AUF DEN SPUREN EINES WELTREISENDEN APOTHEKERS

Ein Mountainbiking-Märchen aus Mährisch-Schlesien

Leo Walotek-Scheidegger lebt seit über 20 Jahren mit seiner Familie in der Region Mährisch-Schlesien, erst auf der polnischen, jetzt auf der tschechischen Seite. Er ist fast ständig mit seinem Mountainbike unterwegs und schreibt darüber Geschichten. Die folgende stammt aus dem zeitigen Frühjahr, noch vor Beginn der Corona-Pandemie (leicht gekürzt).

– Wie machst du es, Papa, fragte einmal eine meiner Zwillingstöchter, dass deine Arbeit immer spannend bleibt? Hm, dachte ich, sind die Vorstellungen eines Kindes nicht wunderschön?
– Augen offen halten, erwiderte ich nach einer kurzen Überlegung, manchmal stehst du an einem Abzweig, der keinen reizt. Aber warum hast du grad an diesen Stellen angehalten? Ist es vielleicht deine innere Stimme? Ohren hören sie nicht, doch dein Herz schon.
Wirklich? Erzähl doch bitte mehr! – baten sie mich.

Eines Tages peilte ich auf dem Bike den Kuttenberg an, den südlichsten Gipfel meines  Tals.
Zwar stand ich schon auf ihm, doch von der anderen Seite kommend. Dieses Mal plane ich über zwei benachbarte Berge zu fahren und anschließend ins Schweinebachtal einen Downhill zu absolvieren. Schweinebach mündet im Petersbach, der wiederum 16 km weiter durch Hotzenplotz fließt, die heutige Osoblaha – richtig, dieser Ort gab den Vornamen Otfried Preußlers berühmten Räuber. Mährisch-Schlesien pure.
Die Gratlinie um das gesamte Tal wäre damit abgeschlossen.

Der Uphill ähnelt klassischem Jogging in den Bergen. Stetig aufsteigend; langsam was Bewegung und dennoch rasch, was Höhenmeterzahl angeht. Irgendwann bog ich auf einen steilen, schmalen Pfad, der zum Gipfel führte. An dem Punkt wurde umgesattelt, das Bike machte es sich bequem auf meinen Schultern. Wir sind ein eingespieltes Team, ich maule nicht, obwohl seine „Rippen“ durchaus hier und da drücken. Halbe Stunde später war es so weit. Vom hiesigen Pass aus ließ es sich weiter zum Gipfel fahren. Es blieb weiterhin abenteuerlich. Die Strecke wurde noch vor kurzem von Harvestern befahren, man musste durchaus Untergrund im Auge behalten. Aber auch Sturmholz, sowohl Windwurf wie Windbruch verbarrikadierten immer wieder den Weg. Hindernisstrecke par excellence.

Als ich den Gipfel hinter mir hatte und bereits in die Mulde des nächsten Passes abfahren wollte, hielt ich kurz an. Einige Aufnahmen von dort aus lohnen sich immer. An dem Abend war der Mond schon recht hoch, doch es war immer noch hell. Das im Osten liegende Tal ist eine Prise wilder und einsamer als das meine. Aus dieser Perspektive betrachtete ich es zum ersten Mal.

Und siehe da, etwas fiel mir sofort auf. Höchstens zwei hundert Meter weiter unten schien in der Wiese ein Kreuz zu stehen. Hier gab es keinen Friedhof, dessen war ich mir sicher. Zwar benutze ich unterwegs in dieser Gegend keine Karte mehr, doch studiere ich sie immer wieder zu Hause. Ich konnte mich an kein Sonderzeichen an dieser Stelle erinnern. Runter fahren bedeutete in diesem Augenblick, das lockende Downhill links liegen zu lassen und danach wieder das Tragen des Bikes. Doch meine Neugier war geweckt. Die Form des Kreuzes sagte deutlich, es stehe dort einsam schon länger. Nichts wie hin.

Jedes Mal, wenn ich an die damalige Ankunft an diesem magischen Ort denke, kommt ein warmes Gefühl hoch. Ich las die Inschrift.
Dr. Convall Spatzier, ein Apotheker aus Jägerndorf, starb plötzlich im Mai des Jahres 1903 an dieser Stelle. Was machte er hier? Und wer waren die Frauen, die die Kreuz-Inschrift mit so viel sagenden, liebevollen aber auch bescheidenen Worten unterschrieben. „Gewidmet von seinen tieftrauernden Schwestern“.

Ich war berührt.

In jeder Ortschaft hier stehen zwar die Kirchen halbwegs mithilfe der EU-Gelder vom tschechischen Staat renoviert, doch leer. Schon seit den Hussitenkriegen stehen die Tschechien der römischkatolischen Kirche skeptisch gegenüber. Doch die in den 60er Jahren planierten Kirchenfriedhöfe erzählen eine ganz andere Geschichte. Diese hatte einen rein geopolitischen Hintergrund. Die früheren Spuren auszuradieren. Nur einzeln sind hier und da noch deutsche Gräber vorhanden, selbst dann meistens beschädigt.

Und da stand ich plötzlich vor diesem Kreuz aus Stein, der mir eine ganze Geschichte zu erzählen vermochte. Der wie durch Zufall alle Stürme der 20. Jahrhunderts überdauerte.
Beinahe zärtlich berührte ich den Stein, als handelte sich um ein längst verschollenes Familienmitglied, dessen letztes Zeichen ich endlich fand.

Irgendwie war es schwer, sich von diesem Ort zu trennen. Ich stand noch eine Weile hier, untersuchte die Umgebung; fand die Reste eines morschen Holzzauns, auch Spuren eines gefällten Baumes, der nur knapp das Kreuz verfehlte. Vor drei Jahren stand hier noch ein dichter Wald. Harvester haben auch hier ihren Job erledigt. Ich war echt froh, das Kreuz überstand das neuste Abenteuer.
Die Fahrt zurück hab ich nicht mehr im Kopf. Es war steil, das schon, aber für einen Biker wichtige Details nahm ich erst bei späteren Abfahrten wahr. Doch damals drehte sich alles in meinem Kopf nur noch um Convall und seine Schwestern.

Die Recherche gestaltete sich schwierig. Die meisten Quellen sind extrem schwer zu finden, online nur auf Tschechisch – das ich nicht spreche – und entsprechend grade gebogen. Sprich, Jägerndorf ist nur als Krnov erwähnt, alle anderen Namen neueren Datums und auch einige Familiennamen wurden oft genug phonetisch umgeschrieben. Das erleichtert nicht grade den Job. Aber ich blieb hartnäckig.

Dr. Convall Spatzier wurde am 6. Januar 1847 geboren. Auch sein Vater, Johann Spatzier, war Apotheker. Bereits 1826 erwarb er an der Universität Wien seinen Abschluss. Er beteiligte sich aktiv an der Bekämpfung der Cholera, wodurch er zum Ehrenmitglied des Apotheker-Verbandes in Norddeutschland berufen wurde. Da er sich für viele Themen interessierte, baute er leidenschaftlich mineralogische, entomologische und zoologische Sammlungen auf, die er gerne Interessenten zur Verfügung stellte. In den 1880 Jahren finanzierte er in Jägerndorfer Umgebung erste Ausgrabungsarbeiten und publizierte darüber.

Convall trat in die Fußstapfen seines Vaters. Er besuchte Gymnasien in Troppau und Böhmisch Trübau, wo er sehr positiv auffiel. Auf Anraten des Vaters ging er danach in die Wiener Neustadt, wo er bei wichtigen Apothekern seine ersten Erfahrungen sammelte. Später schrieb er sich an der Wiener Universität ein um, wie schon Johann vor ihm, Pharmazie zu studieren. Nach dem Studium praktizierte er noch einige Zeit in Wien, danach kehrte er nach Jägerndorf zurück. 1883, nach dem Tod seines Vaters, übernahm er die Familienapotheke.  
Convall war dennoch auch an anderen Themen interessiert. Sammlungen seines Vaters erweiterte er so umfangreich, dass diese aus vom „Schulschrank“ zu namhaften Ausstellungen wurden. Er katalogisierte alle Objekte, teilte sie sachgemäß auf, was zur Gründung des Jägerndorfer Museums am 25. März 1895 führte. Da er äußerst neugierig und der Welt aufgeschlossen war, gleichzeitig an den Ausbau des Museums dachte, trat er von der Präsidentschaft des Museums zurück und ging über zur Planung einer größeren Expedition.

1898 befand er sich bereits im Reich der Mitte. Zu diesem Zeitpunkt nahm in China die Bewegung des sogenannten Boxeraufstandes Anlauf, einer sozialen Bewegung als Reaktion auf die koloniale Krisenstimmung in China Ende des 19. Jahrhunderts. Gewalttätige Auseinandersetzungen wurden zur Bedrohung für alle Ausländer. Für Convall wurde es zuerst brenzlig, doch er galt – womöglich Aufgrund der Richtung seiner Anreise – als Russe. Somit nahm man ihn nicht als „übers Meer angekommenen“ Ausländer wahr. Briten und Franzosen wurden gerade nach dem Zweiten Opiumkrieg äußerst unpopulär. Trotz der gespannten Lage knüpfte Spatzier Junior viele Kontakte und Freundschaften an und kehrte aus China mit reichen Gaben zurück. Eine große Anzahl handwerklicher wie kunsthistorischer Exponate bereicherte sein Museum.
Die von Convall mitgebrachte umfangreiche Sammlung alten chinesischen Porzellans wurde für so wertvoll erachtet, dass sie 1950, mit vielen anderen Spatzier-Exponaten von Prager Museen übernommen wurde. Leider führte die damit verbundene Umstrukturierung zum Niedergang des Jägerndorfer Museums, das Ende der 60er Jahre, sicherlich gewollt, fast unterging.

Convall Spazier unternahm weitere Reisen, unter anderem hielt er sich länger in den Vereinigten Staaten von Amerika auf. Eine Zeitlang verbrachte er als gern gesehener Gast im Hause des Erfinders Thomas Alva Edison, mit dem er sich anfreundete. Edisons Begeisterung fürs elektrische Licht steckte Convall an. Als Gemeinderat brachte er die damit verbundenen Vorteile nach seiner Rückkehr zur Sprache. So kam Jägerndorf kurze Zeit später zur elektrischen Straßenbeleuchtung.
Welche Ideen wollte dieser außergewöhnliche Mann im Laufe seines Lebens noch verwirklichen? Ob er sich fürs Biken begeistern würde, bleibt in den Sternen – aber er war auch leidenschaftlicher Wanderer. 115 Jahre vor mir, am 21. Mai 1903 stieg er vom Kuttenberg ins Tal. Unweit des Gipfels erlag er einem Herzversagen. Seine Schwestern, über die ich leider nichts herausfinden konnte, „kartographierten“ diese Stelle für die Nachwelt mit dem Gedenkkreuz. Er wurde in Jägerndorf begraben.

In den 70er Jahren wurde das Kreuz bei Holzrodung von einem Traktor umgeworfen. Es lag bis 1998 vergessen im Gras, als eine Gruppe um Forstwirt Frantisek Sosik und seinen Bekannten Jiri Formanek es renovierten und wieder aufstellen ließ. Mit dabei waren auch Schüller der Sekundarschule für Forstwirtschaft in Hranice (Mährisch Weißkirchen).    

Als ich meinen Töchtern die Geschichte übers Entdecken des Convall-Kreuzes und seines Lebens zu Ende erzähle, glänzten ihre Augen. Ein paar Tage später kamen sie auf mich zu.
-Papa, lass uns doch Herrn Convall und seine Schwestern besuchen gehen. Ich nickte. Wir waren mittlerweile einige Male dort oben.
Mountainbiking kann, muss aber nicht unbedingt zum simplen Fachidioten-Zeitvertreib werden. Haltet auf jedem Trail die Augen auf. Das Salz der Erde ist immer abseits zu finden.

PS. Sollte jemand unter den Lesern mehr Informationen über Convall Spatzier haben, gar eine Publikation seiner Feder, bin ich für eine Nachricht schon jetzt im Voraus zutiefst verbunden.

Leo Walotek-Scheidegger
everyday-journey.com