Unterwegs mit Schweizer Bahnen
Nicht weniger berühmt als der Glacier-Express ist der Bernina-Express. Die Bergbahn wurde ebenfalls schon Ende des 19. Jahrhunderts konzipiert und wendet sich zuallererst an die Touristen. Seit 40 Jahren fährt der Bernina-Express, alleinig von der Rhätischen Bahn im Gebirgskanton Graubünden betrieben, durchgängig von Chur bis nach Tirano in Italien. Auf einer Teilstrecke zwischen Reichenau und St. Moritz benutzt er dieselben Gleise wie der Glacierexpress.
„Im Vergleich zum Glacierexpress sind die Wagen kürzer, weil auch die Radien der Kurven auf der Strecke kürzer sind“, erklärt Andrè Brugger von den Rhätischen Bahnen. “Auch die Landschaft ist anders, noch wilder. Die Bahn fährt auch dort, wo keine Straßen, sondern nur noch Wanderwege zu sehen sind, bis 200 Meter höher als der Glacierexpress.“ Und schließlich sei die Gesamtstrecke mit 140 Kilometer Länge kürzer, so dass die Bernina-Route nach Italien und zurück in einem Tagesausflug zu absolvieren sei, übrigens seit 20 Jahren durchgängig in Panoramawagen.
Der Schweiz Tourismus in Berlin und die Rhätische Bahn haben mich mit einer Mitfahrerlaubnis im Führerstand der Bernina-Bahn ausgestattet. Ich steige auf dem Bahnhof von St. Moritz in den ersten Triebwagen, an dessen Spitze sich der Führerstand vom Express befindet und muss mich noch gedulden. Der Bernina kommt aus Chur und muss hier auf dem Kopf-Bahnhof in St. Moritz rangieren. Beim ersten Halt auf der Station Pontresina darf ich ins Allerheiligste nach vorn.
Mit 3000 PS über die Alpen
Der Triebfahrzeugführer heißt Ursin Nett, er ist 40 Jahre alt und fährt seit 13 Jahren Schienenfahrzeuge aller Klassen. Er ist im Engadin aufgewachsen und auch sein Vater und Großvater fuhren Lokomotiven. Alle zwei Jahre darf er ein Mitglied seiner Familie im Führerstand mitnehmen. Im letzten Jahr war sein 13jähriger Sohn Niklas mit dabei. Vielleicht die nächste Generation?
Lokführer Nett, der im ganzen Kanton unterwegs ist, fährt drei bis vier Mal im Monat die berühmte Bernina-Strecke. Und er ist wie auch seine Fahrgäste immer wieder von der Fahrt durch die faszinierende Landschaft begeistert. Sein Triebfahrzeug ABE 8-12 aus der Serie Allegra, gebaut von der Schweizer Traditionsfirma Stadler, kann mit einer Leistung von 2,4 Mega Watt, also knapp 3000 PS aufwarten. Die wird auch benötigt, um seine sieben Wagenpaare über Steigungen bis zu sieben Prozent zu schleppen. Wenn die Strecke zu steil wird, haben die Eisenbahn-Ingenieure, die vor 100 Jahren die Strecke über die Berge bauten, so genannte „Wendeltreppen“ errichtet. Dann fährt der Zug durch Kehrtunnel, um die Steigungen zu schaffen.
Der Gletscher am Abteilfenster
Nur einige Kilometer hinter der Station Pontresina ragen die schroffen Felswände des Piz Albris empor. Weiter geht es durch lichte Lärchenwälder auf die Hochebene von Morteratsch. Nach der Montebello-Kehre öffnet sich der Blick auf den Piz Bernina, den höchsten Berg von Graubünden mit 4049 Metern. Die Bahn steigt weiter, die Waldgrenze liegt bereits hinter ihr, karge Bergwiesen bestimmen jetzt die Landschaft. Noch ein paar Kehren weiter und es breitet sich der Lago Bianco aus, der weiße See. Er nimmt das Schmelz-Wasser von Gletschern auf und hat eine grünlich milchige Färbung. Dann ist der Bahnhof Ospizio Bernina erreicht, mit 2253 Metern der höchste Punkt der Strecke.
Nun geht es wieder abwärts bis in das italienische Tirano. Bei der Route über die Alp Grüm, in immerhin noch 2091 Meter Höhe, ist der Palü-Gletscher auf 3998 Metern scheinbar zum Greifen nah. Dann wieder eine kleine eisenbahntechnische Sensation. Von der Alp Grüm bis Poschiavo muss der Zug 1100 Höhenmeter überwinden, die in Luftlinie nur fünf Kilometer misst. Also folgt wieder Kehre auf Kehre und einige Schleifen.
Unter dem Sonnenschirm in Tirano
Während in Alp Grüm die unmittelbare Umgebung noch aus Gletschern und karger alpiner Vegetation mit rauem Klima besteht, ist nach einer Stunde Fahrzeit Tirano erreicht und alles anders. In dem oberitalienischen Städtchen stehen Palmen, blüht Oleander und der Cafe Latte wird unter dem Sonnenschirm getrunken.
„Es ist schon ein besonderes Gefühl, auf meiner Fahrt auf der Bernina-Linie in nur kurzer Zeit vom aufkommenden Herbst in den Hochsommer zu fahren“, sagt Lokführer Ursin Nett. Und außerdem fahre er gern in den Süden, denn hier gehen es die Menschen ruhiger an, es herrsche eine gemütliche Atmosphäre, es sei anders als im Norden. In Tirano verabschiede ich mich vom Lokführer und beglückwünsche ihn dazu, dass er mehrmals im Monat solche Fahrten erleben darf und auch noch dafür bezahlt wird. Da lächelt er nur und meint augenzwinkernd: “Das ist eben Schicksal, wenn man in einem solchen Feriengebiet arbeitet.“
Centovalli – Bahn der hundert Täler
Ein Markenzeichen für Mobilität in der Schweiz ist seit Mitte der 80er Jahre der so genannte „Direkte Verkehr“. Damit kann der Reisende mit einem einzigen Fahrausweis nahezu alle öffentlichen Verkehrsmittel des Landes nutzen. Ich fahre mit dem Postauto in den Kanton Tessin bis Lugano und dann weiter mit der Schweizer Bundesbahn nach Locarno, die Stadt an der Nordseite des Lago Maggiore. Hier ist der Ausgangspunkt einer weiteren berühmten Eisenbahn – die Centovalli-Bahn. Sie führt in knapp zwei Stunden von Locarno bis zum italienischen Städtchen Domodossola. Die Strecke folgt auf insgesamt 55 Kilometern dem von Ost nach West verlaufenden Centovalli auf Schweizer und dem Valle Vigezzo auf Italienischer Seite. Die Bahn der „Hundert Täler“, wie der Name besagt, wurde ebenso bereits Ende des 19. Jahrhunderts entworfen. Die Schmalspurstrecke durch das schmale wilde Bergtal kann mit jeder Menge Faszinierendem wie auch mit Romantik aufwarten: Tunnel und Wasserfälle, Brücken und tiefe Schluchten. Das beginnt bereits knapp fünf Kilometer von Locarno entfernt, wenn sich bei der Station Ponte Brolla das Tal Centovalli öffnet. Später sind dann bizarre Felsformationen und verästelte Seitenarme mit unzähligen Einschnitten weiterer kleiner Täler zu entdecken.
Je enger das Tal und je tiefer die Schluchten, desto gewagter die Brücken, die Schwindel erregende Ausblicke bieten. Die Bahngleise scheinen an den steilen bewaldeten Hängen hoch über dem Fluss festgeklebt zu sein. An der Station in Camedo wird die Grenze zwischen der Schweiz und Italien erreicht, die heutzutage nur noch auf Landkarten festgeschrieben ist. Nunmehr wechselt der Name des Tals ins italienische Valle Vigezzo. Der geografische Höhepunkt der Reise ist auf 830 Meter Höhe auf der Station des Dörfchens Santa Maria Maggiore erreicht. Nun geht es langsam abwärts, vorbei an hübschen alten Dörfern und auch an verlassenen einzelnen Häusern und Weilern, die in der Landschaft verteilt sind.
Bei Ankunft in dem oberitalienischen Domodossola empfängt die Besucher der Sommer und sie suchen auf der hübschen Piazza des Mercato und in den Gassen der Altstadt den Schatten. Ein Gelato in der Altstadt macht dem Ruf der italienischen Konditoren alle Ehre.
Der Garten inmitten des Lago Maggiore
Zurück in Locarno, dem bella Italia in Helvetia, folge ich einer Empfehlung des Schweizer Eisenbahners Ursin Nett, von der Schiene doch auch einmal aufs Wasser umzusteigen. Eine von vielen Schiffsverbindungen auf dem Lago Maggiore bringt mich zur Insel Brissagio inmitten des Lago Maggiore. Auf der Insel ist ein Botanischer Garten mit vielen kleinen Wegen angelegt. Auf unterschiedliche Ebenen sind exotische Bäume und Pflanzen angepflanzt. Und rundherum beeindruckt mich das tiefdunkle Blau des Lago Maggiore. Die wunderschönen Sichten der Schiffstour auf dem Lago Maggiore – da hat der Eisenbahner Recht – können mit denen der Bergbahnen durchaus konkurrieren.