Sankt Petersburg ist ganz anders als unsere Erinnerung an Leningrad
Wer lange nicht in St. Petersburg war – und bei mir ist das schon ein Vierteljahrhundert her, als die Stadt noch Lenin ehrte, kommt aus dem Staunen nicht heraus. Die Fünf-Millionen-Metropole an der Newa ist bunter, pulsierender, moderner und auffallend jünger geworden. europäischer. Die Stadt hat sich in ihren neuen Vierteln ein modernes Kleid übergezogen und den geschichtsträchtigen Palästen ihren verlorenen Glanz wiedergegeben. Nie habe ich das Blattgold auf der Kuppel der mächtigen Isaac-Kathedrale und den Türmen der Admiralität wie der Peter-Paul-Festung so strahlend empfunden wie bei diesem Besuch.
Aber die Stadt schwelgt nicht in ihrer Geschichte, sie nutzt sie als Impuls eigener Lebensfreude. An sonnenreichen Wochenenden tummeln sich die jungen Leute zu Zehntausenden auf den grünen Parkteppichen wie in Berlin oder Paris, und die geweihten Ufer der „Geburtsinsel“, auf der Peter I. einst den ersten Spatenstich der Stadtgründung in das sumpfige Newa-Delta trieb, ist mit weißen Party-Zelten gesäumt wie bei munteren Volkstreiben.
Der Glockenturm der Peter-Paul-Kathedrale erhebt sich hoch über alle Dächer der Stadt und die 70 Meter breite Flut der Newa als wolle er aller Welt signalisieren: Wenn Ihr Europas Schönste wählt, steh’ ich mit Paris, Rom und Venedig mit auf der Bühne. Die Baukunst führender europäischer Architekten wie Bartolomeo Rastrelli, Andreas Schlüter und anderer hat das Gesicht der Stadt seit ihren Anfängen geprägt. Das wird nach den aufwendigen Renovierungen der letzten Jahrzehnte deutlicher denn je. Es ist, als sei eine in die Jahre gekommene Schönheit durch liebevolle Zuwendung wieder vital geworden.
Dieser Eindruck spiegelt sich auch in den wunderbaren Fassaden der geschichtsträchtigen Paläste rechts und links der Kanäle wider, die sich schnurgerade und in langen Bögen durch die Stadt ziehen. Ausflugsschiffe, Boote und Kähne tuckern und treiben in großer Zahl über Moika, Fontanka und Gribojedow-Kanal und die zahlreichen Nebenarme durch die Geschichte der Stadt. Und zu jedem Palast und Palais – ob Kikin-Palast, Taurisches Palais, Auferstehungskirche – hörst du Geschichten: Zarendramatik, Dichter-Schicksale (Dostojewski!), Kaufmannserinnerungen…
„Vier Quadratkilometer unserer Innenstadt stehen unter Denkmalschutz“, sagt Reiseführerin Tanja. Wie sich in diesem steinernen Herz Geschichte und Gegenwart miteinander verweben können, beweist das alte Schuwalow-Palais an der Fontanka. Das Haus, an das sich frühere Leningrad-Kenner vielleicht noch als „Haus der Freundschaft“ und Ort internationaler Begegnungen erinnern, öffnete nach glanzvoller Renovierung im November 2013 als privat geführtes Fabergé-Museum. Mit dem Geld eines russischen Oligarchen präsentiert es Kunst und Kunsthandwerk in edelstem Interieur. Attraktion des Hauses ist die sich über Auktionen ständig vervollkommnende einzigartige Sammlung jener filigranen Ostereier-Kunstwerke (Fabergé-Eier), die man am Zarenhof als einzigartige Symbole des Frühlings und des Lebens huldvoll entgegennahm. Das neue Kunsthaus präsentiert sich mit einem hoch motivierten und exzellent ausgebildeten jungen Personal, das beeindruckt. Kein Wunder, dass sich das „Fabergé“ in kurzer Zeit auch in die Aufmerksamkeit der internationalen – gegenwärtig vor allem chinesischen und japanischen, – Touristenkarawanen gebracht hat. Die strömen traditionell natürlich in die weltberühmte Eremitage und hinaus vor die Tore der Stadt nach Zarskoje Selo.
Der lang gezogene himmelblaue Katharinenpalast mit seinem legendären Bernsteinzimmer und die weitläufigen umliegenden Paläste und Parks sind St. Petersburgs Muss-Adresse wie Versailles bei einem Besuch in Paris. Über all’ den Zarengeschichten, die auch hier zu hören sind, wird zuweilen beinah vergessen, dass im Zarskoselsker Lyzeum einst Alexander Puschkin seine poetische Lebensbahn begann.
Ja, das Russland der Zaren bestimmt den Redeschwall aller Fremdenführer. Auch Lenins Name, immerhin ein halbes Jahrhundert Namenspatron der Stadt, fällt eher nebenbei, wenn bei einer Stadtrundfahrt sein letztes Denkmal vorüberhuscht. Der Zeitenwandel ist überall zu erleben. Über den Newski-Prospekt und die anderen Magistralen rollen Autokarawane westlicher Prägung. Nur im Ausflugsverkehr am Wochenende sind einzelne grau gewordene Lada’s und zuweilen noch ein einsamer Wolga zu entdecken. Das Hotel- und Gaststättengewerbe wird – zumindest im öffentlich sichtbaren Teil – von jungem, perfekt englisch sprechendem Personal dominiert: Im beeindruckend renovierten historischen First-Class-Haus „Astoria“ ebenso wie im ehemaligen Hotel „Sowjetskaja“, das sich inzwischen als Hotel „Azimut“ Schritt für Schritt in die neue Zeit mausert, übrigens mit einem bemerkenswerten Petersburg-Blick aus seiner modernen „Sky-Bar“.
Im Stadtbild haben überall goldene Engel die roten Sterne verdrängt. „So ist Geschichte“, kommentiert die in die Jahre gekommene, aber noch immer hellwache Tatjana. Ohne, dass sie verschweigt: „ Meine Geschwister und ich haben der Sowjetzeit unsere gute Ausbildung zu verdanken und unsere Stadt die Überwindung der furchtbaren deutschen Blockade vor 70 Jahren.
Aber Geschichte kommt und vergeht…“ Nein, nein, Putin sei nicht der neue russische Zar. Zaren seien ja von Gott bestimmt…
Das wiedererstandene St.Petersburg wird zu Recht im Gleichklang mit den europäischen Stadt-Schönheiten genannt – aber in diesem Unisono mit jenen so unterschiedlichen Metropolen liegt auch die Einzigartigkeit der Newa-Stadt begründet: Angesichts ihrer Brücken, Kanäle, Paläste und reichen Kunstsammlungen kann der Besucher sich zeitgleich in Venedig wie in Paris fühlen. Wenn die Metropole nachts ihre Brücken für die Handelsschiffe und Luxusliner hochzieht, ist es, als wolle sie ihre Gäste mahnen, sich auf ihren Entdeckungstouren durch die Stadt auch einmal Ruhe zu gönnen. Das fällt in den legendär leuchtenden Weißen Nächten natürlich noch schwerer als sonst. Immerhin: Über 400 Brücken kannst du gehen.
Bei der gegenwärtigen Deutschland-Offensive der nationalen russischen Tourismusagentur „Visit Russia“ – die übrigens nun auch eine Adresse in Berlin hat – steht St. Petersburg neben Moskau, Kazan und Sotschi auf der Top-Präsentationsliste. Im vergangenen Jahr zählte Russlands Tourismus insgesamt 350 000 touristische Ankünfte aus Deutschland; die Schweiz folgte mit 27 000, Österreich mit 23 000. Da ist noch Luft nach oben. Allerdings muss sich ein EU- Reisender erst einmal daran gewöhnen, wieder ein Visum beantragen zu müssen. Aber was unternimmt ein Mann nicht alles, um eine vital gewordene Schönheit zu umarmen…
Reisebericht aus Weliki Nowgorod von Hans-Gert Schubert