Hessen, Pardon Nordhessen, steht Kopf. Rotkäppchen, Rapunzel, Frau Holle, aber auch das tapfere Schneiderlein und viele smarte Prinzen haben dort in diesem Jahr Hochkonjunktur. Vor 200 Jahren von den Brüdern Jacob und Wilhelm Grimm mit der ersten Ausgabe ihrer Kinder- und Hausmärchen (1812 erschienen) zum Leben erweckt, kommen die Märchenfiguren in den nächsten Monaten bis Ende 2014 nicht mehr zur Ruhe. Bis dahin feiern die Kinder- und Hausmärchen der Grimms ihren 200. Geburtstag. Und sie wurden zur Geschäftsidee hessischer Touristiker.
1975 entstand die Deutsche Märchenstraße mit dazugehörigem Verein – die erste deutsche Ferienstraße überhaupt: 600 Kilometer lang, durch fünf Bundesländer, von Hanau (Geburtsort der Märchenerzähler) bis Bremen. 52 Gemeinden sind Mitglieder des Vereins Märchenstraße. Eine phantastische Route auf Grimmschen Spuren – verheißt die touristische Werbung – die Märchen, Sagen und Legenden erlebbar machen will. Vom Main bis ans Meer, wie Geschäftsführer Benjamin Schäfer gern sagt. Mitte April kam er mit Marketingleiterin Brigitte Buchholz-Blödow nach Berlin, um CTOUR die Straße touristisch nahe zu bringen. Dritter im Bunde war Pierre Schlosser vom Regionalmanagement GrimmHeimat NordHessen, zu dem sich fünf Landkreise zusammenschlossen, um die ergiebigen Grimms mit heimatlichem Bezug zu vermarkten. Beide Institutionen sind die sachverständigen Initiatoren des märchenhaften Treibens an der Strecke und der zahlreichen Grimm-Jubiläen.
Für CTOUR hatten sie ins Käfer-Restaurant des Bundestages geladen. Mechthild Dyckmans, Bundestagsabgeordnete aus Nordhessen, half kräftig mit und öffnete ihnen und uns die Türen. Sie organisierte gleich auch noch einen festlichen Grimm-Abend fürs Abgeordnetenhaus.
Märchen sind nicht sesshaft, sie haben keine Heimat, verraten die Fachleute. So beanspruchen beispielsweise gleich fünf Orte Schneewittchen für sich. Es sind die kleinen Städte und Dörfer, die sich den Märchenfiguren anpassen. Und so schwören sie, dass das Dornröschenschloss im Reinhardswald steht und Rapunzels Turm zur Trendelburg gehört und Rotkäppchen die Schwälmer Tracht trug. Lediglich der Rattenfänger ist unverbrüchlich mit Hameln verbandelt. Seine Geschichte ist nämlich eine Sage. Berufs-Rattenfänger Michael Boyer und CTOUR hatten bereits das Vergnügen miteinander. Leibhaftig war er, bunt gewandet, im November 2011 zum Stammtisch im Abacus erschienen (Report Nr. 100).
Jacob und Wilhelm Grimm sammelten ihre Märchen vor allem in Nordhessen. Dort sind sie geboren (Hanau) und in Steinau aufgewachsen, Studium in Marburg, in Kassel arbeiteten sie als Bibliothekare. Es sollen vor allem junge, gebildete Frauen aus gutem Hause, manche aus hugenottischer Familie (wie Dorothea Viehmann), gewesen sein, die ihnen die wundersamen Geschichten erzählten.
Heute gehören die Kinder- und Hausmärchen zum UNESCO Weltkulturerbe; in nahezu 170 Sprachen übersetzt, sind sie rund um den Globus bekannt. Genauso wie das Brüderpaar, das mit Grammatik, Wörterbuch und Märchen-Sammlung zu den Begründern der deutschen Germanistik zählt. So war Jacob der Vorsitzende des ersten Germanistik-Kongresses 1847 in Frankfurt am Main. Die Würdigungen reißen bis heute nicht ab: Briefmarken und Geldscheine tragen das Konterfei der Brüder, ihre Märchen sind zigmal in aller Welt verfilmt oder in Theatern gespielt worden.
Ihre wissenschaftliche Arbeit bringt beide Grimms nach Berlin. Sie folgen der Berufung an die Preußische Akademie der Wissenschaften, heutige Humboldt-Universität. Die neue Zentralbibliothek der Uni trägt den Namen „Jacob-und-Wilhelm-Grimm-Zentrum“. Jacob und Wilhelm sind auch in Berlin begraben, auf dem Alten St.-Matthäus- Kirchhof in Schöneberg.
Märchenhauptstadt im Hessischen ist – wie kann es anders sein – Kassel mit der zentralen Jubiläums-Ausstellung EXPEDITION GRIMM bis zum 8. September in der Documenta-Halle. Sie ist das Glanzlicht des Festprogramms GRIMM 2013. Im Botanischen Garten gibt es ein Märchenmusical. Und wer an der Strecke unterwegs ist, ob per pedes oder mit Rad oder Auto, kommt garantiert als profunder Märchenkenner wieder nach Hause. Die Märchenfiguren sind überall.
Was aber verbirgt sich eigentlich in den dunklen Wäldern der Märchen?
Stefan Behr (kommt aus Hessen) vom Theater Anu, der künstlerische Leiter dieses ungewöhnlichen Ensembles, hatte, um Licht ins Dunkle zu bringen, eine LED-Laterne zur Hand, verziert mit märchenhaften Scherenschnitten. So ausgerüstet, begibt sich in Hessen der Zuschauer mit den Künstlern auf eine poetische Reise in den dunklen Wald. „Schattenwald“ ist der Titel dieser Laternenwanderung, die nächtens vorbei an Spielszenen, Lichtspielen, Traumbildern und Schattenspielen führt. Die Bildsprache in diesem Zauberwald möchte dem Publikum überraschenden Zugang zur grimmschen Märchenwelt erschließen.
Übrigens: Das Theater Anu ist in Berlin ansässig. Da dürfte die Neugier verständlich sein, eine so spektakuläre Inszenierung auch mal im Grunewald oder in den Müggelbergen bestaunen zu können. Aber das wäre wohl nur im Märchen möglich …