CTOUR-Buchtipp: „… die herrliche Umgebung, über die man schreiben, schreiben und nochmals schreiben könnte…“

Ich weiß von meinen Freunden und Bekannten, dass sie, wenn sie eine Reise gebucht haben, sogleich schauen, ob der Wieser Verlag eines seiner kleinen handlichen Lederbändchen mit Erlesenem über ihre Urlaubsgegend herausgegeben hat; ich reiste kürzlich nach Andorra mit Klaus Ebners „Andorranischen Impressionen“.

Krim
Dreizehn Jahre sind mittlerweile ins Land gegangen, seit die Reihe EUROPA ERLESEN begründet wurde. „Knapp 150 Bände sind es heute“, schreibt Verlagsinhaber Lojze Wieser in seinem Ante scriptum zur Krim, „(…) in denen wir Literaturschauplätze und das Mittelalter in neuen Übersetzungen antreffen, wir haben einige der Bände ins Englische übertragen, haben neben Orten und Regionen den Eros und die Kurbäder, Weihnachten und die Jahreszeiten gewürdigt und haben der Reihe durch kleine Kochbücher in EUROPA LEBEN Geschmack gegeben und ihr zuletzt eine kleine Schwester mit ORIENT ERLESEN zur Seite gestellt.“ – Ich habe bisher 5 Bände EUROPA ERLESEN in dieser Webseite rezensiert: St. Petersburg (1998), Moskau (1999), Tallinn (2003), Russland (2003) und Georgien (2006). Nun folgt die Krim (2010):

Die Halbinsel Krim liegt im Süden der Ukraine und wird von zwei Meeren umspült – dem Schwarzen und dem Asowschen Meer. Der touristische Mittelpunkt der Halbinsel ist ihre Südküste. Dieser malerische Landstrich, der sich zwischen dem Krimgebirge und dem Schwarzen Meer erstreckt, weist ein mediterranes Klima mit überdurchschnittlich vielen Sonnentagen auf. Ende des 19. Jahrhunderts begannen die russische Zarenfamilie und der Adel sowie wohlhabende Industrielle und Kaufleute dort ihre Sommerresidenzen zu errichten. Seitdem erfreut sich die Krim eines guten Rufes als Kurort. Die Natur der Krim ist dank ihrer geographischen Lage sehr vielfältig. Neben einer abwechslungsreichen Landschaft mit Flach-, Berg-, und Küstenland gibt es zahlreiche Karsthöhlen, Flüsse und Wasserfälle sowie mehrere Naturschutzgebiete. Es gibt einige Pflanzen- und Tierarten, die nur in dieser Region vorkommen. Die Halbinsel birgt viele Spuren einer wechselvollen Geschichte, die von der griechischen Antike bis zur Weltpolitik des 20. Jahrhunderts reicht. Diese spiegeln sich heute in vielen Bau- und Kulturdenkmalen verschiedener Epochen, Kulturen, Völker und Religionen wieder – überall auf der Halbinsel zerstreut. Das milde Klima und mineralreiche Böden an der Südküste begünstigen den Weinanbau in dieser Region. Den Grundstein dafür legten noch die alten Griechen, die etwa im sechsten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung auf die Halbinsel kamen. Auf der Krim sind taurische Grabstätten, christliche Höhlenklöster, mittelalterliche Festungen und beeindruckende Sommerschlösser der Zaren zu entdecken. Außerdem bietet sich eine herrlichen Landschaft „über die man schreiben, schreiben und nochmals schreiben möchte…“ (Ostap Wischnja); die Hauptstadt der Autonomen Krim ist Simferopol. Ich würde es zweckmäßig finden, wenn eine solche kurze Einführung den ausgewählten Texten über die zu erlesende Gegend dem Buch vorangestellt werden würde…

Die Herausgeberinnen der Krim Annette Luisier und Sophie Schudel haben neunundvierzig Texte über die bezaubernde Halbinsel zusammengetragen. Die Auswahl reicht von 490-425 v. Chr. (Herodot) bis 2006 n. Chr. (Andeas Rosenfelder). Besonders verdienstvoll bei diesem Band, dass sich Luisier / Schudel nicht nur auf deutschsprachige Ausgaben beschränken, sondern, dass Annette Luisier auch selbst beispielsweise Texte aus russischen Zeitschriften übersetzt hat. Das Buch vereint Selbstbilder (das erschütternde Zeugnis der unter Stalin deportierten Krimtataren oder einen Auszug aus dem autobiografischen Roman von Ljudmila Ulitzkaja „Medea und ihre Kinder“) und Fremdbilder (sowohl in Reiseberichten aus dem 18. Jahrhundert als auch in pseudoethnographischen literarischen Werken der Romantik); Luisier / Schudel lassen Deutsche, Engländer, Franzosen, Polen, Russen, Türken und Ukrainer zu Worte kommen. „Romantische Verklärung (Mickiewicz) steht neben sowjetischem Propaganda-Realismus (Majakowski, „Krim: Arbeiter,/dein ist der Palast./Dein Herz/ soll nicht mehr dürsten:/du ruhst,/wenn du/in Spiel und Hast/der Wellen/dich gesättigt hast,/im Himmelbett/von Fürsten.) und direkter systemkritischer Satire (Soschtschenko), die Geschichtsbücher der Griechen und Römer (Herodot, Plinius) und die Tagebücher und Erzählungen über den Krimkrieg von Lew Tolstoi, neben der postmodernen Ironisierung der Geschichtswissenschaftler (Pavić). „Bukolische [hirtenmäßige] Schwärmerei (Kozjubinski), reine Poetizität (Mandelstam), kriegerische Propaganda (Simonow), lakonischer Realismus (Tschechow) und Avantgarde (Chlebnikov) – all dies ist das bunte Spektrum der Krimliteratur durch die Jahrhunderte.“

Die meisten Beiträge, vorrangig Prosa, werden in den Büchern zu EUROPA RERLESEN natürlich nur auszugsweise zitiert, was allerdings nicht allen Texten gleich gut bekommt; so hat man beispielsweise von Anton Tschechows „Die Dame mit dem Hündchen“ durch die sehr kurze Leseprobe überhaupt keinen Eindruck von dem Zauber der Geschichte. Insgesamt aber bekommt man doch eine gute Vorstellung von der Schönheit und Historie der Krim. An manchen Stellen hätte ich mir allerdings eine erklärende Fußnote gewünscht, zum Beispiel bei Gerrhus (S. 13), Karaim (S. 95), Karäer (S. 97), zu „Der Hafenkommandant“ ( S.53-59), wo immer nur von „der Stadt“ die Rede ist, ohne dass (in diesem Auszug) die Stadt namentlich genannt wird. Auch kann ich kein strikt durchgehaltenes Ordnungsprinzip bei den Texten erkennen. Sollten die Texte chronologisch geordnet sein, verstehe ich nicht, warum der Text über das Fest KaZantip – seit 2000 das größte Festival für elektronische Musik in der Ukraine – vor dem Text von Anatol von Demidoff steht, der über seine Reise auf die Krim im Jahre 1837 erzählt; solche zeitlichen Verirrungen gibt es einige. Und im Quellenverzeichnis hat sich Woloschin vor Wischnja vorgedrängelt… Leider habe ich auch wieder einige Druckfehler entdeckt und auch Fehler solcher Art: Der große russische Romancier wird im Text Lew Tolstoi geschrieben, in den Literaturangaben erscheint er unter Leo N. Tolstoi, man hätte die Schreibweise vereinheitlichen sollen; auf S. 43 hat sich mal wieder bei Tartaren ein r zu viel eingeschlichen; schmerzlich vermisst habe ich – gerade bei der geschichtsträchtigen Krim und ihren Bewohnern – eine Zeittafel. Erst mit einer solchen „Lesehilfe“ wären die zu gänzlich unterschiedlichen zeitlichen Ereignissen geschriebenen Texte gewinnbringend zuzuordnen.
Beim Erstellen einer Zeittafel hätte den beiden Herausgeberinnen auffallen können, dass in ihren Texten mit einem Mal die Krimtataren wieder eine Rolle spielen, obwohl sie 1944 als ganzes Volk deportiert worden waren. In dem Werk von Ljudmila Ulitzkaja ist nur von dem Bemühen der Krimtataren nach Rückkehr die Rede. Ich war 1990 auf der Krim, um über die Rücksiedlung der Krimtataren zu berichten*. Überhaupt: Bei allen die Sowjetunion betreffenden Bänden habe ich schon moniert, dass DDR-Autoren für den Wieser-Verlag und seine Herausgeber nahezu nicht existieren. Man sollte bei eventuellen Nachauflagen unbedingt die nach der Wende eingestellte DDR-lllustrierte FREIE WELT- sie beißt nicht!!! – durchblättern; sie ist in großen Bibliotheken gebunden vorhanden und: ein unerschöpflicher Quell für die Bände mit Erlesenem.

Eine solche Zeittafel stelle ich mir für die Krim so vor:
Bis zum 8. Jh. v. Chr. war die Krim (Taurisches oder Skythisches Chersones) von den Kimmeriern bewohnt, denen nomadische Skythen folgten. Im 6. Jh. v. Chr. gründeten Griechen hier Kolonien (u. a. Pantikapaion, Theodosia), die sich um 480 v. Chr. zum Bosporanischen Reich vereinten. Im 1. Jh. v. Chr. gehörte die Krim vorübergehend zum Pontischen Reich, geriet nach 63 v. Chr. in Abhängigkeit vom Römischen Reich und wurde im 4. Jh. n. Chr. von Goten, danach von Hunnen, Chasaren, Kumanen und 1239 von Mongolen (Goldene Horde) erobert. Die Küste stand jedoch vom 6.-13. Jh. unter byzantinischer, seit 1261/66 unter genuesischer Kontrolle. 1443 entstand auf der Krim ein formal selbständiges Khanat der Krimtataren (Dynastie der Girai), das 1475 die Oberhoheit des Osmanischen Reiches anerkennen musste. Nach dem Türkenkrieg Russlands (1768-74) wurde es im Frieden von Kütschük Kainardschi (1774) für unabhängig erklärt, aber schon 1783 unter Katharina II. von Russland annektiert, der letzte Khan Schahin Girai abgesetzt. 1854-55 war die Krim Schauplatz des Krimkrieges; nach der deutschen Besetzung (April bis November 1918) diente sie im russischen Bürgerkrieg (1918-21) „weißen“ Armeen (unter den Generälen A. I. Denikin und P. N. Wrangel) als Operationsbasis und Rückzugsgebiet.

1921 wurde sie eine ASSR (Autonome Sozialistische Sowjetrepublik) innerhalb der RSFSR (Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik). Offizielle Staatssprachen sind russisch und krimtatarisch.Im zweiten Weltkrieg 1941-1944 war die Krim erneut von deutschen Truppen besetzt; nach der sowjetischen Rückeroberung wurden die Krimtataren 1944 unter dem Vorwurf der Kollaboration mit den Deutschen nach Mittelasien deportiert, die ASSR wurde 1945 aufgelöst und in das Gebiet (Oblast) Krim innerhalb der RSFSR umgewandelt. Die von der Front heimkehrenden ahnungslosen krimtatarischen Soldaten und Offiziere der Roten Armee, die den Krieg überlebt haben, werden ebenfalls in die Verbannung geschickt. 1954 erfolgte die Angliederung der Krim an die Ukrainische SSR – eine Schenkung Nikita Chruschtschows an die Ukraine. Nach der Rehabilitierung der Krimtataren (1967) erhielten diese erst 1989 die Erlaubnis zur Rückkehr. – Mit welchen Schwierigkeiten die Rücksiedelung verbunden war, berichtet Gisela Reller in unten stehendem Beitrag.- Nach Auflösung der Sowjetunion (1991) wurde die Krim zum Streitobjekt zwischen der Ukraine und Russland, dessen Parlament im Mai 1992 die in der Amtszeit Chruschtschows erfolgte Übertragung der Halbinsel an die Ukraine für unrechtmäßig erklärte. Dabei vermischten sich territoriale Fragen mit dem Problem der Aufteilung der sowjetischen Schwarzmeerflotte, die ihre Hauptbasis auf der Krim, in Sewastopol, hat. Die Unabhängigkeitserklärung der Krim vom 5.5.1992 wurde unter dem Druck der Ukraine am 21.5. zurückgenommen; am 30.6.1992 billigte das Ukrainische Parlament ein Gesetz, dass der Republik Krim weitgehende Autonomie gewährte. Bei den von der Ukraine für ungültig erklärten Präsidentschaftswahlen im Januar 1994 wurde der für einen Anschluss der Krim an Russland eintretende Vorsitzende des Blocks „Rossija“, Juri Meschkow, mit 72,9 % der Stimmen zum Präsidenten gewählt. Am 17.3.1995 hob das ukrainische Parlament die 1992 verabschiedete Verfassung der Krim auf und schaffte das Amt des dortigen Präsidenten ab. Im April 1995 unterstellte der ukrainische Staatspräsident L. Kutschma per Dekret die Krim-Regierung seiner direkten Kontrolle (Ernennung des Ministerpräsidenten und der Regierung der Krim von seiner Zustimmung abhängig).

Am 1.11.1995 verabschiedete das Parlament der Krim eine neue Verfassung für die Halbinsel, wonach diese eine Autonome Republik und integraler Bestandteil der Ukraine“ ist (am 4.4.1996 vom ukrainischen Parlament bestätigt). Durch den russisch-ukrainischen Freundschaftsvertrag von 1997 wurde der Konflikt zwischen Russland und der Ukraine weiter entschärft. Russland hat seither einen Teil des Militärhafens Sewastopol für seine Schwarzmeerflotte gepachtet. Bei der am 21. November 2004 abgehaltenen Stichwahl im Rahmen der Präsidentschaftswahlen 2004 stimmten auf der Krim 82 % für Wiktor Janukowytsch, in Sewastopol 89 %. Wiktor Juschtschenko, aus den Wahlen 2004 siegreich hervorgegangener Gegenkandidat, kündigte am 4. Mai 2005 an, das Personal sämtlicher örtlicher Verwaltungsbehörden der Krim auszutauschen. Die Wähler stünden für einen Wechsel des Regimes und seiner Repräsentanten. Von Juni 2006 bis März 2010 war Wiktor Plakida Ministerpräsident der Krim, sein Nachfolger wurde Wassyl Dscharty, der 2011 verstarb. Am 7. November 2011 ernannte Janukowytsch den bisherigen ukrainischen Innenminister Anatolij Mohiljow zum neuen Ministerpräsidenten der Krim. Im Januar 2012 läuft der mit Marschflugkörpern bestückte US-Raketenkreuzer „Vella Gulf“ in den Hafen von Sewastopol ein; dieses demonstrative Waffengeklirr ist mit den aktuellen Atom-Ereignissenum den Iran verbunden.

Seit 2000 wird KaZantip, das größte Festival für elektronische Musik in der Ukraine, gefeiert. Zehntausende hörten im August 2011 die Ansprache des Festivalbegründers Nikita Marschunok, der vor zwanzig Jahren erstmals auf der Krim ein Fest veranstaltete, das mit den Jahren immer größer wurde. Das sechs Hektar große Festivalgelände liegt am Strand des Dorfes Popowka. KaZantip wird jährlich von 130 000 bis 170 000 jungen Menschen besucht. Sie kommen aus dem Gebiet der früheren Sowjetunion, aus der gesamten EU und auch aus Übersee. Das Festival läuft fünfzehn Tage, DJs aus aller Welt spielen Techno, Trance und House, außerdem gibt es auf dem Gelände dreißig Bars und Restaurants sowie zwei Open-Air-Kinos.
Und nun halten Sie es am besten mit dem russischen Autor Viktor Erofeev (Jerofejew), der in der „Zeit“ (Nr. 22/2002) schrieb: „Wenn Sie schon überall gewesen sind und all die weltberühmten Ferienorte von Italien bis Mixiko überhaben, dann sollten Sie auf die Krim fahren. Wenn Sie noch nirgendwo waren, sollten Sie ebenfalls auf die Krim reisen.“

* Gisela Reller, in der Ostberliner Illustrierten FREIE WELT, Berlin Nr. 11/1990: Krimtataren ohne Krim?
Um 1450 war Bachtschissarai die Hauptstadt des selbständigen Krimkhanats. Die Krimtataren sind Nachfahren Mongolischer Krieger, ihre angestammte Heimat ist bis heute die Halbinsel an der Küste des Schwarzen Meeres. Das Jahr 1944 brachte für die Krimtataren die große Tragödie. Fast zweihunderttausend Krimtataren wurden auf Befehl Stalins nach Mittelasien und nach Sibirien deportiert, etwa zweitausend starben auf dem etwa dreiwöchigen Transport. Nach Stalins Tod wagten die Krimtataren erste Proteste. Obwohl andere von dem Diktator verbannte Völker in den Jahren 1956 / 57 unter Chruschtschow ihre Territorien zurückerhielten, wurde diese Wiedergutmachung den Krimtataren nicht zuteil. Dennoch blieb ihr Wille zur Rückkehr in die Heimat ungebrochen. Hunderttausende stehen noch heute draußen vor der Tür.

Alupka ist nach Jalta der zweitgrößte Kur- und Badeort an der südlichen Krimküste. Seine schmalen gewundenen Gäßchen fallen in Serpentinen zur Küste ab. In üppigem Palmengrün eines exotischen Parks mit See und Schwänen läßt sich der einhundertfünfzig Räume zählende Woronzow-Palast bewundern – im Stil eines englischen Schlosses aus der Tudor-Zeit mit Elementen orientalischer Architektur. Doch: Wir sind nicht in Alupka, um künftigen Touristen diesen fremdländischen Ort schmackhaft zu machen, sondern wir haben auf der Suche nach krimtatarischen Bewohnern hier die Familie der Abdulmedshitows ausfindig gemacht.
Was wir von ihnen hören, verschlägt uns nach fünf Jahren [Gorbatschowschem] Neuem Denken in der Sowjetunion denn doch die Sprache.

Rosa und Ramsi Abdulmedshitow zählen zu denen, die sich 1972 von Usbekistan aus auf den Weg zurück in die angestammte Heimat gemacht hatten und denen von den Behörden der Weg auf die Halbinsel versperrt wurde. Ein Jahr lang kampierten sie, wie Tausende ihrer Landleute auch, im Zelt. „So nach und nach richteten wir uns ein“, sagt Ramsi Abdulmedshitow, „in den letzten fünf Jahren hatten wir in Krasnodar eine eigene Zweizimmerwohnung.“ Seit 1984 nun versuchten die Abdulmedshitows, ihre Wohnung in Krqasnodar gegen eine in Alupka zu tauschen. „Ich war acht Jahre alt“, erzählt Ramsi, „als Mutter und ich von der Krim deportiert wurden. Vater war an der Front gefallen. Als ich erwachsen war, stand für mich fest, daß ich erst auf der Krim zur Ruhe kommen würde, und nur die heimatliche Südküste kam für mich in Frage. Meine Frau Rosa, natürlich ist sie Krimtatarin, wurde in Usbekistan geboren.“ 1989 endlich meldete sich auf das Tauschangebot der Abdulmedshitows ein älteres Ehepaar aus Alupka, das zur Tochter nach Krasnodar ziehen wollte. Ramsi fuhr nach Alupka; ein besuchsweiser Aufenthalt war den Krimtataren erlaubt. Man war sich sympathisch und schnell einig. Die Abdulmedshitows begannen zu packen. Doch inmitten der Vorbereitungen zum Umzug erhielten sie von den Behörden der Krim einen Brief, in dem ihnen mitgeteilt wurde, daß ihre Partner – leider – von einem Tausch Abstand nehmen. Die Abdulmedshitows waren fassungslos, dann mißtrauisch. Ramsi Abdulmedshitow reiste wiederum auf die Krim. Und was stellte sich heraus? Das ältere Ehepaar war zu einem „hohen Funktionär nach Jalta bestellt worden, der ihnen unmißverständlich klar gemacht hatte, daß ein Tausch mit Krimtataren nicht erwünscht sei. Doch das russische Ehepaar – beide Veteranen des Großen Vaterländischen Krieges – ließ sich nicht einschüchtern und beschloß, den „Wunsch“ der Behörden zu ignorieren. Als Ramsi bei ihnen eintraf, hatten sie ebenfalls schon zu packen angefangen. Beruhigt fuhr Ramsi zurück. Da, wenige Tage später, ein erneutes Behörden-Schreiben an die Abdulmedshitows. Hierin nun stand, daß man es für unzumutbar halte, daß eine dreiköpfige Familie – die Abdulmedshitows haben eine siebzehnjährige Tochter – in Alupka eine solch kleine Wohnung beziehe. Was für ein Hohn auf die angespannte Wohnraumsituation in der Sowjetunion! Und: schließlich bewohnten die Abdulmedshitows auch in Krasnodar „nur“ eine Zweizimmerwohnung.

Eine neuerliche Reise Ramsis war ohne Erfolg. Klipp und klar wurde ihm mitgeteilt, daß sie zu dritt keine Zuzugsgenehmigung erhalten würden. „Todunglücklich saß ich bei unseren Tauchpartnern“, erinnert sich Ramsi. „Obwohl sie leicht andere Interessenten hätten finden können, hielten sie zu uns, den einst Verfemten, nun zwar Rehabilitierten, und doch noch immer Verfemten. Plötzlich sagte die Frau, die vom Alter her meine Mutter hätte sein können: `Ich hab´s, Sie lassen sich pro forma scheiden und ziehen erst einmal zu zweit ein.´ Nun müssen Sie wissen, erklärt mir Ramsi, daß uns Krimtataren die islamische Religion und unsere Sitte verbieten, eine Ehe zu scheiden. Alle unsere Verwandten, Bekannten, Freunde würden uns zutiefst verachten. Doch als ich zurückkam und meiner Frau von diesem unfaßbaren Vorschlag erzählte, sagte sie zu meiner Überraschung ganz ruhig: `Wir tun´s!´“
Die Abdulmedshitows schrieben allen ihnen Nahestehenden, aus welchen Umständen heraus die Scheidung erfolgte, und baten sie um Verständnis. „Nach der Scheidung, wir haben seelisch Schlimmes durchgemacht“, sagt Rosa, „zog ich mit unserer Tochter nach Alupka, Ramsi quartierte sich in Krasnodar vorübergehend bei einem Freund ein.“ Im Mai 1989 heirateten die Abdulmedshitows wieder, und niemand kümmerte sich darum, daß sie nun zu dritt in der „viel zu kleinen Wohnung lebten. Rosa und Ramsi Abdulmedshitow verdienten vor ihrem Umzug in Krasnodar als Geschäftsführer einer Gaststätte zusammen 480 Rubel, jetzt erhalten sie als Verkäufer in einem nahegelegenen dörflichen Lebensmittelgeschäft zusammen 180 Rubel. Doch sie sind glücklich, in der Heimat ihrer Ahnen zu sein und das zugefügte Unrecht, „wenn auch leider auf eigene Faust“, sie sie sagen, in Recht verkehrt zu haben.

Aus Unrecht Recht zu machen, würden auf ihre Weise gegenwärtig auch weitere achtundzwanzig krimtatarische Familien aus Usbekistan versuchen, sagt uns Ramsi Abdulmedshitow. „Sie kampieren zehn Kilometer vom Amtssitz des Gebietsparteikomitees von Jalta entfernt in Zelten.“ Mit Jaltas stellvertretendem Bürgermeister Wladimir Dowgalow konnten wir jedoch nicht ins Gespräch kommen, da „es keinerlei Probleme mit Krimtataren gibt und gar kein Krimtatare in die Kurortzone ziehen will“. Ramsi Abdulmedshitow übrigens gehört dem „Komitee der Krimtataren von Simferopel“ an, und er ist einer von denen, die 1987 – da war ich gerade in Moskau – an der Kremlmauer für die Rückkehr der Krimtataren in die Heimat demonstrierten.

Tanino – ein Vorzeigedorf?
Tanino ist das erste Dorf auf der Krim, in dem wider fast ausschließlich Krimtataren leben. „Es ist unser Vorzeigedorf“, sagt in Perwomaisk der Erste Sekretär des Gebietsparteikomitees Viktor Martinez. Perwomaisk ist bis jetzt der einzige Rayon auf der Krim, in dem man sich ernsthaft bemüht, den Krimtataren die Rückkehr in die Heimat zu ermöglichen.
Inmitten kahler, öder Steppe entsteht hier seit 1988 Haus neben Haus, weit und breit kaum eine Spur von Grün, unbefestigte Wege, Bauschutt, soweit das Auge reicht. Nichts anheimelndes auf den ersten Blick, nichts Sehenswertes. „Die Menschen dort“, hatte uns Viktor Martinez versichert, „sind glücklich, Sie werden es erleben.“ Und tatsächlich, wir können in Tanino – wen immer wir wollen – fragen, ob es ihm hier gefällt, wir gucken sogleich in strahlende Augen, und die Antwort ist stets ein Ja.

Hundertdreizehn krimtatarische Familien sind inzwischen hier eingetroffen. Sie erhielten Pässe, in denen sie erstmalig seit ihrer Ausweisung 1944 wieder ihre wirkliche Nationalität angeben durften, und bekamen Beihilfen für den Bau von Eigenheimen. Hundert Familien bauen selbst, dreizehn bekamen per Los Mietshäuser vom Staat. Allein für Tanino gab der sowjetische Staat zwei Millionen Kredit. Man ist dort voller Hoffnung auf die Zukunft und froh, wieder zusammenzuleben, krimtatarisch miteinander zu sprechen, krimtatarisch zu singen, zu tanzen und: zu beten. Einen Mullah gibt es im Dorf, keinen studierten, aber einen, der sich mit den heimatlichen Sitten und Bräuchen auskennt und den Koran beherrscht. Von einer Moschee träumen sie, auch diejenigen, die sich nicht für religiös halten aber die Sitten und Bräuche hochachten.

Das Dorf Alexejewskoje war verfallen und mit drei Millionen Rubeln verschuldet, als man es den Krimtataren überließ – einschließlich der Schulden. 960 000 Rubel haben sie mit ihrer fleißigen Arbeit im Sowchos inzwischen abgezahlt und dem Dorf den alten krimtatarischen Namen Tanino zurückgegeben. Noch gibt es in Tanino keinerlei Dienstleistungen, keinen Wasseranschluß. Die Kinder müssen täglich mit Bussen zur Schule ins Nachbardorf gefahren werden, sie erhalten hier auch Unterricht in der Muttersprache. Ein einziges Telefon funktioniert im Dorf, ein winziges Lebensmittel- und Haushaltswarengeschäft gibt es, eine Kantine, einen Kindergarten. „Wir wissen um die Unzulänglichkeiten“, sagt die Leiterin des vor zwei Jahren gegründeten krimtatarischen Gesangs- und Tanzensembles, „aber Heimat ist Heimat. Wir sind ein sehr strebsames Volk. In wenigen Jahren schon wird es hier grünen und blühen, werden wir alles anbauen, was der Boden hergibt.“ Die Kleinen im Kindergarten sind die Tanino als Vorzeigedorf einen Strich durch die Rechnung machen; denn einstimmig sagen sie, daß es in Usbekistan viel schöner war. Die blonde Feodossija, die nur krimtatarisch und usbekisch, kein Wort russisch spricht: „Da sind meine Freundinnen, und da gibt es Pfirsiche.“

Wo immer wir im Dorf auftauchen, läßt man alles stehen und liegen und widmet sich den überraschend auftauchenden deutschen Gästen. Bleibt man nur kurz, muß man unbedingt Kaffee trinken, so will es der alte Brauch. Bleibt man über Nacht, kommt auch „ein Tröpfchen“ auf den Tisch. Wir bleiben nicht über Nacht, „ein Tröpfchen“ gibt es trotzdem.
Haß auf die Deutschen? Haß auf die Russen? Fatima Memetowa schüttelt den Kopf. „Die einfachen deutschen Menschen haben im Krieg doch auch viel durchgemacht. Und die Russen? Millionen von ihnen sind unschuldig zum Tode verurteilt worden und unschuldig in Lagern umgekommen.“ Nein, Verachtung empfinde sie nur gegenüber seelenlosen Bürokraten, egal, welcher Nationalität sie sind. Und seelenlos findet sie auch diejenigen, die nach dem Krieg auf die Krim zugezogen sind und die einstigen Besitzer nicht einmal in ihre ehemaligen Häuser hineinschauen lassen. „Man will doch Haus und Hof wenigstens noch einmal im Leben wiedersehen: den Ofen, den Brunnen, den Ort wo wir als Kinder glücklich waren.“ Fatima Memetowa war dreizehn Jahre alt, als sie mit der Mutter und der einjährigen Schwester gewaltsam aus dem Haus geholt wurde.

Wir müssen leider schon am frühen Nachmittag das Dorf wieder verlassen, um die 120 Kilometer nach Simferopel bei Tageslicht zurückzufahren, denn es beginnt neblig zu werden. Am Dorfausgang stellt sich uns ein Mann in den Weg. Wir steigen aus. Er macht sich als Enwer Sarana bekannt und bittet uns, das Dorf doch noch einmal zu besuchen, angemeldet, damit man „etwas Richtiges“ auf den Tisch bringen könne. Wir stellen kurzerhand unseren Plan um und versprechen, übermorgen noch einmal wiederzukommen. Übermorgen dann bewirten uns die Saranas mit vielen uns schon bekannten und vielen ganz unbekannten Gerichten. Überrascht bemerken wir, daß wenige Speisen krimtatarisch, die meisten usbekisch sind. Und: Den Tee trinken wir aus usbekischen Pialen, unsere Rücken lehnen an usbekischen Wandbehängen, unsere Füße gehen über usbekische Teppiche. Als Begrüßungsgeschenk erhält jeder von uns eine usbekische Tjubetejka. Die Saranas, das sind: Vater Enwer, Mutter Damira, der neunzehnjährige Sohn Ralan, die einundzwanzigjährige Tochter Diljara und Achmed, der Fünfjährige; ihn hatten wir schon im Kindergarten kennengelernt.

Wie kamen die Saranas hierher? Enwer hatte sich mit seiner ganzen Baubrigade von Usbekistan aus nach Tanino begeben. Eigentlich wollte er seinen Landsleuten erst einmal beim Häuserbau helfen und sich dann mit seiner Familie in seinen Geburtsort Bachtschissarai wieder ansiedeln. „Aber bauen dürfen Krimtataren in Bachtschissarai nicht, und die käuflichen Häuser sind dort so teuer, daß ich nichts übrig behalten hätte für die Mitgift meiner Kinder“, sagt er. Bei den Krimtataren ist es Brauch, daß die Eltern, wenn die Kinder ins heiratsfähige Alter kommen, unbedingt das Geld für die Hochzeit und die üblicherweise sehr üppigen Geschenke für Braut und Bräutigam bereit haben; unter sechstausend Rubel läuft da nichts… Als Enwer Sarana eines der raren dreizehn Lose für ein Mietshaus in Tanino zog, beschloß er, die Familie nachzuholen und sich hier anzusiedeln.

Nachdem wir gegessen und über Allah und die Welt geplaudert haben, beschleicht mich immer mehr das Gefühl, daß die Saranas mit ihren Gedanken und ihren Herzen noch ganz in Mittelasien sind. Enwer Sarana gesteht dann auch, daß die Steppe ihm nicht gefalle. Er sei „Gebirgstatare“, und Krim sei eben nicht Krim. Wir fragen nach dem Auto, das wir draußen stehen sahen. Das, so sagt er, habe er sich in Usbekistan gekauft, hier reiche sein Lohn nicht einmal für das Benzin. Seine Frau, gelernte Hebamme, bekam im Nachbardorf nur eine schlechtbezahlte Arbeit als Arzthelferin. Damit habe man gerechnet, sagt sie, daß nicht alle in ihren eigentlichen Berufen Arbeit finden würden, aber die Sehnsucht nach ihrer Mutter, die bringe sie beinahe um. Die Mutter ist mit ihrem zweiten Mann, einem Usbeken, dort geblieben; ihr erster Mann ist an der Front gefallen. Große Sehnsucht nach der Oma hat auch die Tochter Dilgara, die Ärztin werden will. Der Sohn Ralan, er studiert Agronomie, mußte seine Freundin in Usbekistan zurücklassen und spart sein ganzes Geld für eine Reise dorthin. „Der Autonomie der Krimtataren“, sagt sein Vater bitter, „steht Ralan ganz gleichgültig gegenüber.“ Nach kurzem Schweigen fügt Enwer hinzu: „Ich glaube, meine Familie ist nicht typisch. Wir sind wohl doch schon ein bißchen mehr `russifiziert´ oder `usbekisiert´, als wir selber dachten, denn die anderen sind tatsächlich glücklich hier, obwohl ihnen durchaus sehr vieles noch nicht gefällt.“
Wer – wie die Saranas – nach schweren Jahren der Anpassung Glück in der Fremde hatte und von vielen freundlichen usbekischen Nachbarn umgeben war, an dessen Heimatgefühl gehen sechsundvierzig Jahre wohl doch nicht spurlos vorüber…

Feindbild: Krimtataren?
Seit Juli 1988 erscheint in Simferopol allwöchentlich eine Beilage der Gebietszeitung „Krymskaja Prawda“ in der Sprache der Krimtataren. Wir trafen uns mit Schevket Ramasanow, dem krimtatarischen Chefredakteur der Beilage. Er war in Usbekistan stellvertretender Chefredakteur der dortigen russischen Gebietszeitung, siedelte Anfang 1988 mit seiner Familie auf die Krim über, da es einem Verwandten gelungen war, ein Haus für ihn zu kaufen. ein halbes Jahr lang arbeitete er in der Landwirtschaft. „Wir sind nicht mit leeren Händen gekommen“, sagt er, „haben Weinstöcke mitgebracht, die es auf der Krim nicht mehr gibt, gute Apfelsorten und kleine usbekische Schafe, die wir hier heimisch machen wollen.“ Als die krimtatarische Beilage gegründet wurde, bot man ihm den Posten des Chefredakteurs an. Schevket Ramasanow verkaufte sein Haus wieder und zog mit seiner dreiköpfigen Familie zur Miete in eine Einraumwohnung nach Simferopol; sein Gehalt beträgt knapp die Häfte des Einkommens in Usbekistan. Seine Frau, Deutschlehrerin, ist noch ohne Arbeit. Schevket Ramasanow unterscheidet die Krimtataren in „Realisten“ und „Ungeduldige“. Er sei Realist, deshalb befürworte er eine Übersiedlung der Krimtataren in drei bis vier Jahren. „Länger“, so sagt er, „darf es einfach nicht mehr dauern, denn wir haben schon genug Gräber in Usbekistan.“

Die „Ungeduldigen“ haben sich in Bachtshissarai zu einem Komitee zusammengefunden. Einer von Ihnen ist der neunundzwanzigjährige Ismed Saatow, dem es 1982 gelang, zu Verwandten auf die Krim zu ziehen. Als er damals als Nationalität Krimtatare angab, sagte man ihm, er solle dahin zurückkehren, wo es dieses Volk gäbe. Ismeds schwarze Mongolenaugen glühen vor Empörung, als er sagt: „Wir sind für die sofortige Rückkehr auf die Krim und die sehr schnelle Widerherstellung unserer Autonomie. auch Schevket Ramasanow befürwortet sie: „Wir wollen nicht mehr und nicht weniger, als wir hatten.“ – „Wie hoch“, frage ich ihn, „schätzen Sie eigentlich den Anteil der Krimtataren, die zurückkehren wollen?“ – „Vor den Ereignissen in Fergana [Nationalitätenunruhen in Usbekistan] waren es etwa drei Viertel aller 450 000 Krimtataren, heute sind es praktisch alle.“ „Mich interessiert die Stimmung unter der nichttatarischen Bevölkerung auf der Krim. „Die Menschen haben Angst, daß ihnen die Krimtataren Wohnraum und Arbeitsplätze wegnehmen. 150 000 Bewohner der Krim stehen seit Jahren auf der Wohnraumwarteliste. Und kürzlich hörte ich einen Betriebsdirektor vom Rednerpult aus sagen, daß die `Tatarenfressen nach Asien gehören´. Ganz nebenbei gesagt, sind anthropologisch gesehen, nur etwa zehn Prozent der krimtatarischen Bevölkerung mongolid, ich zum Beispiel.“

Eine ausgesprochen negative Rolle hat die weltweit verbreitete TASS-Erklärung vom 14. Juni 1987 gespielt. Darin werden die Krimtataren beschuldigt, gegen die Partisanenbewegung auf der Krim gekämpft zu haben, und es wird ihnen die Schuld für die unmenschlichen Folterungen von Patrioten zugeschoben. „Kein Wort davon ist wahr“, empört sich Schevket Ramasanow, „in russischer Sprache wurde jedoch ein Dementi bisher nicht veröffentlicht. Mit versucht mit aller Macht ein Feindbild Krimtataren aufrechtzuerhalten.“

In der Verfügung von 1988 fand ich glaubwürdig dargestellt, daß die Krim als Kurortzone übervölkert sei. Und wie sieht Ramasanow diese Situation? „Einerseits gibt es zur Zeit auf der Krim fünfhundert verlassene Dörfer, die zu herrenlosen Müllhalden verkommen. Andererseits liegt Nutzfläche – insbesondere an Berghängen gelegenes Gartenland – nun schon fast ein halbes Jahrhundert brach. Hier könnten sich die Krimtataren wieder ihrem traditionellen Erwerbszweig, dem Weinbau, zuwenden. Ferner macht sich unbedingt eine Umorientierung der gesamten Wirtschaft unserer Halbinsel erforderlich. Weg von der Gro0industrie und dem primitiven einheimischen Tourismus, hin zum Dienstleistungsgewerbe. Die Rückkehrer würden die `sozialökologischen Nischen´ auffüllen“ – „Glauben Sie“, frage ich, nicht ohne Besorgnis vor der Antwort, daß es von seiten der Krimtataren auch zu gewaltsamen Auseinandersetzungen kommen könnte?“

„Ja“, antwortet Schevket Ramasanow sofort, „wenn weiterhin geredet, statt gehandelt wird.“ Es ist immerhin die dritte Generation, die auf fremder Erde aufwächst. Es könnte erstens eine Entladung von Gewalt die Folge sein, zweitens werden noch 1990 etwa 100 000 Krimtataren spontan auf die Halbinsel drängen, drittens ist der Beginn einer Emigrationswelle von Krimtataren in die Türkei abzusehen. Aus einem banalen Alltagskonflikt könnten schwere ethnische Zusammenstöße entstehen.“
Aus den achtundzwanzig Familien, die während unserer Anwesenheit auf der Krim spontan angekommen waren und in Zelten kampierten, sind sozusagen über Nacht siebzigtausend Rücksiedler geworden. Sie haben die Krimer Behörden zum Handeln gezwungen. Friedlich. Denn: In diesen Tagen wurde den Krimtataren die organisierte Rückkehr in die angestammte Heimat innerhalb von fünf Jahren zugesichert. Nur eine Autonomie der Krimtataren – die scheint auf den Sankt Nimmerleinstag verschoben.

EUROPA ERLESEN, Krim, Herausgegeben von Annette Luisier und Sophie Schudel, Wieser Verlag, Klagenfurt/Celovec 2010, 284 S., 12,95€
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