MIT TUNDRALAND INS OSTSEE-EIS

Frostiges Highlight für hartgesottene Individualisten

Die aktuelle Internet-Eislagekarte zeigt Rot:  d a s  Aufbruchsignal für Fans lautstarker Seefahrt durch die Bottenvik. Wenn der äußerste Nordzipfel der Ostsee alljährlich für mehrere Monate zufriert, müssen sich Frachter krachend zu ihren Bestimmungshäfen in Schweden und Finnland durchboxen. Entgegen jeder Klimahysterie.

Aus dem Nebel schiebt sich verschwommen ein riesiges schwarzes Viereck an den Lübecker Nordlandkai. Die graue Trave wird durch quirlendes Schraubenwasser braun aufgemischt. Leinen fliegen an Land, die Gangway schwebt herab. „Tundraland“ stellt sich der RoRo-Frachter vor. Die schwarze Klappe entpuppt sich als 26 Meter breite Heckrampe.
„Bis 22 Uhr müssen wir auslaufklar sein“, sagt Erster Offizier Jörgen, als wir uns im Schiffsbüro melden, über dem ein Schild mit der Aufschrift „Kreml“ hängt. Schließlich fahre man wie die beiden Schwesterschiffe nach einem festen Fahrplan.
Mit nur 5,5 Knoten Schleichfahrt tastet sich der fast 200 Meter lange Koloss nachts den schleswig-holsteinisch-mecklenburgischen Grenzfluss abwärts. Das Schauspiel kann man auf der jederzeit offenen Brücke hautnah miterleben.

Quark oder was?

Die Ansteuerungsschäre von Göteborg

Am übernächsten Vormittag, nachdem zunächst ein Zwischenstopp in Göteborg eingelegt worden ist, nördlich der Aalands-Inseln: gleißende Sonne, Minusgrade, aber immer noch kein Eis. „Das bekommen wir bald zur Genüge“, grinst Kapitän Kristian, „kann ich euch hundertprozentig garantieren“. Unablässig schweift sein Fernglas-Blick über die trügerisch glitzernde See.

„Seht mal, an Steuerbord treibt die erste Scholle – das ist erst der Anfang, bald hat uns auch das Festeis im Griff“.

Voraus reflektiert eine weiße Fläche gegen den grauen Himmel. Wir stehen im Gebiet von Norra Kvarken, der zweiten Engstelle zwischen Schweden und Finnland. Klingt wie „Quark“, und der Eisschlamm passt auch irgendwie dazu; er wiegt sich in den Ostsee-Wellen. Doch schon bald wird die Piste rauer. Schollen reiben sich knirschend, berstend und reißend an der Bordwand, schieben sich übereinander, bäumen sich auf, versinken und schließen sich hinter uns wieder zu einer Fläche.
„Wie Kopfsteinpflaster“ findet Zweiter Offizier Olav. Die Grünpflanzen auf der weitläufigen Brücke zittern wie Espenlaub, in der Messe klirrt wie zur Bestätigung das Geschirr.
Die beiden 12.000-PS-Maschinen, umweltfreundlich mit stickoxidreduzierendem Katalysator und schwefelarmem Schweröl betrieben, wummern jetzt mit voller Kraft. Chief-Ingenieur Lennart kennt den Durst seiner „Pferde“: „Bis zu 80 Tonnen Sprit saufen die in 24 Stunden.“
„Tundraland“ lässt sich vom Eis nur leicht abbremsen. Statt 17 Knoten wie im freien Wasser fällt sie ab auf zwölf. Den Frachter mit der höchsten finnisch-schwedischen Eisklasse 1 A Super ficht das nicht an.

Sauna mit Eistheater

Gekonnt manövriert Kapitän Kristian seinen „Papiertiger“ durch das verschlungene Labyrinth. Für seine Offiziere hat er eigene Anweisungen entworfen, die an den Fahrstand geheftet sind, zum Beispiel: „Wenn du steckenbleibst, sofort den Kapitän rufen!“ 
Matt leuchtet karges Grün im winterlich müden Licht an den fernen Küsten. Der finnische Großeisbrecher „Sisu“ bleibt arbeitslos. Er wartet auf schwächere Kunden.
Chief Lennart heizt mächtig ein – zur Abwechslung mit duftenden Fichtennadel-Aufgüssen in der finnischen Sauna, während nur wenige Zentimeter entfernt bedrohlich Eisschollen gegen die Bordwand donnern. Eine ohrenbetäubende heiß-kalte Hölle.

Am dritten Tag in aller Frühe: Festmachen nach 76 Stunden in Kemi. Das liegt in Finnisch-Lappland, auf 65 Grad Nord, knapp unterhalb des Polarkreises. An Backbord und Steuerbord glänzen kahlgeschliffene, überpuderte Felsinseln vor der tief verschneiten Waldkulisse. Rohstoff für die Papierherstellung. In den offenen Lagerhallen türmen sich riesige Rollen-Stapel und warten auf ihre Verschiffung. 

Das bis zu 50 Zentimeter dick zugefrorene Schärenmeer, über das Motorscooter und sogar Autos schneestiebend fegen, lockt zum Spaziergang, denn in die Stadt ist es zu weit.

Wasser-Eisfontänen-Gemisch

Finnischer KONTIO mit Konvoi im Abendlicht

Auslaufen bei mittäglich schummrigem Polarlicht. Ohne den 33.000-PS-Eisbrecher „Kontio“. Der Kraftmeier, auf Warteposition vor dem Papierhafen, kennt seine Pappenheimer. „Manchmal“, berichtet Erster Offizier Jörgen nicht ohne Stolz, „bitten die uns sogar um Amtshilfe, wenn sie keine Zeit haben. Da fahren wir dann als Hilfseisbrecher vornweg“.

Stukend arbeitet sich das Schiff Meter für Meter in der eigenen, aber längst wieder geschlossenen Rinne voran. Mit „Voll voraus!“ legt sich „Tundraland“ bebend ins Geschirr. Sie rüttelt und schlägt wie eine schlingernde Straßenbahn in ausgefahrenen Gleisen. Wasser-Eis-Fontänen explodieren unter dem Anprall und werden meterhoch geschleudert. Nicht mehr lange, dann herrscht eisige Stille. Festgefahren in einer engen Fahrwasserkurve. „Mit so einem langen Schiff“, erklärt Kapitän und Ski-Fan Kristian, „kann man nicht einfach durchs Eis wedeln, da gibt´s zu viel seitlichen Widerstand“. Spricht´s und schiebt den blau-weißen Riesen sanft rückwärts, nimmt Anlauf und dreht das Schiff mit zwei Fingern über den Joystick nach Steuerbord.

Unter der Vieltausendtonnen-Wucht reißt die weiße Decke krachend auf und lässt grün-schwarzes Wasser aufs Eis sprudeln.

Hin und wieder nutzt das eine Robbe zum schnellen Abtauchen. In der Ferne zieht eine Kolonne Elche ungerührt übers Eis.

Waagerecht heransegelnde Schneeflocken und Dunkelheit nehmen vollends die Sicht. Drei Scheinwerfer bohren sich zitternd in die weiß gesprenkelte Finsternis und hellen die polare Szenerie auf. Wegweiser in der gebrochenen und wieder gefrorenen Rinne. „Bei zu viel Minusgraden backt das wieder zusammen, manchmal ist das schlimmer als vorher“, weiß Kristian aus langjähriger Eis-Erfahrung, „dann fordern sogar wir einen Eisbrecher an“.

Polterabend bei Nordlicht

Drei Stunden später. Weithin sichtbar wehen die Dampfschwaden der unersättlichen Papierfabrik – wahre Holzgebirge umzingeln sie, wie man später sieht – von Oulu über den Horizont. In der Nokia-Stadt, sie liegt 55 Seemeilen weiter südöstlich von Kemi, werden Laderäume und offenes Wetterdeck bis auf den letzten Stellplatz vollgestopft. Auch bei heftigem Schneetreiben.

Die Zeit reicht sogar für einen Stadtbummel. Beim Rückmarsch durch tief verschneiten finnischen Birkenwald wabern verheißungsvoll zartgrüne Nordlicht-Schleier über den Himmel. Polar-Romantik pur.

Irgendwann, spät nachts, ist die maximale Zuladungsmenge von 13.000 Tonnen erreicht. Die Stora-Enso-Spezialboxen sind zwar „nur“ mit Papier beladen, aber bis zu unglaublichen 90 Tonnen schwer. Im Pendelverkehr stillen die drei „Land“-Schiffe damit dreimal wöchentlich einen Teil des weltweiten Papierhungers. 21 Millionen Tonnen Papier werden allein in Deutschland jährlich verbraucht, die Hälfte davon muss importiert werden. Viele Zeitungen und Zeitschriften profitieren von der „Tundraland“-Fracht.

Schwedischer Großeisbrecher FREJ unterwegs in der Bottenvik

Noch einmal „Polterabend“.

Bis zwei Tage später die Lübecker Bucht den Frachter wieder empfängt, diesmal mit pottendickem Nebel.

Zeit, um Abschied zu nehmen von den freundlichen Eisfahrern.
„Ice is nice!“ finden wir nach acht Tagen Eis-Abenteuer und sind um 2500 erlebnis- und erfahrungsstarke Seemeilen reicher.

Fotos: Dr. Peer Schmidt-Walther

Infos:
Um ein eisiges Abenteuer zu erleben, muss man nicht unbedingt in die Arktis oder Antarktis reisen. Auch die Ostsee bietet derartige Erlebnisse – sozusagen vor der Haustür.
Für eine Eisfahrt wie die beschriebene – Abweichungen von der Route sind möglich – eignen sich am besten die Monate Januar bis April, je nach Eisverhältnissen. Aktuelle Infos (u.a. Eisstärke, Eisbrecher-Positionen, Eisentwicklung) unter: www.baltice.org
www.zylmann.de

MS „Tundraland“ (Schwesterschiffe „Thuleland“, „Tavastaland“):Bauwerft:  Baujahr: 2005 (Schiffskörper in Danzig, Polen), 2007 Endausbau Aker Yards, Raum, Finnland; Typ: RoRo-Frachter; 26.188 tdw; Länge: 190,8 m; Breite: 26,44 m; Tiefgang (max.): 7,80 m; 2 Maschinen je 12.069 PS) MAN B&W mit stickoxid- und schwefelreduzierter Katalysatortechnik; Geschwindigkeit (max.) 21 kn; 1 Verstellpropeller (Durchmesser: 5,5 m), 2 Bug- (je 1072 PS), 1 Heckstrahlruder (1072 PS); Bunkerkapazität: 800 t schwefelarmes (1 %) Schweröl; Stromversorgung im Hafen: umweltfreundlich durch Landstrom; höchste Eisklasse 1 A Super (bis 80 cm Eisdicke); Crew (12): schwedisch, philippinisch, Bordsprache: Englisch; Flagge: Schweden; Heimathafen: Skärhamn; Passagiere: 4 (max.) in 2 Kabinen: Schreibecke, Hocker, 2 Doppelstockbetten, Bad (Du/WC), Kühlschrank, Kleiderschrank, Schubfächer, TV, Radio, CD, DVD, Internetanschluss über USB-Kabel; 2 Aufenthaltsräume mit Großbildschirm-TV, 1 Internet-Café (alles gebührenfrei), Sauna, Fitnessraum; 3 Mahlzeiten (07.30, 12, 17 Uhr) mit Softdrinks (gefüllter Kühlschrank, Milch, Säfte, Kaffee, Tee sind immer verfügbar); Brücke jederzeit offen, Maschine nach Absprache mit Chief-Ingenieur; Charterer: STORA ENSO, einer der größten Papierkonzerne der Welt; Eigner:  SOL, Schweden