Eigentlich solle es „nur“ eine Luftfahrtreise einer kleinen Gruppe von Enthusiasten werden. Die letzten beiden Maschinen weltweit vom Typ Tupolev Tu-154 und Tu-134 im regulären Passagiereinsatz stehen vor ihrer Aussonderung. Betrieben werden sie von der selbst innerhalb Russlands relativ unbekannten Airline Alrosa. Am Ende wurde es ein einzigartiges Sibirien-Erlebnis.
Die Airline
Alrosa ist neben der nordkoreanischen Air Koryo die einzige Airline, die diese beiden Flugzeugtypen noch im Passagierverkehr einsetzt, und dies mit angekündigtem Ende 2018/19. Ersatz durch moderne Boeing 737 wird bereits sukzessive eingeflottet.
In Luftfahrt-Insiderkreisen ist Alrosa seit einigen Jahren bereits der Geheimtipp für Linienflüge mit raren älteren russischen Flugzeugtypen. So war die Zielstellung klar. Von Moskau nach Sibirien! Erste vertiefende Recherchen zur Airline ergaben, Dank Internet, einschlägigen Foren, der Homepage von Alrosa Airlines (Aviakompania Alrosa) und Wikipedia: Hauptsitz der Airline ist das ferne Mirny in Sibirien sowie ein weiterer Verwaltungsitz in Moskau am Flughafen Domodedovo.
Alrosa Airlines wurde erst 1992 als selbständige Airline Alrosa Mirny Air Enterprise gegründet, 2013 wurden Flughafenbetreiber und Bodenabfertigungsgesellschaft ausgelagert und die Airline erhielt ihren jetzigen Namen. Die Flotte des Unternehmens besteht neben besagten russischen Flugzeugtypen u .a. aus weiteren vom Typ An-24 und An-38 für den „Nahverkehr“, aus russischen Hubschraubern Mi-8 für den Minenverkehr sowie bereits aus mehreren modernen Boeing 737-800 und 737-700.
Ihr Hauptgeschäftsfeld definiert die Airline wie folgt: Passagierlinien- und Charterflüge (im Inland und in das benachbarte Ausland) für die Bevölkerung West-Jakutiens, Luftfrachttransporte für ALROSA und andere Auftraggeber, Transport von Schichtteams der Minen und anderer Firmen, Dienstleistungen für Öl- und Gasteams, kurz, alle auf die Belange der regionalen Industrie zugeschnittenen Services. Und so kommen wir schon zum eigentlichen Konzern hinter der Alrosa Airlines, der Aktiengesellschaft ALROSA.
ALROSA und die Diamanten
Das in Mirny ansässige Unternehmen bezeichnet sich selbst als Marktführer bei der Diamantengewinnung, stellt 95% der russischen Produktion und 29% der weltweiten Produktion an Diamanten sicher. Gefördert wird in neun Ländern weltweit sowie in zehn Regionen Russlands. Die Unternehmensaktien befinden sich laut Wikipedia (Stand 2014) zu 44 % im Besitz der staatlichen Vermögensverwaltung Rosimuschtschestwo, weitere 25 % sind im Besitz der Republik Sacha. Die in ca. 22 Abbaustätten (Untertage und im offenen Tagebau) gewonnenen Diamanten vertreibt ALROSA an allen weltweiten Diamantenhotspots. Die Stadt Mirny selbst existiert nur durch und für die Diamantengewinnung, Alrosa Airlines ist also unabdingbarer Dienstleister für alle damit zusammenhängenden Transport- und Beförderungsaufgaben. ALROSA dominiert alle Bereiche der Region.
Die Tour
Jetzt aber zum aviatischen und touristischen Teil, zur Tour.
Die Homepage von Alrosa Airlines ist leider nur auf Russisch, lässt sich aber mit einigen sprachlichen Vorkenntnissen oder Google Translate auch intuitiv gut bedienen, und so waren die passenden Flüge schnell gefunden, gebucht und mit einer der gängigen Kreditkarten bezahlt. Auch die sonstigen Online-Services wie „Manage my Booking“ oder später der web check-in funktionieren wie bei jeder westlichen Airline auch. Selbst Rückfragen per Email wurden umgehend auf Englisch beantwortet.
Und so hatten wir in kurzer Zeit unsere Flüge mit der Tu-154M von Moskau über Poljarny nach Novosibirsk, von dort mit einer nagelneuen Boeing 737-700 nach Mirny, mit der Tu-134 von Mirny nach Irkutsk und zurück sowie schließlich, erneut mit Boeing 737-700, zurück nach Moskau gebucht. Reichlich Gelegenheit für tolle Flugerlebnisse auf einer breiten technischen Evolutionsstufe.
Service: Als nicht mehr wirklich in diesem Bereich verwöhnter Westeuropäer registriert man mit großer Freude, dass es noch ein Servicelevel wie in den guten alten Luftfahrtzeiten gibt. Mehrfacher Getränkeservice und vollständige Mahlzeiten mit warmem Essen zählen bei Alrosa noch zum selbstverständ-lichen Standard. Man freute sich über die luftfahrtbegeisterten West-europäer an Bord und ließ uns gern auch mal einen Blick ins Cockpit werfen. Alle Flüge verliefen pünktlich und hochprofessionell, alle Ansagen an Bord erfolgten auch in Englisch.
Die Stadt
Wie schon berichtet, ist Mirny (Mir = Frieden, Mirny = friedlich) Zentrum der Diamantenförderung, und so überrascht es nicht, dass die Stadt den ersten Diamantenfunden im Jahre 1955 ihre spätere Gründung im Jahr 1959 verdankt. (Stalin ließ bereits seit Mitte der 1930er Jahre in der Region nach Diamanten suchen, nachdem ihm seine Geologen die Region als aussichtsreich benannten. Aus diesem Grund wurde im Jahr 2005 auch ein Stalindenkmal in Mirny errichtet.)
Mirny lebt also von der Diamantenförderung und den angeschlossenen Dienstleistungen. Man bezeichnet die Stadt daher auch als Monostadt. Die offene Förderung, der Grubendurchmesser der Grube Mir erreichte stattliche 1200 Meter, ihre Tiefe knapp 1000 Meter, wurde 2004 eingestellt. Seitdem wird Untertage gefördert. Trotzdem sind die Stadt und ihre Umgebung deutlich davon geprägt. Ergänzt wird die lokale Wertschöpfung nur durch einige wenige Lebensmittel- und Baustoffbetriebe.
Die Unterschiedlichkeit der Lebensqualität lässt sich gut im Stadtbild erkennen. Auf der einen Seite moderne Wohnblöcke, wegen des Permafrostbodens auf Stelzen gebaut, auf der anderen Seite einfachste, kaum isolierte Holzbaracken.
Recherchiert man diese offensichtlichen Gegensätze im Internet, so stößt man schnell auf Berichte und Schilderungen der Einwohner. Hohe Lebenshaltungskosten aufgrund der einsamen Lage der Stadt, Fachkräftemangel außerhalb des Minenbetriebs, eine weit klaffende Lohnschere (je nach Hierarchieebene in der Minengesellschaft) – all dies führt zu spürbaren Unterschieden in der Lebensqualität in Mirny.
Und so hat die Luftfahrt wieder einmal dazu beigetragen, eine Region und ihre Geschichte zu entdecken, die einem ansonsten wohl verborgen geblieben wäre.
Fotos: Lutz Schönfeld