Auf Spurensuche entlang der
hinterpommerschen Ostseeküste
Ein Bericht von Peer Schmidt-Walther
200 Kilometer Küstenlinie säumen sie – die historische Region Hinterpommern östlich der Oder im Norden Polens. Sie heißt heute Pomorze Zachodnie/Westpommern und wird im Norden von der Ostsee gesäumt, im Süden durch die Urstromtäler der Notec/Netze und Warta/Warthe begrenzt. Die westpommersche Segelroute besteht aus einem Netz von über 30 Yachthäfen und Anlegern. Die Entfernung zwischen ihnen liegt bei 20 bis 30 Seemeilen. Damit sind immer einige Stunden Fahrt verbunden, wobei man bei aufziehendem Schlechtwetter auch schnell sicheren Unterschlupf finden kann. Die Gewässer sind vielfältig, bieten trainierten und weniger erfahrenen Seglern reichlich Möglichkeiten. Die Marinas sind überwiegend modern, vor kurzem renoviert mit einem guten Dienstleistungsangebot.
Das vor uns liegende Segel-, Surf- und Kitesurf-Revier ist einzigartig: Bis zum Horizont reichen die endlosen Strände mit feinem Sand im Schatten von Kiefernwäldern. Das ist Ostsee-Feeling pur. Je weiter man nach Osten kommt, sind schon von See aus die bizarr aufragenden Kliffs und die vom Wind aufgetürmten mächtigen Sanddünen deutlich auszumachen. Wer dann noch die Chance wahrnehmen kann, in der wenig besuchten Vor- und Nachsaison zu starten, der hat überall gute Karten. Im Hochsommer, wenn Einheimische und Gäste die Strände und Hafenstädtchen geradezu belagern, sollte man es tunlichst vermeiden, hier vor Anker zu gehen. Noch wird die Küste, an der sich die Badeorte aufreihen wie an einer Perlenkette, relativ wenig von Urlaubern aus dem westlichen Ausland angelaufen. Noch, denn die Attraktivität der Standorte und ihrer Umgebung hat sich schon herumgesprochen, zumal die Preise noch relativ günstig sind.
Entweder man kommt mit dem eigenen Boot oder man chartert eins. Wir haben uns am Dammschen See/Jezioro Dabie – hier gibt es allein neun unterschiedliche Marinas – an der Ostseite der Oder/Odra bei Stettin/Szczecin nach einem passenden Segler umgesehen – und sind vorher schon im Internet fündig geworden. Eine Bénéteau 33 mit vier Schlafplätzen sollte es sein. Die war uns schon von früheren Törns her in anderen Revieren vertraut.
Die Marina am Südufer bietet alles, was man braucht, um von hier aus in den Segelurlaub zu starten. Natürlich kann man auch in fast allen Häfen an der westpommerschen Küste chartern, aber für uns lag der Reiz darin, in zwei Wochen (h/z) die gesamte Strecke bis zur Danziger Bucht kennenzulernen, vielleicht auch noch unterwegs zu surfen oder gar mal einen Ritt mit einem Kite zu wagen. Ein alter Wunschtraum und so ähnlich wie einmal im Leben per Tandem-Fallschirm aus einem Flugzeug zu springen.
Eldorado für Wassersportler
Bei einem mäßigen Südwest segeln wir gemütlich an der Mole mit ihrer weißen Windmühle, dem Wahrzeichen Swinemündes, vorbei, winken noch den Badegästen zu und legen dann den Bug auf Nordost-Kurs.
Rechts: Das Vollschiff DAR MLODZIEZY an der Stettiner Hakenterrasse
Immer schon küstenparallel und entsprechend den Tiefenlinien des Navis. An Steuerbord recken sich die großen Hotels des ehemals mondänen Seebads Misdroy/Miedzyzdroje, heute „Sommerhauptstadt Polens“ genannt, in die Höhe. Die bis zu 93 Meter hohe Steilküste des Nationalparks der Halbinsel Wollin mit ihren buchenbestandenen Höhen bildet eine grün-gelbe Kulisse.
Immer am Strand entlang passieren wir weitere Sommerfrischen wie Heidebrink/Miedzwodzie und Berg Dievenow/Dziwnow, wo auch die Dziwnow in die Ostsee mündet. Den Weg peilen wir für die Rückreise an: über den Camminer Bodden/Zaliv Kamenskie auf der Dievenow an Cammin/Kamien Pomorski vorbei – vielleicht mit einem Sightseeing-Stopp in der neuen Marina – bis nach Wollin am Stettiner Haff. Ort und Flusslauf versprechen recht reizvoll zu sein, was wir bisher so auf Fotos gesehen haben.
Nach rund 19 Seemeilen haben wir Berg Dievenow Steuerbord querab. Ein Eldorado für Wassersportler und ideal für Kite- und Windsurfer, Wakeboarder und Seekajakfahrer. Wenn man nichts Eigenes hat, kann man hier die notwendige Ausrüstung auch leihen. Die offene, hindernisfreie Ostsee bietet dazu optimale Bedingungen. Sogar eine Surfschule ist im Ort angesiedelt. Da wir noch am Anfang unseres Törns stehen, ziehen wir dicht unter Land vorbei.
Vor Rewahl/Rewal sichten wir eine die Kirchenruine von Hoff/Trzesacz, oft ein Motiv für den Maler Lionel Feininger, aus dem 15. Jahrhundert hoch oben am Rand des Kliffs. Es ist eine Küstenstrecke, die wie kaum eine andere pausenlos zurückweicht: rund 80 Zentimeter pro Jahr, weil die See sich unerbittlich in die Kliffs frisst. Wo Wellen und Strom abgetragen, wird auch wieder angelandet: Dafür gibt es 18 Kilometer feinsten Sandstrand mit jahrhundertealten Kiefern- und Fichtenwäldern und einem würzigen Duftgemisch von Harz und Salz in der Luft.
Das wird noch ergänzt durch den nostalgischen Kohledampf einer kleinen Schmalspurbahn, die von hier aus fünf Ortschaften verbindet. Elf Seemeilen weiter ist alles verweht und wir passieren Deep/Mrzezyno. Hier mündet die Rega, die Westpommern von in Nord-Südrichtung durchschneidet. An ihr liegen die jahrhundertealten Städte Treptow a.d.R./Trezebiatow und Greifenberg/Gryfice. Wir nehmen uns vor, den Fluss mal von Süd nach Nord per Kajak zu befahren.
Seeluft und Segeln zehren
Jetzt treibt uns der günstige Wind weiter nach Nordosten auf das traditionsreiche Seebad Kolberg/Kolobrzeg zu. 45 Seemeilen haben wir seit Swinemünde auf der Uhr. Zeit, um den Hafen mit der längsten Betonmole Polens anzusteuern.
Im „Lotsenbuch der Westpommerschen Segelroute“, das man vor und währen der Reise unbedingt studieren sollte, zeigt einem hier die genaue Ansteuerung und noch viel mehr. Zum Beispiel, dass so wie jetzt bei Westwind eine starke Querströmung setzt. Also aufpassen an der Pinne und den Schoten! Gastliegeplätze befinden sich links in der Marina Solna. Seeluft zehrt, und auch das Ziehen und Zerren an den Leinen macht hungrig. In der „Morast-Redoute“, eine Festung aus dem 18. Jahrhundert, kann man den Hunger stillen und sich in der „Sailor-Bar“ einen Absacker genehmigen.
Rechts: Piroggen – ein Muss, polnischer Teigtaschen-Genuss
Bevor man am nächsten Vormittag wieder die Leinen losmacht, sollte man einen Rundgang durch den beliebten Kur- und Urlaubsort an der Parseta unternehmen, der auf eine große Geschichte zurückblickt. Die begannt im Jahre 1000, als König Boleslaw Chrobry einen Bischofssitz errichtete, den heute die sehenswerte gotische Marienkirche repräsentiert. Im Zweiten Weltkrieg wurde Kolberg zu 90 Prozent zerstört. Die Altstadt hat deshalb auch nur einen historisierenden Stadtkern. Erhalten geblieben ist das vom preußischen Star-Architekten Karl-Friedrich Schinkel erbaute Rathaus.
Wir stecken den NE-Kurs ab: 45 Grad. Am Ende der 35-Seemeilen-Linie liegt Rügenwalde/Darlowo. Das soll unser nächstes Etappenziel sein. Am berühmten „Vermählungsdenkmal“ (Polen mit dem Meer) und dem Leuchtturm vorbei motoren wir zwischen den Molenköpfen hinaus auf die Ostsee, wo wir Segel setzen und sich das Boot bald im Schwell wiegt. Der Wind hat jetzt auf Südost gedreht, treibt uns aber gut voran. Ein paar Kilometer von der Küste im Binnenland die Industriestadt Köslin/Koszalin. Der hohe Turm ihrer Dom-Kirche aus dem 14. Jahrhundert ragt in den blauen Himmel. Die küstenparallele Strömung hat hier mit dem weiter südlich abgetragenen Sand ein paar Buchten abgeschnürt. Aus Buchten wurde der Jamunder See/Jezioro Jamno, seewärts eine schmale Nehrung, dahinter jetzt ein Haff. Ein paar Meilen weiter der Buckower See/Jezioro Bukowo, der genauso entstand. Wir peilen den Ferienort Rügenwalde/Darlowo, das schon 1270 Stadtrechte erhielt. In der restaurierten Burg aus dem 14. Jahrhundert regierte der pommersche König Erik I., der auch über Dänemark, Schweden und Norwegen herrschte. In der gotischen Pfarrkirche werden in Sarkophagen die pommerschen Fürsten aufbewahrt.
Auf in die Sahara Polens
Voraus das Fischerstädtchen Rügenwaldermünde/Darlowko. Hier laufen wir durch die nur 38 Meter schmale Moleneinfahrt in die Wipper/Wieprza ein. Vorher haben wir noch wie üblich per Funk die Hafenverwaltung informiert. Wir laufen durch einen engen Kanal an einem versunkenen Fischkutter und der Werft vorbei in den Yachthafen ein. Am linken Kanalufer der erneuerte Boulevard mit einer vollen Infrastruktur: zum Einkaufen, Wasser und Sprit bunkern, Essen gehen, Materialergänzung bei Bootsdienstleistern, falls notwendig. Ein Rundgang durch die gut erhaltene mittelalterliche Altstadt sollte man unbedingt einplanen.
Endloser feinsandiger Badestrand an Backbord begleitet uns auch auf dem weiteren Weg, dahinter auch wieder zwei vom Meer abgeschnürte schöne Süßwasserseen. 16 Seemeilen weiter draußen liegt die Stolpe-Bank/Lawica Slupska, wo am 30. Januar die Flüchtlingsschiffe „Wilhelm Gustloff“ und am 10. Februar 1945 die „Steuben“ mit rund 15.000 Menschen an Bord versenkt wurden. Nur Wenige überlebten diese größten Schiffskatastrophen der Menschheitsgeschichte.
Die kleine sehr beliebte Hafen- und Urlaubsstadt Stolpmünde/Ustka lassen wir nach zehn Seemeilen passieren. Noch zu früh, um schon wieder anzulegen. Zwanzig Kilometer landeinwärts liegt Stolp/Slupsk am Flüsschen Stolpe. Mit 100.000 Einwohnern ist sie die größte Stadt und kulturelles Zentrum dieser Küstenregion. Im Reiseführer wird eine lange Liste von Attraktionen aufgeführt: Pfarrkirche, Schloss, Dominikanerkirche, Mühle, Mittelpommersches Museum. Vielleicht machen wir auf dem Rückweg einen Busabstecher dorthin.
Nach rund acht Seemeilen glauben wir, an Steuerbord eine Wüstenlandschaft zu passieren. Bei Röwe/Rowy beginnt der rund 32 Kilometer lange Slowinski Park Narodowy/Slowinzischer Nationalpark. Gewaltige Wanderdünen, stille Moore mit seltenen Pflanzen und Tieren, Auen und vier flache Küstenseen, dazu die sie von der Ostsee trennenden Nehrungen mit wandernden, teils bewaldeten Sanddünen prägen das Bild dieser einmaligen Traumlandschaft, die man am besten zu Fuß erkunden sollte. Dann kann man sich am besten vorstellen, wie es früher mal an der südlichen Ostseeküste ausgesehen haben muss.
Fast 50 Meter hoch ist die Lonzker Düne/Lacka Gora, die jährlich einige Meter nach Osten wandert. Zu NS-Zeiten wurde das Gelände für Tests von V1-Raketen zweckentfremdet. Es war aber auch ein Eldorado für Segelflieger, die die Aufwinde für ihren luftigen Sport nutzten.
Geschichtsträchtiger Zielhafen
Der am Ostrand gelegene Küstenort Leba/Leba war, neben den Slowinzen, einem hier früher heimisch gewesenen slawischen Kaschuben-Stamm, Namenspatron für die „Polnische Sahara“. Hier sollte man unbedingt einen Stopover einlegen. Liegeplätze gibt es in dem modernen Sportboothafen an vier 70-Meter-Schwimmstegen reichlich. Wenn man keine Bordfahrräder dabei hat, kann man welche leihen. Per Bus werden auch Touren angeboten. Es lohnt sich sehr!
Und wer seine Surfbretter oder Kites dabei hat, kann sich hier wie überall entlang der Küste wahrlich austoben. Ein Wassersport-Paradies auch dies.
Der Schiffsverkehr, der sich hier von Westen kommend mit Kurs auf die Danziger Bucht bündelt, wird dichter. Aber wir halten uns noch an der Küste, passieren nach 28 Seemeilen Polens größten Fischereihafen Großendorf/Wladislawowo, der sich hinter hohen Betonwellenbrechern versteckt. Der spröde Charme dieses Ortes ist nicht anziehend, so dass wir auf Südost-Kurs wechseln.
Entlang der mit windgebeugten Kiefern bewachsenen Putziger Nehrung/Polwysep Helska der 34 Kilometer langen Halbinsel Hela/Mierzeja Helska steuern wir allmählich in die Danziger Bucht/Zatoka Gdanska ein.
Dabei drehen wir langsam immer weiter auf Westkurs, bis wir den Leuchtturm/Laterna morska von Hela nach 52 Seemeilen ab Leba Steuerbord querab peilen.
Die Strände sind gerammelt voll, denn viele Einwohner von Danzig/Gdansk und Gedingen /Gdynia kommen per Auto, Schiff oder Bahn her, um hier zu baden, zu sonnen, zu surfen oder sich einfach nur zu entspannen. Das haben auch wir – neben einem Besuch von Danzig – vor, als wir den Endhafen unseres Törns das geschichtsträchtige und schicksalsträchtige Hel/Hela, von wo aus Anfang 1945 Millionen Ostdeutsche mit Handels- und Marineschiffen nach Westen flüchten mussten, ansteuern.
Am Schwimmsteg im modernen Yachthafen zwischen Außen- und Mittelmole machen wir nach knapp einer Woche fest. Und wir resümieren: Diese ideale Segelroute ist noch nicht überlaufen – ein freiheitliches Revier voller Natur, Kultur, Historie und freundlicher Menschen.
INFOS
Charterboote: www.boataround.com
Kitereisen: www.kitereisen.tv
Windsurfen: habenda@windsurfing-habenda.pl
Törnführer (dringend zu empfehlen!): „Lotsenbuch der Westpommerschen Segelroute, Stettiner Haff und Ostseeküste“ (mit Übersichtskarte)
Regionale Infos: „West Pomerania: Eine Region für Dich“
Beide gratis erhältlich: info@zrot.pl; www.zrot.pl
Jörn Heinrich: „Küstenhandbuch Polen und Litauen“, Edition Maritim, Delius Klasing Verlag, ISBN 978-3-898225-685-4