauten“ teilgenommen hat; kenne ich den Marschall der Sowjetunion Michail Tuchatschewski (1893-1937) aus dem Buch „Die Memoiren des Dmitri Schostakowitsch von Solomon Wolkow, so erhalte ich bei Schlögel darüber hinaus Kenntnis davon, dass Tuchatschewski nicht nur General, sondern auch ein hervorragender Geigenbauer war, der bei Schostakowitsch Violin- und Kompositionsunterricht genommen hat; kenne ich von dem Dichter Boris Pasternak (1890-1960) z. B. seinen Roman „Doktor Shiwago“, so lese ich bei Schlögel darüber hinaus, dass er während des Großen Vaterländischen Krieges als Mitglied der Luftschutzbrigade auf dem Dach des Hauses Lawruschinski pereulok 17 – gegenüber der Tretjakow-Galerie – gegen die deutschen Flugzeuge auf Wache stand; von meiner russischen Freundin Raissa wusste ich, dass am 25. August 1968 einige Dissidenten auf dem Roten Platz ein Transparent entrollt hatten, auf dem stand: „Wir protestieren gegen die Besetzung der ĈSSR“, bei Schlögel lese ich erstmals die Namen der Mutigen, es waren Larissa Bogoras, Pawel Litwinow (ein Physiker), Wadim Delone, Wladimir Dremljuga (ein Arbeiter), Wiktor Fainberg, Natalja Gorbanewskaja (eine Schriftstellerin) und Konstantin Babizki. Das Register im Anhang zu Moskau lesen weist fast 680 Namen aus, und über fast alle weiß Karl Schlögel in seinem Buch (mir) unbekannte Datails zu berichten. „Wir beide lebten in Moskau. Aber auch wir entdeckten“, gestehen Raissa und Lew Kopeljew – seit 1981 im Exil in Amerika, danach in Köln – „dank Schlögel in unserer Heimatstadt einiges, was wir früher kaum wussten und was uns bedeutend erscheint. Von Seite zu Seite wird man mehr gefesselt und mitgenommen.“
Karl Schlögel, 1948 in Bayern geboren und im Westen aufgewachsen, hat im Laufe seines Lebens eine tiefe Sympathie für den europäischen Osten entwickelt, hat die Verbindung dorthin zu seinem Lebensthema gemacht. Er studierte an der Freien Universität Berlin, in Moskau und Leningrad Philosophie, Soziologie, Osteuropäische Geschichte und Slawistik zu einer Zeit, als Osteuropa nicht gerade eine Moderichtung war. In den achtziger Jahren, sagt Schlögel, sei die Erkundung der Stadt ein wahrhaft aufwühlendes Abenteuer gewesen. Der Historiker Schlögel hatte während eines Forschungsauftrages begonnen, Skizzen und Beobachtungen zu sammeln, Bauformen und Adressbücher zu befragen, Museen und Antiquariate zu besuchen, Schrifttafeln und alte Zeitungen zu studieren. In einem Interview sagte Schlögel, man dürfe keinerlei Material ausschließen, es sei alles erlaubt, was helfe, eine Zeit zu verstehen.
Der erste Teil des Buches „Moskau lesen“ handelt von politischen Sowjetlosungen („denen man sich leicht entziehen konnte“), vom Freibad „Moskwa“ („das die Baugrube des nicht errichteten Sowjetpalastes volkssportlich nutzte“), von der auf Befehl Stalins gesprengten Erlöserkathedrale, von Buchläden, wo anspruchsvolle Literatur gierig umlagert wurde, von dem Hotelriesen „Rossija“, von Moskau als ein Reservat des Jugendstils, von den sieben 1947 (!) gebauten Hochhäusern im Zuckerbäckerstil (oft wird „in der blasierten Kritik an Eklektizismus und Zuckerbäckerei die ungeheure und übermenschliche Anstrengung, die in sie investiert wurde, vergessen, wenn nicht verspottet“); von den ersten russischen Schulen und der ersten Universität…
Den zweiten Teil des Buches „Moskau lesen“ bilden Karl Schlögels Notizen und Beobachtungen von 1988 bis 2010, Jahre, in denen die Sowjetunion unterging und sich die ehemalige Unionshauptstadt Moskau, in der der Verkehr teils achtspurig abläuft, zur zweitteuersten Stadt der Welt – nach London – mauserte. Wir lesen von allzu aufdringlicher Reklame statt von politischen Sowjetlosungen; von der wieder aufgebauten Erlöserkathedrale „als luxuriöse Kitschkopie (Kerstin Holm) an der Stelle des Freibades „Moskwa“; von Buchläden, in denen die anspruchsvolle Literatur in den hintersten Regalen lagert, verdrängt von Schmökern, Krimis und Kochbüchern; vom Abriss des legendenträchtigen „Rossija“-Hotels, das durch ein exklusives Kultur- und Geschäftszentrum ersetzt werden soll; über einarmige Banditen, Flugverkehr zwischen Alaska und Tschukotka, über Russlands Finanzgenies und Unternehmernaturen, über eine Armee ohne Disziplin, über Antisemiten und Schwarzhemden, über deutsche Schäferhunde und Ostereier von Fabergé, über das Intimleben der Mächtigen, Sibirische Tiger und Wundertäter, fliegende Untertassen, die Gulags, über Streiks und Stadtrundfahrten früh um vier, über Sozialprogramme, Steuerbetrug und Wolfsrudel in Tschernobyl… Bei vielen Wörtern des gebildeten Autors – der als Professor für Osteuropäische Geschichte an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt / Oder lehrt – musste ich deren Bedeutung nachschlagen – zum Beispiel bei Eutresol, Prolegomena, Surrogate, Demirgen, Apperzeption, Pylonen, Preziosen, Adoleszenz… (Dümmer bin ich davon nicht worden.)
1993 war ich zu Besuch bei meiner Freundin Raissa das letzte Mal in Moskau, da war „meine“ Illustrierte FREIE WELT (die Schlögel auf Seite 242 freundlich erwähnt) schon – wendegeschuldet – eingestellt. Nach der Wende trieb es mich privat und nunmehr als freie Reisejournalistin in andere, westliche Gefilde. Und als meine Moskauer Busenfreundin Raissa verstorben war, hielt ich meine Sehnsucht nach Moskau für geheilt. Seit der Lektüre von Schlögels Moskau-Buch allerdings weiß ich, dass ich mich bald, sehr bald doch noch einmal „Nach Moskau! Nach Moskau!“ (Anton Tschechow) aufmachen werde.
Karl Schlögel: Moskau lesen. Carl Hanser Verlag, München 2011. 506 Seiten, 25,90 Euro
Rezensionen und Informationen über Literatur aus Ländern der ehemaligen Sowjetunion sind unter www.reller-rezensionen.de zu finden.