Es ist Mitte April, eine gute Reisezeit für Regionen in Südchina. Die feuchte Kühle des Winters ist bereits einer angenehmen Wärme des Frühlings gewichen. Eingeklemmt neben meinem großen Koffer, war die Busfahrt nach Jinghong, der Hauptstadt des Autonomen Kreises Xishuangbanna ziemlich anstrengend. Ich bin zurück in der chinesischen Provinz Yunnan, die mir vor vielen Jahren und ebenso vielen Reisen besonders ans Herz gewachsen ist. Diesmal möchte ich zu den Dai, einer Minderheit, die im äußersten Süden von Yunnan, an der Grenze zu Laos und Myanmar lebt. Doch zuerst will ich ins Hotel, den Reisestaub abspülen und dann die Gegend nach einer guten Regionalküche absuchen. Insgesamt hat China acht große und berühmte Regionalküchen, aber jeder Chinese wird stolz und entschieden auf das köstliche Essen explizit in seiner Heimatregion verweisen.
Doch die Kultur des Kochens und Essens im Reich der Mitte hat noch viel mehr zu bieten. Man stelle sich das mal vor, 36 von 55 offiziell anerkannten Minderheiten Chinas sind in Yunnan beheimatet und alle bieten ihre traditionellen Spezialitäten an. Beste Qualität und Frische der verarbeiteten Produkte sind ihre Devise. Es dampft, duftet und brodelt an jeder Straßenecke, natürlich auch in Jinghong.
Am Hotellift steht ein freundlicher Chinese neben mir, der sich als Herr Li vorstellt und während des Wartens schnell noch etwas über seine Landsleute loswerden will. Unüberhörbar ertönt aus dem nebenan gelegenen Hotelrestaurant lautes Gelächter und noch lauteres Reden. „Ja“, sagt Herr Li, „in China gibt es zwei Lautstärken, laut und sehr laut“. Beim Blick durch die Restauranttür sind einige Herren in dunklen Anzügen zu sehen. Man merkt, dass sie schon länger am Feiern sind und ihre Worte bereits etwas undeutlich werden. „Ganbei“ klingt es wie ein Schlachtruf aus allen Kehlen, was soviel wie Prost heißt, aber eigentlich „Auf ex“ meint. Es geht ums Überleben, so scheint es. Schnaps wird ständig nachgefüllt, doch die Anzugträger sind gut im Training. Li meint, dass Ganbei für Geschäftsbeziehungen äußerst wichtig sei. Gut gestellte Firmen würden sogar extra jemanden dafür einstellen, der eine gute Leber habe und stellvertretend für den Boss zu den Trinkgelagen gehe. Bei den Chinesen muss es grundsätzlich immer viel von allem sein, bringt er es auf den Punkt. Unser Lift macht sich mit einem Pling bemerkbar und wir fahren endlich aufwärts.
Die Dai, manchmal auch Tai genannt, gehören zu den chinesischen Minderheiten und haben ihre ganz eigenen Bräuche, wie das Wasserplantschen und Hornissenpuppen essen. Sie verfügen über ein alphabetisches Schreibsystem, sowie eine eigene Sprache und leben u.a. im autonomen Bezirk Dehong und in Xishuangbanna. Insgesamt zählt man etwa 1,2 Millionen Dai, die in China beheimatet sind.
Die Dai sind Buddhisten, haben aber auch andere Götter und Geister in ihren Glauben integriert. Sie lieben vor allem das Tanzen, bei dem sie von Elefantenfußtrommeln begleitet werden. Den Namen verdanken die Trommeln ihrer Form. Sie werden aus hohlen Holzstücken gefertigt, mit Schaf- oder Schlangenhaut überspannt und mit dunklen Farben bemalt. Ihr Klang ist dumpf und mitreißend. Weltberühmtheit hat jedoch der sogenannte Pfauentanz der Dai erlangt. Aus allen Kontinenten kommen Besucher, um die Dai-Tänzerin Yang Liping zu erleben, die es zur Meisterschaft in der Darstellung eines Pfaus gebracht hat. Faszinierend zu beobachten, wie sie Arme und Oberkörper wellenförmig bewegt und die stelzenden Schritte eines Pfaus imitiert. Auch hier versteckt sich, wie hinter fast allen Überlieferungen in China, eine berührende Liebesgeschichte, die meist wunderschön anfängt, jedoch tragisch endet. Bei den Dai wird erzählt, dass einst der Blaue Pfau-Prinz und seine Braut, der Weiße Pfau, zusammen im Wald lebten. Um ihre Liebe zu verteidigen, musste der Prinz mit einer bösen Hexe kämpfen. Erschöpft vom Kampf fielen schließlich beide tot in den Lava-See. Doch der Weiße Pfau gab nicht auf und suchte auf ewig weiter nach ihrem Prinzen. So soll, wenn der Mond am vollsten und die Nacht an seinem ruhigsten Punkt ist, der Weiße Pfau auch heute noch am Himmel zu sehen sein.
Die Geschichte der Dai geht auf die frühe Qin- (221-206 v.u.Z.) und Han-Dynastie (206 v.u.Z. -220) zurück. 109 v.u.Z. wurde vom Eroberer Wu Di die erste Dai-Präfektur im Südwesten Chinas gegründet. Durch seine klimatischen Verhältnisse ist diese Region für die Landwirtschaft prädestiniert und die Dai haben spezielle Techniken für deren Nutzung entwickelt. Aber alles hat zwei Seiten und so lässt das feucht-warme Klima auch die Schädlinge in Hülle und Fülle gedeihen. Doch bevor die Insekten größeren Schaden anrichten können, werden sie von den Dai zu einem köstlichen und nahrhaften Imbiss umfunktioniert. Gut gebraten oder gegrillt müssen sie sein, vor allem aber scharf gewürzt. Dazu trinkt man selbstgemachten Hauswein oder großblättrigen, unbehandelten Tee. Wie die meisten Südchinesen bevorzugen die Dai Reis zu fast allen ihren Speisen. Sie essen viel Fleisch, aber möglichst kein Hammel. Es gibt scharfe und saure Gerichte, in denen eingelegtes Fleisch, Fisch, Erbsen und Bambussprossen verarbeitet werden. Über die Region hinaus berühmt ist ihr geröstetes Hühnchen, das auf leichter Hitze gekocht wird, bis es zart ist und so gut riecht, dass sich die Haustüren ganz von selber öffnen, sagt der Volksmund.
Die Dai wohnen in ihren Häusern traditionell auf zwei Ebenen. Oben ist der Wohnraum für die ganze Familie, unten ist Platz für Vieh und Vorräte. Der Wassertank ist auf dem Balkon untergebracht. Vor Hochwasser sind sie oben gut geschützt, im Erdgeschoss kann es mitunter gefährlich werden. Doch die obere Etage bewahrt nicht nur vor Feuchtigkeit, sondern auch vor frostkaltem Boden und Insekteninvasionen.
Das Jahr der Dai beginnt mit dem „Wasserplantschfest“ und fällt in die Zeit des chinesischen Neujahrs. Es ist das erste Fest der Buddhisten in jedem Jahr. Vor allem wird das Element Wasser gefeiert und an seinen Ufern Reis, Früchte und andere Speisen geopfert. Anschließend wird eine buddhistische Statue in einer festlichen Zeremonie aus dem Tempel in den Innenhof eines Hauses getragen und mit Wasser besprengt. Das nennt man „Den Buddha baden“. Danach bespritzen sich alle Beteiligten gegenseitig mit Wasser. Sämtliche vorhandene Töpfe, Pfannen, Flaschen und andere Gefäße werden dafür auf die Straße getragen und ungehemmt für eine Dusche des Nebenmanns genutzt. Die Wucht der Wassergüsse erinnert fast an wilde Schneeballschlachten bei uns. Doch das Wasserplantschen hat noch einen anderen Hintergrund. Das Wasser gilt bei den Dai als Symbol für religiöse Reinheit und Mitgefühl. Beim Bespritzen seiner Mitmenschen wird mit dem Wasser auch Glück überbracht. Dabei spielt es keine Rolle, ob es sich um Nachbarn oder Fremde handelt. Klatschnass stehe ich kurze Zeit später im Hotelfoyer, die Schuhe trage ich in der Hand. Für die Angestellten an der Rezeption ist es kein ungewohnter Anblick. Herr Li kommt auf mich zu, seine höfliche Erziehung verbietet ihm laut loszulachen, aber um die Augen zuckt es.
Er erzählt mir, dass besonders die jungen Dai das Wasserplantschen lieben, ist es doch zugleich auch eine Möglichkeit auf Partnersuche zu gehen. Und so passiert jährlich vom 13. bis 15. April dasselbe: Man planscht, bespritzt und begießt sich gegenseitig. Und hat, wenn`s gut geht, anschließend eine Handynummer fürs künftige Glück ergattert. So enden die ernsthaften, aber auch unbeschwert religiösen Rituale, ausnahmslos auf vergnügliche Weise.
Meine Frage, in welches Restaurant ich denn am besten gehen könne, macht Herrn Li sprachlos. Niemals würde ein Chinese alleine essen gehen. Das macht für ihn keinen Sinn. Ganz im Gegenteil, es müssten möglichst viele um die runden Tischplatten sitzen und das Essen miteinander teilen. „Punkt 12 Uhr wird Mittag gegessen, egal was anfällt“, erklärt er. Man sitzt und isst und plaudert. Und klärt miteinander das Geschäftliche.
Herr Li ist der Meinung, dass den Chinesen der Dienstleistungsgedanke grundsätzlich abgehe. Dienste für andere werden eher mürrisch vollzogen, auch oder gerade im Restaurant. „Sie müssen sich mal merken“, sagt er, „die Länder, wo mit Stäbchen gegessen wird, da ist der Service schlecht, da wo mit Messer und Gabel gegessen wird, wie Laos, Thailand, Burma, da sind die Mundwinkel immer oben.“ Für ihn ist klar, dass die Infrastruktur in diesen Ländern nicht ganz so gut ist wie in China, aber die Leute sind freundlicher und bemühter. Dieser Logik folgend, wäre es also im Sinne der Steigerungsfähigkeit immer gut, von China aus in die anderen Länder zu reisen, nie umgekehrt.
Vorerst lasse ich das Essen ausfallen und gehe zum Markt, der vollgepackt ist mit Früchten und Gemüse. Ich entscheide mich für Kumquats, das sind Zwergorangen, die man in der Regel mit Schale und Kernen essen kann; das Fruchtfleisch hat einen herb-süßlichen Geschmack. Das chinesische Schriftzeichen für Kumquat besteht übrigens aus den Zeichen „Gold“ und „Orange“. Dabei wird das Wort Orange genau wie das Wort Glück ausgesprochen. Kumquats im Hause sorgen also für kontinuierliches Glück und Reichtum. Im Schriftzeichen für 金橘 Kumquat Jīn jú kommt auch das Zeichen für Holz vor, das mit den Stämmen des zwei Meter hohen Strauches zu tun hat, an dem die Kumquats wachsen. Interessanterweise kommt das Zeichen für Holz auch im Kissen vor. Das wiederum liegt an den historischen alten Nackenstützen aus Holz, welche die Chinesen früher zum Schlafen nutzten. Um sich das Wort zu merken, könnte man jetzt Frucht und Holz mit einem Baum verbinden. Doch solcher Logik folgen die Chinesen nicht, sie lernen die Begriffe und Schriftzeichen einfach auswendig. So wird es mir Herr Li später noch mal bestätigen und leise hinzufügen, dass dies ein Grundproblem in der Bildung seines Landes darstelle.
Offiziell werden die in Yunnan lebenden Tai-Völker von den chinesischen Behörden in der Gruppe der Dai zusammengefasst, aber tatsächlich handelt es sich um mehrere unterschiedliche Ethnien. In der chinesischen Geschichte wurde den Dai-Mönchen Kunde in der Astronomie und Zeitberechnung, sowie in der Medizin und Hygiene zugeschrieben. Sie wurden als hochangesehene Gelehrte geschätzt, deren Lebensregeln als wertvolle Wegweiser dienten. So sollten sich, der Überlieferung nach, Männer einmal in ihrem Leben für eine gewisse Zeit von ihrem Zuhause trennen und ein meditatives Leben führen. Erst danach hätten sie das Recht, eine eigene Familie zu gründen. Einzelne Dörfer in abgeschiedenen Gegenden unterstützten die Entwicklung und Bewahrung von eigenen Bräuchen und Traditionen. So lebten einer Legende nach drei Brüder in drei verschiedenen Zonen Yunnans, einer in einem der Täler, einer in mittleren Höhenlagen und ein dritter hoch in den Bergen. Es dauerte nicht lange und sie sprachen unterschiedliche Sprachen. Auch heute noch werden auf diese Art die Nationalen Minderheiten in Yunnan unterteilt.
Die Dai lieben ihre Teekultur und bevorzugen in einer speziellen Zubereitung drei Teesorten. Beim Bambusrohrtee werden Teeblätter in einem Bambusrohr überm Feuer geröstet. Nach ca. 6 Minuten sind die Blätter aufgeweicht und werden im Rohr mit einem Holzstab weiter nach unten geschoben. Oben werden neue Blätter hinzugefügt und weiter geröstet. Das wiederholt sich so lange, bis das Bambusrohr keine neuen Blätter mehr aufnehmen kann. Schlussendlich wird das Rohr aufgebrochen und die nunmehr zylindrisch geformte Masse herausgeholt. Das Aroma des Bambus kann sich im Tee kräftig entfalten.
Auch der Blumentee ist legendär. Man trinkt gerne die „Süße Duftblüte“ (Osmanthus fragrans). Es gibt den Osmanthus in verschiedenen Qualitätsgraden und sein Genuss unterliegt strengen Regeln. Der Goldene Osmanthus ist nur den ältesten Dai vorbehalten, den Silbernen Osmanthus dürfen nur Menschen trinken, die bereits ein gewisses Alter erreicht haben, selbst der ganz gewöhnliche Osmanthus ist nur Verheirateten erlaubt. Die jungen Dai trinken eher Rosentee. Wenn sie verliebt sind, dann trinken sie ihn beim ersten Rendezvous natürlich zu Zweit. Der Jasmintee ist nur für verheiratete Frauen vorgesehen. Doch der Tee der romantischen Gefühle ist ohne Zweifel der Zitronentee. Die Dai verbinden mit dem Verliebtsein einen süßen, herben und zitrusartigen Geschmack, der nebenbei gut den Durst löscht. Am besten brüht man die frischen Zitronen in einem guten chinesischen Schwarztee und fügt noch Honig und Ingwer hinzu.
Im zweiten Teil beim Volk der Dai habe ich ausprobiert, ob man gebratene Hornissen essen kann und mich gewundert, warum Pflanzen bei Musik die Stängel wiegen.
Fotos: Elisabeth Escher