Diese Gegend ist ja nicht gerade bekannt als Kulturlandschaft mit bedeutenden Bühnen. Bretter, die „die Welt bedeuten“ – da denkt man eher an schaukelnde Schiffsplanken im kleinen Hafen oder bei stürmischer See. Und liegt damit oberflächlich gar nicht so falsch. Tief aus der Ostsee kommt tatsächlich der Stoff, aus dem die Stücke geschmiedet werden. Jedes Jahr auf Usedom bringt ihn die Vorpommersche Landesbühne seinem begeisterten Publikum zu Gehör wie zu Gesicht, so dass er eindrucksvoll ins Gemüt eingeht. Vineta – schon im Namen schwingt ein mystisch magischer Klang mit.
Prolog: Eine Sage
An einem Ostermorgen hütete ein Schäferjunge seine Herde nahe dem Strand von Koserow, und wie er so über die weite See blickte, stieg mit einem Male eine alte, ehrwürdige Stadt aus dem Wasser empor: Gerade vor ihm tat sich das hohe, reich verzierte Tor in der Mauer auf. Erstaunt und wie von einem Trugbild geblendet saß er da. Dann aber sprang er auf und lief neugierig hinein.
Die Männer trugen lange pelzbesetzte Mäntel und federgeschmückte Barette. Die Frauen gingen kostbar in Samt und Seide gekleidet. Aber alles geschah ohne den geringsten Laut. Stumm breiteten die Kaufleute ihre Waren aus. Einer winkte den Jungen heran. Er zeigte auf ein kleines Geldstück und wies auf den Tisch voll Ware. Doch der Junge besaß nicht einen Pfennig. Traurig und enttäuscht sahen ihm alle zu.
Da lief er eilig durch das hohe Tor zurück an den Strand zu seinen Schafen. Er saß da noch, als ein alter Fischer vorbeikam und zu ihm sprach: „Wenn Du ein Sonntagskind bist, so kannst du heute, am Ostermorgen, die Stadt Vineta aus dem Meer steigen sehen, die hier vor vielen, vielen Jahre untergegangen ist“ …
Schauspieler, Sänger und Tänzer probieren am Ostersonntagmorgen in Zinnowitz heuer wie all die Jahre das sagenhafte Vineta aus der Ostsee heraufzubeschwören. Immer ohne Erfolg, es fehlt ihnen stets selbst an kleiner Münze, und so verbleibt die Stadt im Wasser.
„Sie versuchen es mit einem Spektakel aus Artistik, Tanz und Gesang, ein kleines Best Off der vergangenen Vineta-Saison, das zugleich auf die kommende Festspiele im Sommer einstimmen soll. Denn da geht es wieder um den unvermeidlichen Untergang der Stadt, erzählt uns Martina Krüger, Pressesprecherin der Vorpommerschen Landesbühne. Wir schauen in die Sage und fragen uns: Sollten die Akteure es nicht mal stumm versuchen?
Allerlei Geschichte und Geschichten ranken sich um die Handelsstadt, versunken in den Fluten des baltischen Meeres, die wohlhabend obwohl friedfertig gewesen sein soll. Sie
umgarnen den Zuhörer, den Zuschauer, den Urlaubsgast auf der Insel, in Vorpommern – und lassen ihn nach einer Vorstellung (2015 gab`s „Der Tag des Königs“, 2016 folgt „Die Stadt der Diebe“) nicht ruhen bis er aufbricht, um Vineta zu finden. Sein Vineta.
Auf Safari durch Usedom und zur Peene
Motiviert starten wir in Zinnowitz zu unserer besonderen „Insel-Safari“. Mit dem Jeep. Damals vor etwa 1001 Jahren gab es ja auch keine geteerten Straßen und Vineta werden wir nicht unterm Parkplatz am Supermarkt finden. Für Proviant ist also gut gesorgt und am Steuer leitet uns ein erfahrener Lotse. Los geht’s, erste Etappe die Kirche in Koserow. Sie bewahrt das Kreuz von Vineta. Fischer hoben im 15. Jahrhundert am Koserower Riff in der Ostsee diese schwedische Holzschnitzkunst. Das stolze Stück kam wohl von Bord eines Schiffs, welches unterging – wie einst die sagenhaft reiche Stadt. Aber man glaubte schon Glocken aus der Tiefe läuten zu hören, und forschte forsch weiter. 1538 entdeckte Thomas Kantzow in Diensten des pommerschen Herzog Bogislaw auf dem Meeresboden vorm nahen Damerow eine Siedlung größer als Lübeck. Hamburg, hätt er heut gemeldet.
1560 tauchte Lubecchius Bürgermeister von Treptow mit einem Maßstab auf und dann ab. 1 Meile lang, ¾ Meile breit, eine Kommune der „kopfsteingepflasterten Straßen“. Die hätte seine gern. 1774 sieht der Regierungspräsident Kanonen, oha, und Kirchen. 1805 kommen wirklich Glocken dazu – ausgebuddelt im na ja nahen Swinemünde, aber leider aus dem 30jährigen Krieg. Unbestritten ist jedoch eine gewaltige Sturmflut, welche 1304 zu Allerheiligen hereinbrach und nicht nur Usedom von Rügen trennte, oder umgekehrt, sondern auch zum Untergang von Vineta hätte führen können. Viel Landmasse muss jäh ins Meer gestürzt sein. Steine im Gelände deutete der Geologe Professor Deeke 1906 als Deckplatten von Dolmengräbern. War das Vineta-Riff ein Ausläufer vom Streckelsberg? Wir fahren von der Koserower Kirche an die schön steile Küste, um Ausschau zu halten.
Vermutlich könnten wir mit dem Jeep ganz rauf. Aber wir nehmen lieber die Treppe zur Anhöhe. 56 Meter über Meer behauptet die Inselkarte. Schnaufend erscheint uns das viel mehr. Von der Plattform der Naturkanzel mit Fernblick lassen wir unsere Augen weithin schweifen, bis zum Horizont und gen unten fast bis zum Grund. Erspähen wohl das Riff –aber nix von Vineta. Sehen dort drüben ganz hinten links Wolin und wollen hin, denn da soll die Stadt auch sein. Im heutigen Polen. Zu weit. Egal, bestimmt würden wir hier am Ufer Bernstein finden, trösten wir uns. Ist vielleicht sogar vielversprechender als Vineta.
Kreuz und quer geht’s mit unserem geländegängigen Gefährt über die Insel und somit folgerichtig auch zum Mittelpunkt genannt Mellenthin. Dessen wunderbare Allee führt zum Wasserschloss. Kopfsteinpflaster – mal abklopfen ob aus Vineta. Wir umrunden die ganze Anlage, ein beliebtes Ausflugsziel. Malz- und Röstaromen steigen uns in die Nase, hier wird klein aber fein Bier gebraut und Kaffee produziert. Bei betreten: Brückenzoll. Es hätte Dornröschenschloss sein können, aus einem Märchen aber keiner Sage. Suchen wir lieber drüben – und freuen uns danach in Usedom-Stadt auf Sonne statt Schatten.
Also von der Insel aufs Festland vorbei an Anklam mit festen Haus der Vorpommerschen Landesbühne zum Haltepunkt im Irgendwo. Da spazieren wir munter durch Kuhwiesen, gesäumt von schütter bewaldeten sandigen Hängen, die Peene entlang. Ein sanfter Wind weht – doch wohl kaum als Hauch der Geschichte. Nun, hier lag vor 1001 Jahren eine der größten Handelsplätze im Ostseeraum. Gemeinsam bewohnt von Slawen und Wikingern. Nachgewiesen ist eine gepflasterte Straße beiderseits einer Brücke über den Fluss. Noch nicht nachgewiesen ist ein Hafen. Den müsste Menzlin aber haben, um Vineta zu werden.
Die Via Regia, bedeutendste Ost-West-Handelsstraße im Norden verlief vermutlich hier.
Gefunden wurde ebenfalls ein Brandgräberfriedhof. Die Bestattung erfolgte, hören wir, in acht schiffsförmigen Steinsetzungen, 12 Steinkreisen, 33 Brandgräbern und der Ustrine sprich Verbrennungsplatz. Wir schauen und schaudern ein klein wenig. Frauen mehr als Männer. Die liegen archäologisch gesehen noch unentdeckt im Dunkeln.
Mit lauter Lust und Liebe auf der Bühne
Durch den Usedomer Sommer begleitet Urlaubsgäste die Sonnenallee aus Usedom-Stadt. Begleitete – 2016 steht nach „Sonnenallee“ die „Linie 1“ auf dem Spielplan. Vom Berlin Hauptstadt der DDR der späten 70er zum West-Berlin der 80er des letzten Jahrhunderts – das passt. Die DDR-Kenner unter uns begutachteten auf offener Bühne viele Requisiten und befanden sie allesamt als stimmig. Die Wessis werden dafür bestimmt nächstes Jahr fündig werden. Beschaulich die Kleinstadt, High-Noon-Stimmung am Hafen, wo die Hitze waberte vor dem Theater am Kai. Auf den grünen Plastikstühlen da drinnen würden wir jetzt festkleben. Seltsam erscheint diese Spielstätte, sie wirkt wie ein gestrandeter UFO am Ende der Welt. Gegen Abend mag das anders sein. Da zog es uns aber zu Zinnowitz.
Zur Theaterakademie Vorpommern. Ihr Motto: „Leben, lernen und spielen, wo andere Urlaub machen“. Schulgeld wird nicht erhoben, vielmehr gibt es Ausbildungsvergütung.
Die Arbeit orientiert sich an den Theatermethoden von Konstantin Stanislawski sowie Bertolt Brecht. Gegründet wurde die Akademie 2000 – von Wolfgang Bordel, seit 1993 Geschäftsführer der Landesbühne und ihr Intendant, der „dienst-älteste“ Deutschlands.
Von Anfang an stand neben Theorie auch immer Praxis auf dem Lehrplan. Acht Semester – und nach vier Jahren sind die Studenten in das Ensemble der Landesbühne integriert.
In die Akademie integriert sind drei Probebühnen, zwei Musikzimmer, Sprecherzieher-Räume, Ballettsaal und Seminarraum sowie eine Bibliothek. Gut ausgestattet die private, jedoch staatlich anerkannte, höhere Berufsfachschule für Theaterarbeit und Schauspiel. Gespielt wird im Theater Anklam, im Theaterzelt Chapeau Rouge Heringsdorf, in der Blechbüchse Zinnowitz und bei den Vineta-Festspielen auf der Ostseebühne Zinnowitz, bei den Hafenfestspielen in Usedom-Stadt und weiter weg auf der BartherBoddenBühne.
Barth ist ein altes Städtchen mit großer Vergangenheit: zur Stauferzeit als Handelsplatz am Bodden gegründet, nach der Reformation eine Residenz der Pommernherzöge, die unter den Schweden zum Adligen-Frauen-Stift wurde, und vor gut und gerne 100 Jahren dann Preußens Gloria, Heimathafen für 172 Segelschiffe. Von der Stadtbefestigung blieb wenig außer Dammtor und Fangelturm stehen. Weiter Blick hinüber zur Halbinselkette Fischland, Darß, Zingst vom 80 Meter hohen Turm der Marienkirche, Wahrzeichen der Stadt. Den alten Hafen schmückt maritimes Geziere. Bekannt ist die Barther Bibel, eine niederdeutsche Luther-Bibel von 1588 aus der fürstlichen Druckerei, Prachtstück vom Bibelzentrum St. Jürgen. Vineta dürfte darin kaum erwähnt sein. Also ab in ihr Museum!
1933 zu Anbeginn der braunen Unzeit tauchte Vineta erstmals im Barther Bodden auf. Die Nazis konzentrierten ihre Forschung ab 1934 aber auf Wolin an der Odermündung und auf die nahe Jomsburg, sie passte bestens ins mystische nordische Menschenbild. 1999 wollten Klaus Goldmann und Günter Wermusch bewiesen haben, dass die Oder mit einem Mündungsarm über den nahen Bodden in die Ostsee strömte. Somit hätte Vineta doch bei Barth liegen können. Das Stadtmuseum führt ganz stolz seinen Namen im Titel.
Zeigt beispielsweise ein großes Modell der Stadt von ehedem, sowie viele Schautafeln zu Barther Bürgern wie der Gartengestalter Ferdinand Jühlke. Was aber am meisten lohnt liegt unter der Erde. Also in den Keller abtauchen zu „Under Water“. Weiße Wände und Vitrinen im Gewölbe wurden zur handbemalten Tauchglocke verwandelt. Oben spannt die Vineta-Abteilung den Bogen weit, sehr weit, bis Günter Grass und Erich von Däniken.
Epilog: Einige Quellen
Um 965 bereiste der jüdisch-maurische Kaufmann Ibrahim Ibn Jakub al Isreli at Tartusi die westslawischen Länder. Er gibt – vom Hörensagen – folgende Kunde wieder: „Sie haben eine große Stadt am Weltmeer die zwölf Tore und einen Hafen hat (…). Sie bekriegen den Mieszko, und ihre Streitkraft ist gewaltig. Sie haben keinen König, lassen sich von keinem Einzelnen regieren, sondern die Machthaber unter ihnen sind die Ältesten.“ Mieszko I. Herzog von Polen zog 966 aus um Wolin zu erobern…
Um 1068 bis ca. 1081 verfasste Adam von Bremen die „Hamburgische Kirchengeschichte“ und beschreibt darin auch das Land Wanzlow, die Insel Usedom (…). An (der) Mündung der Oder bietet die hochbedeutende Stadt Jumne einen viel besuchten Mittelpunkt des Verkehrs für die Barbaren und Griechen im Umkreis dar (…). In der Tat ist sie die größte aller Städte, die Europa umschließt, und wird von Slawen und anderen Völkern, Griechen und Barbaren, bewohnt, denn auch hinkommende Sachsen erhalten gleichfalls das Recht dort zu wohnen, freilich nur, wenn sie während des dortigen Aufenthalts ihr Christentum nicht öffentlich bekennen. Im übrigen aber dürfte man kein Volk finden, das in Bezug auf Sittlichkeit und Gastfreiheit ehrenwerter und gutherziger wäre. Jene Stadt ist angefüllt mit Waren aller nordischen Völker und besitzt alles Angenehme und Seltene.“ Seine Informationen hatte Adam von Bremen nicht aus erster Hand – sondern wohl vom König von Dänemark, Sven Estridson, Urenkel von Harald Blauzahn.
Um 1168 verfasst Helmbold von Bosau, Pfarrer in einem damals dänischen Dorf, seine Sachsenchronik in der er, fast wörtlich, Adam von Bremens Beschreibung von Jumne übernimmt. Aber er schreibt in der Vergangenheit – also ist Jumne zerstört. Und durch die handschriftlichen Überlieferungen wird aus Jumne zuerst Jumneta, dann Vimneta, und letztendlich Vineta…
Der Barther Theater-Garten liegt abseits der Altstadt, zwischen altem Hafen und alter Zuckerfabrik. Auf der Bodden-Bühne werden alljährlich Abenteuerspektakel inszeniert. Seit 2014 „Die Vier Musketiere“ mit „Der Kampf geht weiter“ zur Sommersaison 2016.
Immer dabei die Kampfchoreografie von Ray Kupfer, der auch brennt, springt und live wie vom Himmel fällt. „Einer für alle, alle für einen!“ Hat es daran in Vineta gefehlt?
Mehr dazu hier in der Reisegala
Termine zur Sommersaison
Vineta-Festspiele:
Premiere von „Die Stadt der Diebe“ am 9. Juli, gespielt wird bis 3. September 2016
Hafenfestspiele Usedom:
Premiere von „Linie 1“ am 25. Juli, gespielt wird bis 27. August 2016
Barther Theater-Garten (Die vier Musketiere“):
Premiere von „Der Kampf geht weiter“ am 16. Juli, gespielt wird bis 2. September 2016
Weitere Infos:
Vorpommersche Landesbühne
Leipziger Allee 34
17389 Anklam
Tel.: 03971-20 89 23
„Prolog“, „Epilog“ mit Pressematerial der Vorpommerschen Landesbühne/Martina Krüger