Die wohl ungewöhnlichste Anreise auf dem Führerstand des Sonderzuges „25 Jahre Mecklenburg-Vorpommern“
Das Signal springt auf Grün. „Ausfahrt frei!“, ruft der Lokführer seinem Heizer zu. Ein kurzer Pfiff und der 175-Tonnen-Koloss zieht an, eine Schlange von acht DR-Reisezugwaggons am Haken. Das 342-Tonnen-Gewicht ist kein Problem für die 1980-PS-Maschine. Dicke Dampfschwaden umhüllen die Zuschauer des Spektakels auf dem Bahnsteig der Hansestadt Stralsund.
An diesem 28. November haben der Lokschuppen Pomerania e.V., die Stadt Pasewalk und die Stadt Stralsund mit Unterstützung des Landes MV diese Dampfsonderzugfahrt organisiert anlässlich des 25jährigen Jubiläums der Deutschen Einheit und des Jubiläums „25 Jahre Mecklenburg-Vorpommern – Wir im Land zum Leben“. Zwischen Ankunft und Abfahrt haben die Passagiere Zeit gehabt, die Hansestadt bei erstem winterlichen Schneetreiben zu erkunden.
Zuvor wurden sie von Stralsunds Oberbürgermeister Dr. Alexander Badrow und seiner Pasewalker Kollegin Sandra Nachtweih begrüßt. Die Prohner „Hafengang“ stimmte die Gäste mit Shantys stimmungsvoll auf die Meer- und Hafenstadt ein.
Mit geübten Griffen an Regler und Steuerung beschleunigte der Lokführer nach der Ausfahrt die 24 Meter lange 03 2155. 298 Exemplare dieser Schnellzugdampflok-Baureihe wurden von 1930 bis 1938 gebaut. Unsere Lok enstand 1934, wurde 2012 komplett wieder aufgearbeitet und ist seitdem in Nossen stationiert.
Im Schein der Flammen
Plötzlich quietschen unterwegs die Bremsen. „Da hat ein Hase quer auf den Gleisen gelegen“, meint der Lokführer augenzwinkernd. Der Heizer nutzt die kurze Pause im Wald und schleudert ein paar Schaufeln oberschlesische Steinkohle in die weißglühende Feuerbuchse. Zehn Tonnen, die für etwa 400 bis 500 Kilometer reichen, lagern auf dem Tender. Im Schein der lodernden Flammen sieht man, dass dem Mann der Schweiß über‘s Gesicht rinnt. Ein Hobby für ihn, der sonst S-Bahn-Züge in Berlin lenkt.
Was hier zum Vergnügen von Eisenbahnfans aus ganz Deutschland abrollt, war bis zum 31. Mai 1980 harter Arbeitsalltag für das Lokpersonal. „Damals zog die Stralsunder Lok 03 1010 zum letzten Mal den D 914 von Berlin nach Stralsund“, erinnert sich ein alter Lokführer wehmütig an das historische Datum. Aus alter Anhänglichkeit fahren er und seine Ex-Kollegen auch gern mal wieder mit. Jahrzehntelang war der Führerstand ihre Welt. „Eine Zeit, die wir nicht missen möchte“, meint er, „trotz aller Härten“.
Treibstangen fliegen
Durch Motorradbrillen und Pudelmützen vor Rußteilchen geschützt, hängen die Freaks aus den Fenstern. „Mir wolln de Fohrt hautnah ärläben“, meint einer aus Aue in breitestem Sächsisch. Dutzende Videokameras sind in Aktion, Fotoapparate klicken und Rekorder zeichnen den markanten Sound der Auspuffschläge auf, die besonders eindrucksvoll unter Brücken zwischen Häuserwänden hallen. Andere Lokfans haben sich mit ihrer Aufnahmetechnik neben der Strecke postiert. Kaum ist der Zug vorbei gerauscht, sieht man sie zu ihren Autos flitzen, um den nächsten attraktiven Standort anzusteuern. Manche geben Handzeichen, die auf dem Führerstand richtig verstanden werden.
Der Lokführer lässt zu ihrer Freude die Dampfpfeife aufheulen. Andere jagen streckenweise nebenher, lassen die Partner lenken, um von der Fahrerseite aus besser filmen zu können.
Mit Tempo neunzig stampft 03 2155 dahin. Kräftig. Die Treibstangen lassen die zwei Meter-Treibräder nur so fliegen: durch Wälder, Felder und Weiden. Ein paar Pferde galoppieren neugierig heran. „Woanders laufen die weg vor uns“, grinst der Lokführer, „aber hier ist anscheinend manches anders“. Während sich auf der Straße nebenan die Blechkolonnen stauen, wird 03 2155 durch eine Schienenbaustelle abgebremst.
Jugendtraum erfüllt
Bis die Kulisse von Anklam in Sicht kommt, verweht von Dampfschwaden. Unter uns poltert die Peene-Brücke. Das ungewöhnliche Donnergrollen ist sicher bis in die Stadt zu hören.
Begrüßung durch Menschentrauben auf dem Bahnhof. Ein ganz besonderer Duft liegt in der Luft. Kinderaugen staunen. Viele kleine Hände winken zum Abschied. „Gute Fahrt!“ wird uns nachgerufen. In Greifswald, Prenzlau und Pasewalk die gleichen Szenen. Historische Momente unter Dampfwolken.
Wieder ist „V max“ angesagt, sprich: volle Fahrt! Die schwarze „Lady“ 03 2155 will zeigen, was noch in ihr steckt. Oberleitungsmasten neben der Strecke sausen vorbei. Die Männer ziehen ihre speckigen Mützen ins Gesicht. Schließlich zittert die Tachonadel bei 120 Kilometern pro Stunde, 130 Sachen könnte sie. Locker hängt sie Autos ab und läuft nach vier Stunden planmäßig in Berlin-Gesundbrunnen ein, pünktlich zum Beginn des Touristischen Branchentreffs anlässlich 25 Jahre Reisejournalisten-Vereinigung CTOUR Berlin im ABACUS-Tierpark-Hotel.
Für mich ist „ganz nebenbei“ ein Jugendtraum in Erfüllung gegangen: einmal auf dem Führerstand einer Schnellzuglok mitgefahren zu sein.