Impressionen einer Schiffskreuzfahrt von Moskau nach St. Petersburg
In letzter Zeit hat das Russland Bashing in den deutschen Medien Konjunktur (1). Und mancher Politiker wie die frühere US-Außenministerin Madeleine Albright bezeichnete in einem Interview Russland sogar als „Bangladesch mit Raketen“(2). Ist das ein Zeitpunkt, um eine Urlaubsfahrt nach Russland zu unternehmen? Eine Studiosus-Gruppe mit 23 Teilnehmern aus Deutschland wollte das heutige Russland ohne Vorurteile entdecken.
Russland ist vieles für viele – eins aber ist es bestimmt nicht: langweilig. Besonders dann, wenn Moskau und St. Petersburg auf dem Programm stehen und eine 10-Tage Flusskreuzfahrt von 1800 Kilometern Wasserweg, die diese beiden Mega-Metropolen miteinander verbindet.
Touristen erobern den Roten Platz
Nur zwei Tage Aufenthalt in Moskau werden durch beträchtliche Verkehrsstaus noch verkürzt. Die 12 Millionen Moskauer, inoffiziell sollen es noch einige Millionen mehr sein, mit ihren drei Millionen Autos und täglich 2 Millionen Pendlern, müssen besonders auf ihren sechsspurigen Magistralen mit ständigem Verkehrsstau auskommen. Und natürlich die Touristen-Busse auch.
Eine Stippvisite auf dem Roten Platz ist Pflichtprogramm. Tausende Passanten spazieren zwischen kleinen Holzhäusern von Buchausstellungen. Gegenüber dem GUM wird eine Bühne mit erhöhten Sitzreihen aufgebaut. Das Mausoleum liegt etwas verlassen. Es ist nur noch einige Stunden vormittags geöffnet. Die Touristen strömen vorbei und zücken ihre Kameras, um die Basilius-Kathedrale mit den bunten Zwiebeltürmen zu fotografieren, die zu Ehren des Sieges des russischen Heeres über die Tataren errichtet wurde. Der frühere Platz der Machtdemonstrationen von Panzern und Soldaten hat sich nunmehr hauptsächlich dem internationalen Tourismus ergeben. So geht es scheinbar auch dem Kreml, mit Gründung der Stadt als Festung angelegt. Das Tor, das in die Himmels-Richtung Westen zeigt, wurde damals besonders wehrfähig erbaut. Aus dieser Himmelsrichtung kamen über die Jahrhunderte bis ins 20. Jahrhundert immer wieder Bedrohungen – bis in die Gegenwart. Das Tor ist heute ausschließlich Foto-Motiv.
Kirchenkuppeln strahlen um die Wette
Das 28 Hektar große Areal des Kreml ist mit imposanten Bauwerken bestückt. Vor allem die weiß getünchten Kathedralen, deren goldene Kuppeln um die Wette strahlen, bezeugen die Bedeutung, die die russisch orthodoxe Kirche in Russland besitzt.
Schließlich sind hier auf dem Areal auch zwei ultimative Fotomotive zu finden. Da ist die 200 Tonnen schwere Zarenglocke, bei der beim Löschen eines Brandes ein Stück herausbrach und die niemals geläutet werden konnte. Und hier steht die gewaltige Zarenkanone mit vier riesigen gusseisernen Kugeln. Solche Geschosse wurden niemals abgefeuert, da die Kanone, wie Experten wissen, nur für Schrot bestimmt war. Ein symbolträchtiges Zeichen der Geschichte für den heutigen Rüstungswettlauf?
Streifzug durch russische Geschichte
Der Besuch der Tretjakow Galerie übertrifft alle meine Erwartungen. Russische Kunst des 9. bis zum 20. Jahrhundert ist in 62 Sälen untergebracht und chronologisch gegliedert. Der attraktivste Teil sind für mich die Ausstellungen der Maler aus dem 18. und 19. Jahrhundert. Die Galerie lädt zu einem Streifzug durch die russische Kunstgeschichte ein, ist aber zugleich ein Geschichtsbuch von Russlands Aufbruch Richtung Europa, die von Peter I energisch eingeleitet wurde. Geprägt sind viele Motive vom Klassizismus und vom Romantizismus, der in Russland nach dem Sieg über Napoleon Konjunktur hatte. Beeindruckend auch der ästhetische Realismus mit imposanten Landschaftsgemälden und auch Bildern mit sozialer Schärfe. Viele Bilder stammen von Malern, die bei den Besuchern aus Westeuropa wenig bekannt sind wie K. Brüllow, A. Iwanow oder I. Kramskoi.
Geradezu sensationell sind für mich die Bilder von Wassili I. Surikow „Die Bojarin Morosowa“ oder Ilja Repins „Kreuzprozession im Gouvernement Kursk“, die die Bevölkerung in Russland zum Ende des 19. Jahrhunderts darstellte. Viele der Bilder machen deutlich, wie stark Russland in der Vergangenheit bis heute religiös geprägt ist. Und da ist das Gemälde von Viktor Wasnezow „Die drei Recken“, die das russische Volk verkörpern sollen. Wenn manche westliche Beobachter sich fragen, wo Grundlagen des nationalen Selbstverständnisses und der russischer Identität liegen, könnten sie eine Antwort in der im russischen Volk verwurzelten Tretjakow Galerie finden.
Tourismus entdeckt die Wasserstraßen
Die Geschichte Russland wurde über die Jahrhunderte von den Wasser- und Handelsstraßen geprägt Eindrucksvolle Belege dafür sind die Seidenstraße oder die Öffnung Russlands nach Europa durch Peter I., der gegen die Schweden den Zugang zur Ostsee erkämpfte. Schon lange hat auch der Tourismus in Russland die Wasserstraßen erobert. Zu den attraktivsten Touren zählt die Schiffskreuzfahrt von Moskau nach St. Petersberg.
Die Studiosus Reisegruppe ist mit dem Schiff „Andrej Rublew“ unterwegs, benannt nach dem weltberühmten Ikonenmaler, dessen Werke ebenfalls in der Tretjakow Galerie zu bestaunen sind. Der Flussdampfer mit zwei 1000 PS Dieselmotoren wurde übrigens in der damaligen DDR in Boizenburg im Jahr 1987gebaut und erledigt nach kürzlicher Renovierung weiterhin zuverlässig seinen Dienst.
Die „Rublew“ beginnt ihre Fahrt auf dem Moskau-Wolga-Kanal und passiert auf den 128 Kilometern insgesamt acht Schleusen. Die Flusslandschaften ziehen gemütlich mit einer Geschwindigkeit von 25 Stundenkilometern vorüber. Die Schiffsroute hält die Parade ab an den Quartieren der Moskauer für die Wochenenden, vorbei an unzähligen kleinen Datschen und nicht wenigen prachtvollen zwei- und dreistöckigen Holzhäusern.
Bei einer russischen Familie in Uglitsch
Erste Station ist der kleine Ort Uglitsch. Obligatorisch ist der Besuch der bunt bemalten und mit vielen Ikonen geschmückten Demetrius-Blutskirche. Außerdem steht in einem Vorort von Uglitsch, so der lobenswerte Anspruch bei Studiosus, die Zusammenkunft mit einer russischen Familie auf dem Programm. Sie wohnt in ländlicher Idylle in einem unscheinbaren Haus mit einem großen Gemüse-Garten und jeder Menge Hühner und Enten. Die Gastgeber haben ihr Wohnzimmer ausgeräumt, so dass die komplette Touristengruppe an einer langen Tafel Platz findet. Von der Hausfrau selbst gemachte Pirogen, selbst eingelegte Salzgurken und unverzichtbar selbst gebrannter Wodka sind aufgetischt. Im Gemüsegarten wachsen Mohrrüben, Kohlrabi und Kartoffeln prächtig, unter einem Foliendach Tomaten und Gurken. Wie die deutschen Urlauber auf den schmalen Wegen durch den Garten in Vorort von Uglitsch spazieren und die Beete begutachten, kommen mir die Zeilen von Jewgeni Jewtuschenko in den Sinn, die er vor mehr als 50 Jahren schrieb. Es ist eines der bekanntesten Antikriegsgedichte und beginnt mit der ersten Strophe so:
Meinst du, die Russen wollen Krieg?
Befrag die Stille, die da schwieg
im weiten Feld, im Pappelhain,
Befrag die Birken an dem Rain.
Dort, wo er liegt in seinem Grab,
den russischen Soldaten frag!
Sein Sohn dir drauf Antwort gibt:
Meinst du, die Russen wollen Krieg?
Der nächste Ankerplatz ist die älteste Stadt an der Wolga, das traditionsreiche Jaroslawl. Die 600.000 Einwohner Stadt mit ihren zahlreichen Klöstern und Kirchen gilt zugleich als inoffizielle Hauptstadt und als der Juwel vom Goldenen Ring, der altrussischen Städte in Nordosten von Moskau.
Weiter führt auf dem riesigen Onega-See der Fahrtweg zur Insel Kischi mit der Cristi-Verklärungs-Kirche. Hier am nördlichsten Punkt der Tour erleben die Touristen besonders deutlich die hellen Abende und Nächte.
Nach einem Halt im Dorf Mandrogli, einer Art russischem Disneyland, gelegen zwischen dem Onega- und dem Ladoga-See, erreicht die Touristengruppe des Kreuzfahrtschiffes St. Petersburg, um zum Abschluss noch in zweieinhalb Tagen die fünf Millionen Weltstadt zu erleben.
Der Touristen-Magnet St. Petersburg
Die Peter-und Paul-Festung, die Keimzelle von Petersburg, gehört zum Markenzeichen des Stadtbildes. Mit der Anlage von Erdwällen und dem Bau von Holzhäusern beginnt im Jahr 1703 die Stadtgeschichte. Hier steht auch die Peter-Paul-Kathedrale, die Begräbniskirche der russischen Zaren. Die vergoldete Turmspitze krönt eine Wetterfahne. Auch die prunkvolle Inneneinrichtung mit einer Kanzel ist eher europäisch. Gleich neben der Kathedrale befindet sich auch ein modernes und heftig umstrittenes Denkmal für Zar Peter I. Bei der Bronzefigur ist der Kopf im Verhältnis zum Körper recht klein, seine Hände wiederum unwirklich lang. Die Petersburger haben ungeachtet ihrer scheinbar grenzenlosen Verehrung für Peter I auch diese ungewöhnliche Schenkung an die Stadt 1991 von dem in den USA lebenden Künstlers Michail Schemjakin letztlich toleriert.
Im vergangenen Jahr wurde Russland von 31,6 Millionen Menschen besucht. Die Eremitage in Petersburg, die im Gebäudekomplex des berühmten Winterpalais untergebracht ist, gehört zu den berühmtesten und größten Kunstmuseen der Welt und steht ganz vorn als Objekt der Begierde der Touristen weltweit. Insgesamt besuchen jährlich 2,8 Millionen Besucher diesen Tempel der Kunst. Und wenn man die Warteschlagen an den Eingängen sieht, kann man dem Eindruck erliegen, dass im Moment sehr viele von den Millionen gerade an diesem Nachmittag unterwegs sind.
Der billige Rubel macht Urlaub erschwinglicher
Wie aus Daten den Daten der Welttourismusorganisation OOH (UNWTO) hervorgeht, nimmt Russland den zehnten Platz im Rating der meistbesuchten Länder des Jahres 2015 ein. Die Mehrheit von ihnen kam aus Ostasien und dem Mittleren Osten. Das kann bei den russischen Gastgebern mit ihren internationalen Gästen zu Problemen führen, wie im Juni exemplarisch ein Theaterabend im berühmten Theatersaal der Eremitage zeigt. Chinesische Touristengruppen fallen schon am Einlass unangenehm durch hektisches und rücksichtsloses Gedränge, Stoßen und Zerren auf. Auch im Theater, wo striktes Fotoverbot gilt, wird während der Vorstellung von den Chinesen hemmungslos mit Handy und Laptop fotografiert. Dieser Invasion der Unkultur scheinen die russischen Gastgeber hilflos gegenüber zu stehen. Dennoch bleibt die Aufführung des Balletts „Schwanensee“ ein großes Vergnügen.
Die große Beliebtheit Russlands als Reiseziel hängt laut Experten mit der aktuellen Wirtschaftskrise zusammen. „Durch den billigen Rubel ist ein Urlaub in Russland für viele Ausländer, die zuvor andere Orte bevorzugt haben, erschwinglich geworden“, erklärt Sergej Nazavor, Generaldirektor des Unternehmens Trans Show Tour.
Das Bernsteinzimmer im Katharinenpalast
Der Besuch in Zarskoje Selo, der Sommerresidenz des Zaren, 25 Kilometer südlich von St. Petersburg, ist ein würdiger Schlusspunkt der Reise. Der Ort, der jetzt Puschkin heißt, wurde 1937 aus Anlass des hundertsten Todestages des Dichters umbenannt, ein Zeichen der Verehrung der Russen für Alexander Puschkin. Auch hier vor dem berühmten Katharinenpalast wieder großer Andrang der Reisegruppen. Es bilden sich lange Schlagen vor dem Eingang und an den Garderoben setzt großes Geschiebe ein, der Preis für Massentourismus. Der Rundgang entschädigt die Mühsal und ist beeindruckend, besonders der große Ballsaal, der Bankettsaal der Ritter und natürlich das Bernsteinzimmer. Es „verschwand“ im Jahr 1944 spurlos beim Rückzug der deutschen Wehrmacht und ist bis heute nicht wieder aufgetaucht. Dafür wurde im Jahr 2003 das Bernsteinzimmer nach jahrzehntelanger Rekonstruktion für Besichtigungen wieder eröffnet. Fotografieren ist hier nicht erlaubt, weil das Material Bernstein sehr instabil ist. Die Geschichte, die dieses Zimmer erzählt, hat in heutigen Ohren fast märchenhafte Züge. Denn dieses Zimmer schenkte der preußische Soldatenkönig Wilhelm I dem Zar Peter I. Und der Preußenkönig erhielt dafür im Gegenzug 50 Soldaten, „besonders lange Kerls“.
Mit eigenen Augen kennen lernen
Galina aus Moskau, eine der Reiseführerinnen auf der Studiosus-Tour, verabschiedete sich mit den Worten: „Ich gratuliere den deutschen Touristen, dass sie den Mut fanden, in der Gegenwart nach Russland zu reisen.“ Galina hat recht, es ist für viele Deutsche leider immer noch keine Selbstverständlichkeit, mit den zahlreichen deutschen Reiseveranstaltern nach Russland zu fahren.
Aber es gehört kein Mut dazu, sich dem in deutschen Medien meist fremd und sogar feindlich dargestellten Land im Osten Europas als Tourist zu nähern. Russland wartet darauf, dass wir es mit eigenen Augen kennen lernen.
Fotos: Ronald Keusch
Anmerkungen:
(1)Jacob Augstein Spiegel , 15.02.2016 „Und schuld ist immer Putin“
(2)Österreichische Zeitung „Die Presse“ 19.4. 2016