Mit dem Expeditionsschiff „Le Jacques Cartier“ entlang der Westküste Madagaskars
Von Ronald Keusch
Die Naturlandschaften von Madagaskar, der weltweit viertgrößten Insel an der Süd-Ost-Küste von Afrika, sind einzigartig. Obwohl Madagaskar nur 450 Kilometer vom afrikanischen Festland entfernt ist, hat es sich geologisch schon vor 160 Millionen Jahren von Afrika und dann vor 90 Millionen Jahren vom indischen Subkontinent getrennt. So wird Madagaskar mit seinen etwa 29 Millionen Einwohnern nicht ganz zu Unrecht als „achter Kontinent“ bezeichnet.
In der langen isolierten Entwicklung konnte eine sehr eigenständige Natur mit unvergleichlicher Flora und Fauna entstehen. Von den etwa 12.000 Arten von Blütenpflanzen und den 109 Säugetierarten sind jeweils 80 Prozent endemisch, von den 250 Vogelarten sind rund die Hälfte ausschließlich auf Madagaskar zu finden.
Landgang ohne Bootssteg und Kai
Da spricht vieles dafür, ein solches einmaliges Naturparadies auf einer Schiffstour entlang der 5000 Kilometer langen Küstenlinie von Madagaskar zu entdecken. Ein exklusives Angebot bietet dazu die französische Schifffahrtslinie Ponant mit ihrem Explorer-Schiff „Le Jacques Cartier“.
Der Name des Schiffes deutet – nomen est omen – auch das Programm auf der Route rund um Madagaskar an: Touristen zu Entdeckungsfahrten einzuladen. Ein umfangreiches Vortragsprogramm begleitet die Exkursionen populär-wissenschaftlich.
Auf Grund der geringen
Größe und der maximalen Passagierzahl von 184 kann das Schiff fast überall ankern und seinen Gästen Ausflüge mit Zodiac-Booten anbieten, die überall an der Küste von Madagaskar anlanden können.
Mini-Chamäleons und Lemuren
Erste Station im Norden von Madagaskar ist die idyllisch gelegene 312 Hektar große Insel Nosy Hara. Schon ein paar Dutzend Meter vom Strand entfernt präsentieren sich auf festgelegten Wanderwegen die ersten kleinen Naturwunder der Insel zum Fotografieren: Rot leuchtende Flammenbäume, deren Blüten im Aussehen einer kleinen Flamme ähneln, und die berühmten Baobab-Bäume. Auch eine Madagaskar-Vierstreifennatter und Krabben sind zu beobachten, und dank der Hinweise einheimischer Guides sind die ersten Mini-Chamäleons in der Größe eines Daumennagels mit Mühe im Blattwerk zu erkennen.
Da gilt es schon, genau hinzusehen. Diese Art gibt es nur hier auf Nosy Hara, sie wurde überhaupt erst im Jahr 2007 entdeckt.
Ein Markenzeichen der Nachbarinsel Nosy Komba sind die Macaco-Lemuren oder Mohrenmakis.
Eine kleine Wanderung auf Wegen durch den dichten Urwald wird zu einer großen Show. Die Guides locken die Lemuren mit schrillen Lauten und Bananen. Der Appetit der Halbaffen ist so groß, dass sie sich auch auf den Schultern und den Sonnenhüten der Touristen platzieren, um an die Leckereien zu kommen. Der Urwald bietet weitere Rendezvous mit seinen Bewohnern, mit grünen Leguanen, Strahlenschildkröten, Chamäleons und Schlangen.
Der Weg zu den Lemuren wird von rund einhundertfünfzig Verkaufsständen gesäumt.
Früher war der Fischfang die einzige Einnahmequelle der rund 4000 Bewohner der Insel. Der Wald wurde gerodet, um Feuerholz zum Kochen zu bekommen und Ackerfläche für Feldfrüchte zu schaffen. Heute wird der Urwald bewahrt, die Lemuren wurden zutraulicher, und es kommen die Touristen, vor allem Tagesgäste von Schiffen. Inzwischen gibt es auch kleine Hotels und Pensionen. Rund 2000 Touristen kommen pro Monat vorbei. Viele von ihnen kaufen auch etwas, und wenn es nur die kleine Holzfigur eines Mohrenmakis für 5 Dollar ist.
Die Verkaufsstände bieten neben Schnitzereien, Flechtwaren, Vanillestangen und Gewürzen unter anderem große Tücher und Tischdecken mit geschmackvollen Stickereien an. Auf den ersten Blick scheint es, als ob der Insel-Ort große Wäsche hat. Hinter den großen Stoffflächen verstecken sich die teilweise ärmlichen Behausungen der Einheimischen.
Der steinalte Baobab-Baum in Mahajanga
Selbst eine Großstadt wie Mahajanga mit rund 250.000 Einwohnern und dem zweitgrößten Handelshafen von Madagaskar besitzt keinen Kai für Passagierschiffe. Wir landen mit den Zodiac-Booten an einer kleinen Rampe, gleich neben einer rostigen und überladenen Fähre, auf der Zebu-Rinder transportiert werden. Das berühmte Wahrzeichen der Stadt thront schon auf einer Straßenkreuzung in der Nähe des Hafengeländes. Da steht der dickste und der älteste Baobab-Baum von Madagaskar, wie es heißt, mit einem Durchmesser des Stammes von 12 Metern und einem Umfang von über 21 Metern.
Der Legende nach soll der Baum tausend Jahre alt sein und immer noch wachsen. In früheren Zeiten hielten die Bewohner der Stadt an diesem Baum ihre Versammlungen ab und zu kolonialen Zeiten im 19. Jahrhundert existierte hier auch eine Hinrichtungsstätte.
Über Land zum heiligen Mangatsa-See
Durch die quirlige Stadt und dann 20 Kilometer übers Land führt eine kräftig holprige Fahrt im Jeep auf unbefestigten Sandpisten zum Mangatsa-See, einem Heiligen See.
Über den Heiligen See werden mystische Geschichten erzählt. Die Seelen früherer Sakalava-Könige, der größten ethnischen Gruppe im Norden und Westen Madagaskars, sollen noch heute in den Körpern der zahlreichen Fische im See schwimmen. Deshalb darf er nicht verunreinigt werden, fischen und baden sind auch tabu. Stattdessen kann man die Fische mit Brotkrumen füttern und sich dabei etwas wünschen. Bei religiösen Zeremonien versenken die Gläubigen Opfergaben, darunter jährlich als Opfertier ein Zebu-Rind.
Während die Besucher den See umrunden, haben sie aufmerksame Beobachter. Ein halbes Dutzend Sifaka-Lemuren mit seidigem schwarz-weißem Fell sitzt im Astwerk der ebenfalls heiligen Bäume und lässt sich nicht stören.
Die Lemuren oder Makis sind nur auf Madagaskar beheimatet. Fast alle Arten dieser Primaten sind vom Aussterben bedroht.
rechts: Sifaka Lemur mit Nachwuchs
Auf der Rückfahrt zum Hafen nach Mahajanga kommt ein einheimischer Guide ins Plaudern. Er erzählt mit Empörung über korrupte Politiker in Madagaskar, die die Wahlen fälschen und über raffgierige französische Neokolonialisten, die nach wie vor damit beschäftigt sind, das Land auszubeuten. Madagaskar ist reich an Bodenschätzen und Naturreichtümern, die von ausländischen Konzernen geplündert werden. Unterdessen ist die soziale Lage der Bevölkerung seit vielen Jahren dramatisch schlecht und die Stimmung aufgeheizt. Der Tourismus in dem Land der Naturschönheiten, der Geld und Arbeitsplätze schafft, kann die Situation für die Menschen sicherlich ein wenig verbessern helfen.
Besuch in Belo sur Mer bei den Schiffsbauern
Eine weitere Station auf Madagaskar ist das kleine Küstenstädtchen Belo sur Mer mit immerhin 9.000 Einwohnern, wieder nur erreichbar mit den Zodiac-Booten.
Die Bewohner leben in erster Linie vom Fischfang und vom Mais- und Kartoffelanbau. Hier werden auch die schönsten Dhaus in der Region gefertigt, alles in Handarbeit, so wie schon vor Hunderten von Jahren. Wir besuchen einen Schiffszimmerer, der mit einem Beil ein Holzbrett
bearbeitet und in die Beplankung passgenau einfügt.
Am Ufer liegen einige halbfertige Holzboote. Insgesamt vier Jahre braucht der Schiffsbauer, um ein Boot verkaufsfertig herzustellen.
Der Gang durch den Ort zeigt karge und bescheidene Behausungen, in den Höfen laufen einige Hühner und es wird an offenen Feuerstellen gekocht. Aber auf einigen Schilfdächern sind Solarpanele installiert und es findet sich auch die eine oder andere Satellitenschüssel – ein untrügliches Zeichen, dass die Hütte von Menschen bewohnt ist und nicht nur Vorratskammer oder Hühnerstall ist.
Ein Glas Sekt und Betroffenheit
Unsere Touristengruppe besucht auf dem Rundgang durch Belo sur Mer auch eine Schule und wir dürfen einen Blick in einen Klassenraum werfen. Der Raum ist mit etwa 70 Kindern überfüllt, auf einer Schulbank sitzen vier bis fünf Schulkinder. Viele winken uns freundlich zu.
In Madagaskar gibt es zwar formal eine Schulpflicht, aber selbst die staatlichen Schulen erheben ein Schulgeld. Mit der Einschreibegebühr, Schuluniform und Material kommen 40 bis 50 Dollar im Jahr zusammen. Bei einem Mindestlohn von 40 bis 45 Dollar pro Monat und einem Durchschnittseinkommen von 55 Dollar pro Monat ist es für viele unmöglich, ihre Kinder zur Schule zu schicken. Die Sekundarstufe besuchen nur noch 30% der Kinder. Schätzungsweise 43 Prozent der Kinder im Alter von 5 bis 14 Jahren müssen arbeiten, auf den Feldern, in Haushalten der Reichen oder unter extrem harten Bedingungen im Bergbau.
Auf der Rückfahrt im Zodiac-Boot zum ankernden Ponant-Schiff eine besondere Offerte der Reiseveranstalter: Wir machen halt an einem weiteren Boot, und jeder der zehn Passagiere bekommt ein Glas Orangensaft mit Sekt gereicht. So lässt es sich auch auf schaukelnden Meereswellen gut leben. Aber nach dem Besuch des Küstenortes mit seinen armseligen Hütten bleibt auch ein betroffenes und ohnmächtiges Gefühl zurück. Viele der Touristen spenden in der Schule Geld für Arbeitsmaterialien und Ausrüstung. Sicher nur ein Tropfen auf den heißen Stein, aber zumindest bleibt die Gewissheit, dass das Geld nicht in undurchsichtigen Kanälen von NGOs oder Lobbyisten versickert.
Angesichts der Armut der Bevölkerung wirkt der Aktivismus von Klimaklebern und heimischen Politikern zur Rettung des Weltklimas wie blanker Hohn. Hier stehen ganz andere Aufgaben für die Existenz des täglichen Lebens auf der Tagesordnung: Sauberes Wasser (in den ländlichen Regionen haben nur 36 Prozent der Madagassen Zugang zu Trinkwasser), Beseitigung der Unterernährung, Bildung, Gesundheitsfürsorge, Elektrizität.
20.000 Rikschas als öffentlicher Nahverkehr
Den Abschluss des Entdeckungsprogramms von Madagaskar bildet ein Besuch von Toliara, der Hauptstadt des Südwestens der Insel mit 150.000 Einwohnern. Die Stadt wurde 1895 von einem französischen Architekten mit großen breiten Avenues anlegt. Nach einem Bummel über den Markt steht die Besichtigung des ethnologischen Museums auf dem Programm. In einem baufälligen Haus werden Kunstwerke wie Masken, Schnitzereien und Statuen der Stämme der Vezo, Sakalava und Mahafaly ausgestellt.
Die Stadt-Tour wird fortgesetzt mit Rikschas, hier einem Fahrrad auf drei Rädern mit einem überdachten Sitz für den Fahrgast.
Die Rikschas beherrschen das Straßenbild.
Es soll etwa 20.000 (!) in der Stadt geben, sie sind der wichtigste Teil des öffentlichen Nahverkehrs. Typisch sind die laut quietschenden Bremsen der Fahrzeuge, da braucht es weder Hupe noch Klingel.
Das Ziel der Rikscha-Flotte mit Touristen, die sich durch den Verkehr schlängelt, ist das kleine Ozeanografische Museum. Der Star des Museums ist ein präparierter Quastenflosser,
der vor einigen Jahrzehnten gefangen wurde.
Dieser Fisch gilt als das bekannteste „lebende Fossil“. Seine Vorfahren traten hier, wie man aus fossilen Funden weiß,
vor 350 Millionen Jahren auf und bis vor kurzem nahmen die Wissenschaftler an, dass sie das Massensterben am Ende der Kreidezeit vor 70 Millionen Jahren nicht überlebten.
Paddeln im Indischen Ozean
Die beiden Museen offenbaren die geheimnisvollen und zuweilen mystisch exotischen Welten des „achten Kontinents“ Madagaskar, Eindrücke, die durch Exkursionen in der Umgebung Toliaras noch verstärkt werden.
Da ist der Besuch des Fischerdorfes Sarodrano der Ethnie der Vezosauf einer Halbinsel, die eigentlich eine Düne mit sehr feinem weißen Sand ist. Die Hütten aus Holz, Wellblech und Palmblättern sind weit über die Düne verstreut. Zu jedem Haus gehören mehrere Pirogen mit Segelstangen und Auslegern.
Die Bewohner leben auch heute noch ausschließlich vom Meer. Die Fischer fahren mit ihren Mini-Booten weit auf das Meer hinaus, die Frauen verkaufen die Fische auf dem Markt in Toliara. Wenn Touristen bei ihnen halt machen, pausiert der Fischfang auch schon mal für einen Tag, und die Fischer paddeln mit den Urlaubern um ihre Halbinsel oder zu den nahe gelegenen Mangrovenwäldern.
Keinen mystischen sondern einen ganz praktischen Hintergrund haben die grell bemalten Gesichter einiger Frauen: Die aufgetragene weiß-gelbe Paste ist zugleich Sonnenschutz und Hautpflege-Mittel.
Wüstenwald ohne Schatten
Beispielhaft ist auch der Besuch im Stachelwald „Spiny Desert and Forest“ bei Toliara, einer Buschlandschaft mit endemischer Vegetation, die an das hier vorherrschende trockene Klima hervorragend angepasst ist. Blickfang bei der zweistündigen Wanderung durch einen Wald, der kaum Schatten spendet, sind die Baobab-Bäume.
Manche von ihnen sind hunderte Jahre alt, mit superdicken Stämmen und verwachsenen Ablegern in skurrilen Formen.
rechts: Im Baobab-Wald
Dazu gesellen sich Dutzende anderer ebenfalls endemischer Baumarten wie die säulenförmigen Armleuchterbäume, Euphorbien, der Madagaskar-Korallenbaum und verschiedene Kakteenarten.
Ohne Blätter sehen die Kronen der Baobabs aus wie ein Wurzelgeflecht.
So entstand auch die Legende, dass der Baum vom Teufel verkehrt herum eingepflanzt wurde. Manche Einheimische nennen ihn daher „Baum des Teufels“, für andere ist er dank seines Wasserreservoirs – der Stamm besteht bis zu 80% aus Wasser – der „Baum des Lebens“.
links: Der dickste Baobab im Spiny Forest
Wieder an Bord des Ponant-Schiffes illustriert ein Vortrag die Beobachtungen im Stachelwald und rekapituliert noch einmal das Gesehene. Ponant erfüllt damit auch seinen eigenen Anspruch und vermittelt viele Informationen zu Natur, Land und Leuten. Das Expeditionsteam besteht dafür aus einer guten Mischung von kompetenten lokalen Führern von den Seychellen und aus Madagaskar sowie jungen Naturwissenschaftlern: Meeresbiologen, Wal- und Affenforschern und Botanikern. Als das Schiff während der Überfahrt nach Madagaskar Walen begegnet, ist die Walforscherin ganz in ihrem Element und bestimmt anhand der Fontänen und der Form der Finne die Art: Zwergblauwale.
Und um seinen Gästen einen besseren Blick auf die Wale zu geben, lässt der Kapitän auch schon mal die Maschinen stoppen. Dann fühlt man sich fast wie auf einem Expeditionsschiff.
Fotos: Ronald Keusch
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