IM LAND DES FRISCHEN WINDES

Besuch der Wattenmeer-Küste in den niederländischen Provinzen Fryslân und Groningen

Von Ronald Keusch

Das Wattenmeer ist eine einmalige Landschaft von herber Schönheit. Es bildet den amphibischen Saum zwischen dem Festland und der Nordsee an der Küste der Niederlande, Deutschlands und reicht bis nach Dänemark. Gekennzeichnet sind seine Küstenbereiche durch die Gezeiten und den bei Ebbe freiliegenden Grund – das Watt. Besonders in den Niederlanden prägt das Wattenmeer, von der UNESCO im Jahr 2009 zum Weltnaturerbe gekürt, die gesamte Küstenlandschaft.

Hier in den Provinzen Friesland und Groningen sind seit jeher sehr selbstbewusste Küstenbewohner zu Hause, die ihre Kultur und Identität bewahren. So haben die Friesländer bei ihrer Regierung in Den Haag im Jahr 1997 durchgesetzt, dass für ihre Provinz offiziell nur noch der friesische Name Fryslân verwendet wird. Für die deutschen Touristen ist allerdings auch die Bezeichnung Westfriesland gebräuchlich. Westfriesisch ist zweite Amtssprache in Fryslân und für rund 350 Tausend Menschen ihre Muttersprache.

Unsere international zusammengesetzte Journalistengruppe besucht unter der Überschrift „Nachhaltigkeit und Slow Travel“ das Wattenmeer, niederländisch Waddenzee, friesisch Waadsee.

Spezielles Markenzeichen auf zwei Rädern

Für die Mehrzahl der Besucher der niederländischen Wattenmeer-Küste ist das idyllische Städtchen Groningen ein wunderbarer Ausgangspunkt. Die Hauptstadt der Provinz Groningen ist geprägt durch ihre historische Altstadt, imposante Kirchenbauten, durch beschauliche schmale Gassen, idyllische grüne Innenhöfe und einem besonderen Markenzeichen auf zwei Rädern. Sie wurde in den ohnehin fahrradfreundlichen Niederlanden zur Welt-Fahrradstadt erklärt.

Besonders attraktiv ist eine Grachtenrundfahrt durch die Stadt.

Grachtenfahrt in Groningen

Die Kanalboots-Tour passiert mehr als ein Dutzend Brücken, gleitet vorbei am Martinitoren – dem Kirchturm der Martini-Kirche, und lässt die Wunder an mittelalterlicher und moderner Architektur an einem vorbeiziehen: Prächtige Bürgerhäuser in norddeutscher Backsteingotik, mittelalterliche Lagerhäuser oder auch attraktive moderne Bauten, wie das auffällig bunte Groninger Museum, das wie ein futuristisches Schiff auf einer kleinen Insel zwischen Hauptbahnhof und Stadtzentrum liegt. Die Grachtenfahrt ist auch deswegen entspannter, weil ein Stadtbummel einem Fußgänger bei dem intensiven Radverkehr recht viel Aufmerksamkeit abverlangt.

Hotel auf Stelzen im Meer

Das Erlebnis der Wattenmeer Küste kann ein paar Dutzend Kilometer von Groningen entfernt in dem kleinen Ort Delfzijl an der Ems-Mündung beginnen. Vor allem dann, wenn der Besucher das Eems Hotel auswählt, das auf Stelzen im Meer gebaut wurde.

Das Eems-Hotel in Delfzijl

Auf vierzig 16 Meter langen Pfählen, die tief in den Wattboden eingerammt wurden, ist der Gast acht Meter über den Meeresspiegel zum Essen, Trinken und Schlafen einquartiert. Und dazu bekommt er ganz unmittelbar die außergewöhnliche überwältigende Sicht auf die Wattlandschaft aus den Fenstern der Hotelzimmer und des Hotelrestaurants dargeboten.

Vogelbeobachtung aus dem Kiekkaaste

Erste Station an der Küste in dem kleinen Grenzort Nieuwe Statenzijl direkt an der deutsch-niederländischen Grenze ist eine Hütte zur Beobachtung von Vögeln. Sie trägt den für deutsche Ohren klangvollen Namen Kiekkaaste. Die Holzhütte ist unmittelbar an den Ausläufern des Wattenmeeres errichtet und bietet einen prächtigen Ausblick auf das Vogelparadies.

Vogelbeobachtung aus der Kiekkaaste

Die Besucher halten nach den häufigsten hier zu beobachtenden Vogelarten Ausschau, dem Austernfischer mit seinem langen orangeroten Schnabel und den auffällig roten Beinen und Augen, dem weißen Löffelreiher mit seinem langen Schopf und schließlich den Wildgänsen. Entlang der Ems-Mündung ist

vor allem die schwarz-weiß-braune Brandgans anzutreffen, die in der Wattenmeer-Region alles findet, was sie braucht: Weideflächen, Äcker und ausgestreckte Salz- und Marsch-Wiesen.

Auf den Salzwiesen zwischen Watt und Deichen

Die Beobachtung des Vogel-Paradieses an der Wattenmeer Küste lässt sich perfekt mit einer Wanderung auf den Salzwiesen fortsetzen. Diese liegen zwischen dem Watt und den Deichen und sind nicht mehr Meer, aber auch noch kein Land.

Das Dorf Moddergat hinter dem Deich

Wir werden in Moddergat, einem Dörfchen in Fryslân mit knapp 500 Einwohnern, von Andries Dijkstra begleitet, der hier am Wattenmeer aufgewachsen ist, im Nachbarort Wierum wohnt und nebenberuflich als Guide die Besucher durch die Meereslandschaft führt. Noch vor ein paar Monaten stand auf den Wiesen das Meereswasser bis zu 40 Zentimeter hoch, erläutert er und erklärt, dass die Salzwiesen entstehen, weil die Flut Schwebteilchen ins Watt schwemmt. Wenn zur Hochwasserzeit die Strömung für kurze Zeit ruht, sinkt feines Material ab und bildet nach und nach eine Schlickschicht. Wenn der Schlick hoch genug angelandet ist, siedelt sich dann der Queller an – eine sogenannte Pionierpflanze. Und er erzählt über den Kampf der Friesen, um dem Meer Land abzuringen und wie die Natur dabei hilft. Nach und nach wächst das Land vor dem Deich höher, im Mittel etwa einen Zentimeter pro Jahr. Bald wird es nicht mehr von jedem täglichen Hochwasser überflutet und mehr und mehr Pflanzen können Fuß fassen.

Landgewinnung durch Uferschutzanlagen – die Lahnung

Die Menschen an der Küste versuchen seit langem, den natürlichen Landzuwachs der Salzwiesen zu unterstützen, indem sie weitere Gebiete eindeichen und langfristig trockenlegen. Eine wichtige Rolle spielten dabei die Windmühlen, durch die es möglich war, Wasser aus großen Flächen abzupumpen. Auf den Deichen weiden Schafe, die auch ihren Anteil am Küstenschutz haben, indem sie das Gras kurzhalten und den Boden weiter verfestigen.

Schafe auf dem Deich tragen zum Küstenschutz bei

Reichhaltiges Büffet für die Zugvögel

Von den Salzwiesen bietet sich bei Ebbe eine besonders gute Sicht auf das Watt, auf dem unzählige Vögel unterwegs sind. „Das Wattenmeer hält für die Vogelwelt ein reichhaltiges Büffet bereit“, so Andries Dijkstra. „Mit den Gezeiten, zwei Mal am Tag, wird das Restaurant geöffnet, und eine Nahrungskette wird in Gang gesetzt, von mikroskopisch kleinen Wattschnecken über Muscheln bis zu den Vögeln. Und ob die Nahrungskette funktioniert, das können wir dann messen, zum Beispiel an den Vögeln, am Austernfischer. Wenn es den Austernfischern gut geht, dann geht es auch der ganzen Nahrungskette darunter gut.“

Anders als ihr Name suggeriert, ernähren sich Austernfischer weder von Austern noch von Fischen, ihre Hauptspeise sind Herzmuscheln. Während der sehr warmen Sommer in den letzten vier Jahren starben viele Herzmuscheln und das hatte auch Auswirkungen auf die Austernfischer und deren Nachwuchs. Aber die Vögel lernten dazu.

Andries Dijkstra erklärt:
„Seit einigen Jahren gibt es im Wattenmeer auch eine exotische Muschelart, die eigentlich in den Philippinen beheimatet ist und über Südspanien und den Ärmelkanal eingewandert ist.

Sie lebt jetzt hier zusammen mit den Herzmuscheln – und sie leben in Harmonie. Wir haben letztes Jahr beobachtet, dass der Austernfischer gelernt hat, auch diese Muschel zu öffnen und zu fressen.“ Während in Deutschland Umweltorganisationen lautstark vor der invasiven Manila-Teppichmuschel warnen und in typisch deutschem Alarmismus gleich das gesamte Wattenmeer als bedroht ansehen, haben sich die friesischen Nachbarn schon längst mit dem Neuankömmling arrangiert. Andries: „Da sehen wir ein kleines Stück der Evolution, die Natur schafft es, sich anzupassen.“

Wo vor 150 Jahren noch die Wellen krachten

Die unberührte Natur der Eems-Dollard-Region lockt jedes Jahr viele Touristen an, die auch den Johannes Kerkhoven Polder besuchen. Es wird gewandert und geradelt.

Vor anderthalb Jahrhunderten waren hier nur Salzwiesen, roher Schlamm und Wasser. Dann begann man unter der Regie einer Amsterdamer Bankier-Familie, dem Meer das Land zu entreißen und es entstand ein moderner Ackerbaubetrieb. An der Eingangstür des Büros befindet sich ein Fassadenstein, wo es unter anderem heißt: Wo die Wellen krachen, raschelt der Weizen. Eine Ahnentafel im Büro zeigt die Porträts der Hauptakteure.

Auf dem Bauernhof Johannes Kerkhoven Polder

Heute bewirtschaftet das Unternehmen mehr als 1200 Hektar Ackerland. Die wichtigste Kulturpflanze ist der Winterweizen, dazu kommen auch Zuckerrüben und Luzerne. Ludolf Fledderman ist der Landwirt und zugleich seit 18 Jahren Manager des Beispiel-Bauernhofes, der insgesamt über 200 Eigentümer hat:
„Der Anbau von Speisekartoffeln

nimmt bei uns einen wichtigen Platz ein mit den drei Sorten Agria für gehobene Restaurants sowie Innovator und King Russel. Ein wichtiger Abnehmer ist die Kette McDonald‘s in der Region.“

Im obersten Stockwerk des Hauptgebäudes wurde eine schöne Ferienwohnung mit geräumiger Wohnküche und Schlafzimmer geschaffen. Wunderbare Sichten auf die Weiten des Polders und möglicherweise Träume auf eingedeichtem Land sind inklusive.

Whisky und Gin mit bestem Geschmack

In Bad Nieuweschans an der deutsch-niederländischen Grenze besuchen wir die Graan Republiek, eine Genossenschaft lokaler Landwirte und Unternehmer. Sie haben sich das Ziel gestellt, die lehmigen Böden optimal zu nutzen und Lebensmittel mit bestem Geschmack zu produzieren. Was man mit Weizen und Kartoffeln außer Brot backen und Pommes schnitzen noch so anstellen kann, das wird in der Brennerei und Brauerei von Manager Laurens Speek gezeigt.

In der Brauerei und Destillerie Graan Republiek

Bei Whisky und Gin kommt der gute Geschmack der Ausgangsprodukte in solcher Weise zur Geltung, dass sie sich schon zu einem kleinen Exportschlager entwickelten. Und natürlich sind mit netten Sitzgelegenheiten rund um die Destille auch die Touristen als Tester nicht vergessen worden.

Die „Hängenden Küchen“ in Appingedam

Am Damsterdiep-Kanal, der die beiden Orte Groningen und Delfzijl verbindet, liegt die Kleinstadt Appingedam. Appingedam war einst ein bedeutendes Handelszentrum und erwarb schon im Mittelalter Stadtrechte. Im kleinen Restaurant „Paviljoen Overdiep“ wird – ganz im Sinne der Nachhaltigkeit – ein veganes Menü serviert. Gratis dazu gibt es einen herrlichen Blick auf einige historische Gebäude, die von dem Einfallsreichtum der Appingedamer Bürger künden: Die „Hängenden Küchen“.

Historische Häuser mit den „Hängenden Küchen“ in Appingedam

Ursprünglich waren die an der Damsterdiep gelegenen Gebäude Packhäuser, über deren Ladeluken die Schiffe be- und entladen wurden. Später hat man sie zu Wohnhäusern umgebaut, allerdings war in den schmalen Gebäuden kein Platz für eine Küche. Also hat man diese kurzerhand nach außen verlagert, über das Wasser. Damit wurde nicht nur das Platzproblem gelöst, sondern in damaliger Zeit auch die Abwasserfrage.

Veganer Festschmaus in der Suvelfabryk

Wer nun glaubt, dass das kulinarische Feld in den Niederlanden alleinig von Bitterballen, den holländischen frittierten Fleischfrikadellen, oder dem Goudse Kaas beherrscht wird, der sollte unbedingt eine Stippvisite bei der Suvelfabryk im Dörfchen Ljussens machen. Hier ist im vorigen Jahr aus einer alten Molkerei ein gemütlicher Ferienort mit großen Ferienwohnungen entstanden. Von der Couch und der Terrasse schaut man auf das weite friesische Wattenland.

Köchin Janet Frieling hat zu einem Kochkurs und anschließendem veganen Festschmaus eingeladen, alles mit Produkten aus der Watten-Region.
Bei der Zubereitung können alle Journalisten mit Hand anlegen, ob nun beim Apfelschälen oder beim Garnieren. Es gibt zehn Gänge und einen Cocktail, vom Toast mit geräucherten Karotten bis zum Schokoladen-Bonbon mit einem Topping ausKokosmilch und Blaualgen.

Man lernt, dass auch der im Garten als Unkraut gefürchtete Giersch eine schmackhafte Zutat für Suppen oder Salate ist.

Natur- und Kulturgeschichte auf dem Ziltepad

Unterwegs in Fryslân stößt der Besucher auch auf die Spuren von Heiligen und Pilgern mit ihren Geschichten. Wildes Land wurde an der Küste und im Landesinneren kultiviert und die Ankunft von mittelalterlichen Klöstern, um 1500 gab es hier mehr als fünfzig Klöster, läutete eine neue Ära ein. Im Jahr 2023 wurde eine Wanderroute mit dem Namen Ziltepad entlang des religiösen Erbes an der Wattenküste eingerichtet. Der Ziltepad verläuft in drei Etappen von durchschnittlich 17 Kilometern von Oostrum in Fryslân nach Hornhuizen in der Provinz Groningen.

St. Nikolaus-Kirche in Oostrum am Beginn des Ziltepads

In den nächsten Jahren soll dieser Weg noch weiter ausgebaut werden. Hier wird ein sanfter Tourismus entwickelt, bei dem das Erlebnis von Natur- und Kulturgeschichte zusammengeführt werden.

Einen Vorgeschmack liefert der Besuch des Wallfahrtsortes Dokkum.Hier wurde im Jahr 754 der Heilige Bonifatius von den Friesen, die er missionieren wollte, ermordet. Zu seinen Ehren wurde 1934 die Bonifatius-Kapelle im neoromanischen Stil erbaut.

Bonifatius-Kapelle in Dokkum

Sie erinnert eher an ein römisches Amphitheater mit rund 2000 Plätzen, die im Halbrund um einen Lichthof und den Altarraum der Kapelle gruppiert sind. Vor der Kapelle befindet sich eine Wasserquelle, um die sich einige Legenden ranken.

Die Korn- und Schälmühle Zeldenrust in Dokkum

Bis heute ist Dokkum Ziel zahlreicher Pilgerfahrten, jedes Jahr besuchen einige Tausend katholische Pilger diesen Ort.

Dokkum ist auch Ausgangspunkt für den Bonifatius Kloosterpad. Der Klosterweg verbindet die charakteristischen Landschaften von Fryslân, die Wattenmeer-Küste, Flusstäler, Wiesen, Wälder und Heiden und führt entlang der schönsten Naturschutzgebiete. Insgesamt umfasst die Route in Fryslân rund 450 Kilometer. Als eine gute Vorbereitung auf das Eintauchen in die Poesie der Landschaft und seinen sanften Tourismus bietet die Bonifatius-Kapelle unserer Besucher-Gruppe eine Yoga-Stunde im Altarraum der Wallfahrtskapelle.

Übrigens, hier an der Wattenmeer Küste weht ohne Pausen immer der Wind, mal mehr mal weniger heftig. Die klare saubere Luft allerorten wird mancher Besucher zu Hause vermissen.

Die Pressereise wurde vom Niederländischen Büro für Tourismus & Convention NBTC in Köln sowie lokalen Tourismus-Organisationen am Wattenmeer organisiert.

Fotos: Ronald Keusch

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