Sahib, unser Fahrer, ist ein gemütlicher Endfünfziger. Der Verkehr in Baku, Hauptstadt Aserbaidschans, kann ihn nicht aus der Ruhe bringen. Auch wenn sich indische Tatas, neueste Lexus-Geländewagen oder drei Jahrzehnte alte „Wolgas“ und „Ladas“ mehr oder weniger einträchtig im Schneckentempo Stoßstange an Stoßstange durch die Zwei-Millionen-Metropole schieben – Sahib bleibt jederzeit cool. Wird es doch mal ganz eng, greift er zu seiner persönlichen Geheimwaffe: Per ständig mitgeführten Megafon dirigiert er aus seinem Hyundai-Van heraus die umliegenden Fahrer. Wundersam öffnet sich dann für Sahib eine Fahrgasse.
Glitzerfassaden und Wolkenkratzer
Nationale Geschäftstätigkeit und internationales Know-how haben 23 Jahre nach der Wende und ein knappes Jahr nach dem Eurovision Song Contest in Baku zu erstaunlichem Wohlstand geführt. Und langsam aber stetig wächst auch der Konsum der Einwohner im übrigen Aserbaidschans. Die hohe Pkw-Dichte ist nur ein äußeres Zeichen dafür. Glitzerfassaden, Bürobauten und neue Hotelkomplexe dominieren Bakus Skyline seit fünf Jahren – und beeindrucken den Besucher. In der – natürlich ebenfalls neu erbauten – Eurovision-Song-Contest-Hall geben sich weltweit bekannte Künstler im Wochenrhythmus die Klinke in die Hand. Die vorwiegend junge Bevölkerung (Durchschnittsalter 28,6 Jahre) trägt neuesten Chic auf der Promenade spazieren. Ohne Handy läuft hier keiner! Und Supermärkte sind nicht nur zahlreich vorhanden, sondern werden auch gern frequentiert.
Der Wohlstand steigt
Jeder, der zum Fortschritt beiträgt, ist hoch willkommen in Aserbaidschan. Regularien gibt es vergleichsweise wenige, das Steuersystem ist denkbar einfach. Die Strategie der Regierung ist wirtschaftlich erfolgreich. Der Bruttoinlandsprodukt wird in diesem Jahr 72,18 Milliarden US-Dollar betragen – eine Verzwölffachung gegenüber 2002 (damals 6,24 Mrd. US-Dollar). Die Arbeitslosenquote liegt bei sechs Prozent. Die Versorgung mit langlebigen Konsumgütern (TV, Waschmaschinen, Kühlschränke, Mobiltelefone usw.) nähert sich in Baku westeuropäischen Standards. Der Fortschritt kommt in den Haushalten spürbar an. Für Zufriedenheit sorgen auch die dank besserer Gesundheitsvorsorge nach der Wende gestiegene Lebenserwartung (Frauen 74,68; Männer 68,38 Jahre), eine steigende Geburtenrate sowie eine vergleichsweise geringe Kriminalität.
So lange das alles so ist, wird das Politikmodell Aserbaidschans – zumindest national – kaum hinterfragt. Denn noch dominiert das Ein-Parteien-System. Die Partei „Neues Aserbaidschan“ (YAP) regiert, und Ilham Aliyev ist unangefochtener Staatschef. Am Ende hat nur er das Sagen.
Wobei Aliyev im Volk auch Zustimmung erfährt. Nach der Wende erhielten viele Bewohner ihre Plattenbauwohnung geschenkt. Inzwischen gelingt es der Regierung mehr und mehr, die kräftig sprudelnde Staatseinnahmen aus Öl- und Gasverkäufen möglichst effizient für die Entwicklung des Landes einzusetzen: Schulen werden gebaut, neue Gesundheitszentren entstehen, die Infrastruktur wird vielerorts erneuert. „Wenn wir alles richtig machen, kann jeder Aserbaidschaner in 50 Jahren Millionär sein“, erklärt unsere Dolmetscherin Julia ernsthaft. Während wir Besucher noch schmunzeln, klärt sie uns auf: „Wir haben nur neun Millionen Einwohner. Schauen Sie, wie Norwegen seine Bevölkerung am Rohstoffreichtum partizipieren ließ. Das sollte uns in Aserbaidschan auch gelingen.“ In der Tat: Die Rohstoffvorkommen sind gewaltig: Allein die gesicherten Erdölvorräte betragen zwei Milliarden Tonnen. Diese Menge reicht, um Deutschland als viertgrößte Volkswirtschaft der Welt für 20 Jahre mit Öl zu versorgen. Die bewiesenen Gasreserven betragen 2,6 Billionen Kubikmeter. Damit könnte man Deutschland sogar 30 Jahre lang mit Gas versorgen.
Baukräne tanzen Ballett
Einer der blühendsten Wirtschaftszweige mit etwa acht Prozent Anteil am Bruttoinlandsprodukt ist das Baugewerbe. In Baku tanzen die Baukräne Ballett, so eng sind sie gestellt. Jährlich wird im Schnitt eine Million Quadratmeter neuer Wohnfläche gebaut, ein Vielfaches an Geschäftsflächen. Eines von vielen Megaprojekten ist die „White City“, ein neuer Stadtteil auf 221 Hektar östlich der Innenstadt Bakus. Prestigeträchtig sind moderne Einkaufszentren wie das „Boulevard“ an der Promenade des Kaspischen Meers. Landesweit entstehen Schulen und Kitas.
Anzeichen, dass man vieles richtig macht, zeigen sich auch bei Fahrten über Land. Nachdem die Infrastruktur Bakus inzwischen westlichen Städten in nichts mehr nachsteht (das Preisniveau ebenso!), wird jetzt der Nachholbedarf in den ländlichen Regionen aufgeholt. Auch hier wird geklotzt statt gekleckert: Autobahnbau über Hunderte von Kilometern, Strom- und Wasserversorgung in kaukasischen Dörfern, aufgemotzte Infrastruktur in den Gebäuden der Kreis- und Rayonstädte. Und touristische Infrastruktur entsteht.
Das ist auch dringend nötig. Noch ist die Unfallhäufigkeit wegen ungenügenden Straßenausbaus hoch. Und vor allem auf dem Land fehlen den Bewohnern Entwicklungschancen. Aserbaidschan möchte sie allen Einwohnern gewähren, unabhängig ob sie in Baku oder in den Provinzstäden Guba oder Goygol wohnen.
Nicht erst seit Berti Vogts: Deutsche sehr herzlich willkommen
Für den angestrebten Touristenboom aus Westeuropa bleibt noch einiges zu tun: zunächst den Visazwang abschaffen, dann mehr Mittelklasse- statt 5*-Hotels bauen, schließlich fehlt ein leistungsfähiger Flughafen. Letzterer ist in Bau. Interessant ist Aserbaidschan für Touristen schon heute: Die Felszeichnung von Gobustan gehören zum Weltkulturerbe, im Kurort Naftalan werden jede Menge Krankheiten mit weißem Öl erfolgreich behandelt, im früher deutschen Helenendorf wird wieder an erfolgreiche Weinanbautraditionen angeknüpft, die Bergdörfer im Nordkaukasus mit eigener Sprache und Kultur lassen den Besucher einfach nur staunen. Überall im Land empfängt einen herzliche Gastfreundschaft. Deutsche sind in Aserbaidschan nicht erst seit Berti Vogts Übernahme der Fußball-Nationalmannschaft herzlich willkommen.
Und dann ist die noch zu beobachtende Ein-Parteien-Herrschaft unter Führung Aliyevs.
Auf der Kreuzung hat sich wieder ein „Blechknäuel“ gebildet. Sahib greift zum Megafon. Noch hören die anderen Autofahrer auf ihn. Ein Gasse wird frei.
Fotos: CTour/Fred Hafner