Wohl jeder Besucher spaziert am Bond, der weltbekannten breiten Promenade in der Innenstadt von Shanghai entlang. Auch ich schlendere mit Vergnügen auf dem zur Expo 2010 noch großzügig weiter ausgebauten Boulevard am Ufer des Flusses Huangpu. Gerade hier sind überall viele Details der Stadtentwicklung wie in einem Geschichtsbuch zu betrachten.
Der Ratschlag für China-Reisende lautet: Über 2000 Jahre Geschichte Chinas erfährt man in Xi`an, über 1000 Jahre in Bejing und über 100 Jahre in Shanghai.
Ausländisches Siedlungsareal
Noch vor 150 Jahren war Shanghai ein Fischerdorf mit etwa 10.000 Bewohnern. Später im 19. Jahrhundert bildete sich hier ein Knotenpunkt für den Handel des englischen Kolonialreichs. Durch die riesigen Profite der Briten wurden auch andere europäische Länder angelockt, die hier Konzessionen erhielten. Besonders reich wurden die Engländer durch das Opiumgeschäft. Um ungestört auf dem riesigen chinesischen Markt mit Opium-Handel Geld zu verdienen, haben die Engländer Hand in Hand mit anderen Europäern und den USA Kriege gegen China geführt. Die Kriege wurden gewonnen und damit damals der Opiumhandel in China legalisiert. Die westlichen Länder agierten ganz offen als Dealer.
Übrigens wurde die englische, französische und amerikanische Inbesitznahme von Shanghai durch solche netten Formulierungen wie ausländisches Siedlungsareal und internationaler Sektor umschrieben. Nach dem Sturz des Kaiserhauses 1911 unterlag die gesamte Verwaltung der Stadt und des Hafens den Ausländern. Oft genannt in der Reiseliteratur ist das Hinweis-Schild, das damals am Eingang des Public Garden in der Stadt aufgestellt war. Es lautete: Zutritt für Hunde und Chinesen verboten.
Die englischen und französischen Kolonien bestanden fast einhundert Jahre bis 1949. In diesem Jahr rief China die Volksrepublik aus und die Kolonisten wurden nach Hause geschickt. Geblieben sind in Shanghai an der berühmten Uferstraße Zhoungshan East Nr. 1 ihre protzigen Kolonialbauten von Banken, Hotels und Verwaltungen. Sie stammen meist aus dem ersten Drittel des 20. Jahrhunderts und stehen heute unter Denkmalsschutz.
Shanghai zählt 3.000 Hochhäuser
Ich spaziere auf dem Boulevard an der Westseite entlang, wo sich die Kolonialbauten befinden und kann trotz dunstigem Wetter auf der Ostseite die beeindruckende Skyline von Pudong bestaunen. Hier ist eine moderne Stadt entstanden mit vielen Hochhäusern und dem Fernsehturm Oriental Pearl Tower mit einer Höhe von 458 Metern. Mit 472 Metern wird der Turm noch durch das Gebäude des Weltfinanz-Zentrums überragt. Der architektonische Abschluss an seiner Spitze hat dem internationalen Geldhaus den Namen „Flaschenöffner“ eingebracht. Allein in Shanghai werden gegenwärtig 3.000 (!) Hochhäuser mit einer Höhe über 18 Etagen gezählt (In der Zahl ist keine Null zu viel gesetzt). Rund um den Fernsehturm in Shanghai sollen bis 2015 insgesamt weitere 45 Hochhäuser wachsen.
Tsingtao – Deutsche Brauereikunst
Bei Dunkelheit gegen 19 Uhr erscheint die Promenade noch prachtvoller durch die beleuchteten Hochhäuser und Schiffe auf dem Fluss. In einem von Franzosen gebauten Touristen-Tunnel unterquere ich in einer Kabinenbahn auf Schienen den Fluss und erreiche die andere Seite. Während der Fahrt werden verschieden farbige Lichtspiele inszeniert, eine flotte Idee. Am Fluss-Ufer von Pudong fällt der Boulevard kürzer aus und es sind nicht so viele Menschen unterwegs. Dafür bietet sich eine glänzende Sicht auf die alten Kolonialgebäude.
Hier trinke ich ein Überbleibsel deutscher Kolonialgeschichte in China, ein Bier der Marke Tsingtao. Als sich das deutsche Kaiserreich im Jahr 1898 an der chinesischen Küste in Kiautschou einen Flottenstützpunkt einrichtete, wurden seine Soldaten und Kolonisten schon nach einem guten Dutzend von Jahren durch japanische Soldaten wieder vertrieben. Geblieben ist von diesem Intermezzo die deutsche Brauerei-Tradition und überall in China gut schmeckendes Tsingtao in Flaschen und Büchsen. Kein so schlechtes Erbe der Kolonialpolitik, mit dem sich Deutsche im Land der Mitte einen Namen gemacht haben.
Jazz-Bar und die rote Fahne
Auf dieser Seite des Flusses ist gut zu beobachten, wie sich ein schier unendlicher Strom von grauen dunklen Lastkähnen langsam vorwärts bewegt. Sie sind nur mit drei kleinen Signallampen sparsam beleuchtet und meist mit Baustoffen beladen. Sie bahnen sich unaufhaltsam ihren Weg zwischen den mit vielen bunten Lämpchen blinkenden Touristenbooten, die hier mit feiernden Gästen ihre Kreise ziehen. Für mich ein symbolhaftes Bild der zwei Seiten des großen China.
Zurück auf dem Bond besuche ich am späten Abend noch das 1906 gebaute ehemalige Palace Hotel, heute Fairmont Peace Hotel. Hier wurde im Jahr 1929 die legendäre Jazz-Bar „Horse and Hound“ gegründet.
Als heutiger Besucher ist meine Gefühllage recht eigentümlich. Eine chinesische Kapelle mit sechs Musik-Senioren spielt die Filmmusik aus dem Kultfilm „Casablanca“ in einem mit feinem dunklem Holz getäfelten Club, in dem vor 80 Jahren britische Bankiers und Kaufleute ihren Whisky tranken und bekannten Jazz-Musikern aus den USA zuhörten. An diesem Abend sitzen an den edlen Holztischen vor allem junge Asiaten aus Reisegruppen, die Bier aus Büchsen trinken. Und über allem weht oben auf dem Dach des ehrwürdigen Kolonialhauses wie über den anderen Kolonialbauten auch, eine rote Fahne, die Staatsflagge Chinas, die wiederum seit mehr als 20 Jahren den rasanten Aufschwung der kapitalistischen Marktwirtschaft kündet.
Die klassische Gartenstadt Suzhou
Ein Abstecher 130 Kilometer von Shanghai führt in die kleine und gemütliche klassische Gartenstadt Suzhou mit nur zwei Millionen Einwohnern. In feudaler Zeit haben hier hohe Beamte ihre Wohnhäuser mit privaten Gärten ausgestattet und dazu auch Gartenkunst betrieben. Ein Sprichwort in China lautet: Im Himmel gibt es ein Paradies, auf Erden gibt es Suzhou. Die ehrwürdigen Grünanlagen gehören zu den bekanntesten Gärten in China und in der Welt und wurden in vielen Ländern kopiert.
Delikatesse 1000jährige Eier
Rund um die in der Stadt verteilten Gärten haben sich jeweils hunderte Händler in Basaren angesiedelt und bieten neben Souvenirs auch chinesische Delikatessen an. Dazu gehören in China besonders zubereitete Eier. Zunächst gibt es so genannte Tee-Eier, das sind hart gekochte Eier, deren Schalen aufgeschlagen sind und in einer braunschwarzen Soße herumschwimmen. Für europäische Augen ein abstoßender Anblick. Zu einer weiteren Spezialität gehören die „glücklichen Eier“, das sind halb bebrütete Eier, in denen man kleine Flügel von Küken findet. Höhepunkt für die Feinschmecker in China sind die so genannten tausendjährigen Eier. Dabei handelt es sich eigentlich um vergammelte Eier, mit schwarzem Eiweiß und braunen Eigelb. Dazu werden meist Enteneier mehrere Monate in einem Gemenge aus Teeblättern, Asche, Sägespäne und Kalk eingelagert. Sie werden dann verspeist, wenn sie richtig faulig riechen oder besser stinken. „Die stinken wie mancher Käse in Deutschland und schmecken hervorragend“ – so die Reiseführerin Chen Yi.
Yin und Yang im Garten
Der Landschaftspark Pan Men ist an einem 700 Jahre alten Stadttor gelegen. Er wurde im Jahr 2001 anlässlich eines internationalen Treffens von Finanzministern rekonstruiert. Hier werden die vier Elemente chinesischer Gartenbaukunst präsentiert: Wasser, Felsen, Bäume und Gebäude. Die zwei wichtigsten Elemente der Gartenkunst sind Felsen und Wasser. Sie versinnbildlichen das Weltprinzip zwischen Yin und Yang, den beiden gegensätzlichen Kräften, die nach alten Überlieferungen sämtliche Abläufe der Natur bestimmen. Die nach oben strebenden harten Felsen symbolisieren die männliche Kraft Yang, das weiche Wasser die weibliche Kraft. Überall im Garten werden einzeln auf Sockeln bizarr geformte Steine wie abstrakte Figuren präsentiert.
Der Garten „Meister der Netze“ liegt in der Altstadt. Dieser tausend Jahre alte relativ kleine Garten ist einem damaligen unabhängigen Freigeist und Schriftsteller gewidmet. Er wird von mehreren Gebäuden umringt. In seinem Mittelpunkt liegt ein Teich mit ganz unterschiedlich gestalteten Uferbereichen, die von allen Seiten zugänglich sind. Es ist ein Garten für das ruhige Leben eines Beamten. Es sollte ein Refugium sein, ein Ort, der Ruhe und Ästhetik ausstrahlt, dagegen Ärger und Betriebsamkeit des Alltags aussperrt. Nach Abdankung des Kaisers gelangte der Garten zunächst in Privatbesitz. Später wurde er dann von der Stadt Suzhou übernommen und für die Bevölkerung geöffnet.
Verwohnte Quartiere und überall Baukräne
Auf dem Weg zurück nach Shanghai besuche ich eine „Wasserstadt“. Dabei handelte es sich um den Touristenort Zhujiajiao, der seine schmalen Gassen mit Basarwaren und Imbiss voll gestopft hat. Auf einem kleinen Kanal des Ortes lassen sich die Besucher auf Booten einige Minuten herum paddeln. Immerhin lässt sich hier neben einigen schönen Brückenaufnahmen von der Fangsheng-Brücke auch ein Stück Alltag fotografieren. China besteht selbst an solchen Touristenorten auch noch aus verwohnten, dunklen und baufälligen kleinen Häusern.
Fährt man wieder über die Landstraßen und die Autobahnen nach Shanghai, stehen auch in der Provinz überall Baukräne Spalier, die in Nähe wie Ferne meist Wohnhäuser in den Himmel ziehen. Zu jeder Uhrzeit sind Bauarbeiter zu sehen, drehen sich die Kräne.
Die Stadt im Modell
Nicht nur bei Regenwetter ist der Besuch dieser Ausstellung dringend zu empfehlen. Hier geht es vor allem um Heutiges und Künftiges und nur wenige Blicke werden rückwärts gewandt – im Ausstellungszentrum für Stadtplanung in Shanghai. Hinter dem sperrigen Namen verbirgt sich eine tolle Präsentation der Weltstadt. Ein echter Knaller ist das große Modell der Stadt Schanghai mit den wichtigsten Stadtbezirken über 110 Quadratkilometer innerhalb der inneren Ringstraße. Dazu wurde fast die gesamte erste Etage leer geräumt, um das Modell auf einer Fläche von 600 Quadratmetern auszubreiten. Für mich ist eine virtuelle Demonstration mit 360 Grad Umsicht über Teile der Innenstadt auch eine Attraktion. Wenn das die alten Kolonialisten aus dem ehemaligen Palace-Hotel am Bond noch hätten erleben dürfen…
Wohnungsboom und leer stehende Wohnungen
Es werden auch recht aufschlussreiche Zahlenvergleiche aufgeführt. Während in Shanghai im Jahr 1949 bei einer Einwohnerzahl von 4,14 Millionen jede Person 3,9 Quadratmeter Wohnfläche zur Verfügung hatte, stiegen bis zum Jahr 1979 die Zahlen auf 5,92 Millionen und 4,3 Quadratmeter. Schließlich werden im Jahr 2010 23,01 Millionen und 16,7 Quadratmeter erreicht. Das klingt schon beeindruckend, ist auch beeindruckend, aber nicht die ganze Wahrheit.
Wenn sich zwei Deutsche treffen, reden sie nach ein paar Sätzen immer über Mieten und Wohnungen, so lästerte einst Kurt Tucholsky. Der Satz gilt seit einigen Jahren immer mehr für die Chinesen, die unter wahnsinnig hohen Preisen für Mieten und Wohneigentum leiden.
Wegen exorbitant hoher Mieten und Quadratmeterpreise für Wohnungseigentum stehen viele Wohnungen leer. Oftmals können nur Familien gemeinsam die hohen Kosten für den Wohnraum ihrer erwachsenen Kinder aufbringen. Der Staat verkauft Bauland nur für 70 Jahre und fordert beim Kauf von Wohneigentum mehr als 50 Prozent der Kaufsumme sofort in bar. Es wächst ein riesiges Wohnproblem in China heran. Dennoch hält der Baumboom unvermindert an.
Lässt der Größenwahn grüßen?
Natürlich sind in der Ausstellung auch die spektakulären Hochhäuser der City der Neustadt gegenüber den alten Kolonialbauten im Modell zu sehen. Im Maßstab 1:500 ist schon das nächste Hochhaus fertig gestellt. Es steht neben dem Flaschenöffner und hat die Form einer Flasche. Baubeginn war 2009. Wenn es im Jahr 2014 planmäßig fertig gestellt ist, wird es die stolze Höhe von 600 Metern aufweisen. Bekanntlich wurde vor nicht langer Zeit in Dubai das weltweit höchste Hochhaus mit 838 Metern eröffnet. In China soll in Shenzhen, einem Ort nahe Hongkong, ein noch höheres Haus gebaut werden. In der Diskussion sollen 900 Meter sein. Bisher gibt es aber weder ein Termin für den Baubeginn noch für die Fertigstellung. Lässt der Größenwahn grüßen oder präsentiert sich China als technisch-technologische Weltmacht?
Manchmal fehlt das Sicherheitsnetz
Am Abend dieses verregneten Museumstages habe ich Karten für den Zirkus in Shanghai. Meine Erwartungen werden noch übertroffen. Das Programm stellt eine wunderbare Mischung dar aus Spitzen-Artistik mit Szenenbildern und Musik voller Gefühl und Phantasie. Viele kleine Ideen der Regie, alles sehr professionell. Bei einigen Vorführungen sind die zumeist sehr jungen Artisten nicht angeleint, gehen ein für mein Verständnis sehr hohes Risiko ein. Nervenkitzel ist allemal garantiert. Eine grandiose Vorstellung. Aber die Artistik ähnelt manchen atemberaubenden Entwicklungen im Land China. Für Abstürze gibt es nicht immer ein Sicherheitsnetz.