Im Tal der Strichmännchen
Gerne hätten wir Brescia, der kleinen Großstadt in der Nähe des Gardasees, unsere ganze Zeit gewidmet. Doch leider ließ der von Barbara Bino (Bresciatourism) eng gestrickte Arbeitsplan dies nicht zu. Wir hätten uns schon klonen lassen müssen. Das allerdings scheiterte. Nicht an unserer Bereitschaft, wohl aber an der Unvollkommenheit der Wissenschaft. Also kehrten wir nach zwei Tagen ungeklont der schönen Stadt Brescia den Rücken, und wandten uns neuen Koordinaten zu. Pisogne am Iseo-See, so lautete das Ziel.
Der Iseo-See ist, wie jedermann weiß, der kleine Bruder des Gardasees. Obwohl seine Gestalt aus der Luft einem verunglückten Fragezeichen gleicht, besitzt er in Sachen Schönheit Gard(a)emaß. Seine Ufer, abwechslungsreich gesäumt mit bunten Wiesen, dichten Wäldern und Weinanpflanzungen, die die Vorgebirge der Alpen empor kriechen, ergeben ein schönes Bild. Leider kann man es nicht von der Wand nehmen, um es nach Hause zu tragen. Aber man darf darin herumlaufen, kann Pusteblumen pflücken und nach Herzenslust Urlaub in ihm machen. Mit 62 km Umfang, einer Länge von 27 km und einer Tiefe von 258 Metern ist der Iseo-See das siebtgrößte Gewässer Italiens. Sein reicher Fischbestand spricht für reines, klares Wasser. Drei Inseln ankern in ihm.
Die größte ist die autofreie Monte Isola. Nur drei Menschen haben auf ihr die Lizenz zum Betreiben eines Benzinfahrzeuges. Der Doktor, der Polizist und der Priester. Die Insel trägt einen Berg, der wie ein grüner, mit Kastanienbäumen und uralten Olivenhainen bewachsener Buckel 600 Meter hoch aus dem Wasser ragt. Ihm zu Füßen liegen malerische Dörfer, in denen zum Trocknen aufgehängte Fischernetze so tun, als wäre die Zeit stehen geblieben. Die beiden anderen Inseln im „Sebinus“ (so nannten die Römer den See) sind in Privatbesitz. Aber man darf sich ihnen durchaus ehrfurchtsvoll nähern, sie in friedvoller Absicht umrunden und bestaunen. Die kleinere der beiden gehört der Familie Beretta. Die gleichnamige Fabrik, sie wurde 1526 vom Büchsenmacher Bartolomeo Beretta aus Venedig gegründet, gilt als das älteste Rüstungsunternehmen der Welt. Bis heute fertigt man dort Schusswaffen. Das erfolgreichste Schießeisen ist die Beretta 92FS 9 mm Parabellum. Eine Pistole, mit der in amerikanischen Actionfilmen gern und wild herumgeballert wird. Sowohl auf Seiten der Guten als auch auf Seiten der Bösen. Womit wieder einmal bewiesen ist, dass eine Waffe nichts für die Hand kann, die sie führt.
Die zweite private Insel im Iseo ist so geheimnisumwittert, dass ich alles Wissenswerte über diesen Steinsplitter sicherheitshalber vergessen habe.
Pisogne am nordöstlichen Ende des Sees ist ein kleines, stilles Städtchen. Ein 4-Sterne-Hotel, das „Capovilla“, wurde unser Zuhause. Die Zimmer waren schön, freundlich sorgte sich das Personal um unser Wohl. An der Hotelrezeption saß ein distinguierter älterer Herr, der als Nachtportier seine Rente aufbesserte. Er war städtisches Auskunftsbüro und Ratgeber in einer Person. Jedem Hotelgast, der wollte, drückte er ein kleines Büchlein in die Hand, das dem Renaissancemaler Girolamo di Romana (1485 – 1566) aus Brescia, genannt Romanino, gewidmet war. Mit Stolz und großer Leidenschaft berichtete er, dass dieser berühmte Meister von 1533 bis 1534 Pisogne besucht und die Kirche Santa Maria della Neve ausgemalt hatte. Die müsse man sich unbedingt ansehen. Meinte er. Und es würde ihm in der Seele wehtun, wenn wir, ohne Romanino gesehen zu haben, nach Berlin zurückreisen würden. Manchmal ist unsere Welt so gemacht, dass eine kleine Episode mehr über ein Land und seine Menschen aussagt, als ein kluger, dicker Reiseführer.
Und so gingen wir am nächsten Tag, uns anzuschauen, was der italienische Nachtportier so leidenschaftlich empfohlen hatte. Die Kirche liegt am Rande der Stadt. Dem gelb getünchten Steinbau sieht man nicht an, welchen Schatz er in seinem Inneren birgt. In wunderschönen Pastellfarben, die noch heute voller Leben und Strahlkraft sind, erzählt Romanino vom Leiden des Gottessohnes und seiner Kreuzigung. Die Bilder an den Wänden und Gewölben sind, obwohl von tiefer Frömmigkeit, sehr realistisch und lebensnah. Es heißt, der Maler hätte ganz bewusst die Bewohner des Valle Camonica in der Passion Christi eingebaut und porträtiert. Der reiche Freskenschmuck trug dem Gotteshaus übrigens den Namen „Sixtinische Kapelle der Armen“ ein.
Am nächsten Morgen verließen wir Pisogne, um in die Valle Camonica zu fahren, in das Tal der Camonica. Kurz hinter der Stadt öffnete sich die Landschaft und gab den Blick auf die Berge frei. Das Tal, durch das der Oglio fließt, ist 80 km lang. Es erstreckt sich vom Ufer des Iseo-Sees bis zu den schneebedeckten Spitzen des Tonale-Passes (1883 m). In dieser schönen Landschaft, wild und ursprünglich, lebten einst die Camunen, Bürger der Jungsteinzeit, zirka 6000 Jahre vor Christi siedelten sie im Vorgebirge der Alpen. Obwohl kaum erforscht, wissen wir eine ganze Menge über unsere frühen Freunde. Die Camunen haben uns Zehntausende von Nachrichten in Form von Strichzeichnungen hinterlassen. Die in den Sandstein geritzten Gravuren berichten über den Alltag, über Bräuche und religiöse Riten. Vor allem Jagdszenen und Tierdarstellungen wurden im Laufe der Jahrtausende in den Fels geklopft. Zahlreiche Symbole sind noch nicht entschlüsselt, rund 200 000 Gravuren wurden bislang gezählt.
Die Versammlung der Felszeichnungen, 1955 als erster Nationalpark Italiens gegründet und 1979 in die Weltkulturerbeliste der UNESCO aufgenommen, befindet sich in Naquane, einem Ortsteil von Capo di Ponte. Die Fundstellen liegen alle am linken Flussufer des Oglio in einer Höhe von 400 bis 600 Metern. In dieser von Kastanien, Tannen, Birken und Hainbuchen dominierten Landschaft kann man auf 104 Felsen die versteinerte Kunst der Camunen bewundern. Die durch Gletscherbewegungen geglätteten und abgerundeten Felsoberflächen aus grau-violetten Sandstein (Verrucano Lombardo) waren ein idealer Untergrund für die steinzeitlichen Comics. Die Gravuren wurden durch das Picken auf die Oberfläche mit einem Stein oder durch das Ritzen mit einem spitzen Instrument erzielt. Obwohl Felszeichnungen beinahe im gesamten Tal zu finden sind, liegt der Schwerpunkt doch rund um Capo di Ponte. Ergriffen und voller Staunen wanderten wir durch das steinerne Bilderbuch der Camunen, und klappten es nur unwillig zu, da uns wieder einmal die Zeit im Nacken saß und nur wenige Kilometer von Capo di Ponte entfernt eine weitere Überraschung unser harrte, die „Via Crucis“. Der „Kreuzweg“ in der Pfarrkirche von Cerveno.
Das kleine Berg, in herrlicher Lage am Fuße des Concarena im Valle Camonica gelegen, besitzt eines der ungewöhnlichsten Beispiele religiöser Volkskunst im gesamten Alpenraum. Italien ist wirklich zu beneiden. Kunst, wohin man blickt. Architektur, Malerei, Musik, in Cerveno sind es bemalte Holzfiguren. Sie wurden vor über 250 Jahren von einem gewissen Biniamino Simoni geschnitzt, einem Holzbildhauer aus Brescia, der ab 1752 in Cerveno lebte. Demut vor Gott führte ihm die Hand. Obwohl der Leidensweg Christi alles andere als leichte Kost ist, haben wir uns gern von dem hölzernen Charme der Figuren verzaubern lassen.
Die 198 Statuen wohnen (vor der Welt verborgen und weitgehend unbehelligt von Touristen) in 14 steinernen Nischen, die links und rechts einer langen, steilen Innentreppe liegen, die zur Kapelle hinauf führt. In jeder Nische wird eine Episode aus dem Leben und dem Leidensweg Christi erzählt. Elf dieser „Bühnenbilder“ stammen von Simoni, die drei restlichen gehen auf das „Konto“ von Donato und Grazioso Fantoni (1764) sowie Giovanni Seleroni (1869).
Ohne Barbara Bino von Bresciatourism, die den Besuch dieses einmaligen Kunststücks ins Programm genommen hatte, wären wir an Cerveno vorbeigefahren. Nichtsahnend! Wie auch anders. Es gibt keine Flyer, keine Prospekte, keinen Kunstführer, weder auf Italienisch, Englisch oder Deutsch, in dem die „Via Crucis“ erwähnt wird. Nirgendwo taucht das stille Bergdörfchen Cerveno auf.
Das wird sich (hoffentlich oder leider) bald ändern. Wie wir aus gut unterrichteten Kreisen erfahren haben, gibt es Überlegungen, die „Via Crucis“ in das Weltkulturerbe der UNESCO aufzunehmen. Dann wird es vorbei sein mit der Stille in Cerveno. Wie sagte doch Hans Magnus Enzensberger so treffend: Der Tourist zerstört, was er sucht, indem er es findet.