CTOUR on Tour: Livigno – Italiens zauberhafte Bergregion

Die Fahrt durch den graugerußten, wie ein Kapellendach spitz zulaufenden, 3385 Meter langen Munt La Schera-Tunnel , der nur für bis 2,5 Meter breite Fahrzeuge zugelassenen ist, vermittelt einen Hauch von Nostalgie und Spannung. Ein Fahrgefühl, als würde man in eine verborgene, verwunschene Welt geschleust.

 Typisches Wohnhaus
Typisches Wohnhaus

Und in der Tat, man wird am Ende mit einer der zauberhaftesten Bergregionen Italiens überrascht. Bis 1951war der heute 6400 Einwohner zählende Ort sechs Monate von der Außenwelt komplett abgeschnitten. Die Pfade über die dreitausend Meter hohen schneeverwehten Gipfel in die angrenzende Schweiz, waren selbst für Bergführer kaum zu überwinden.

Munt La Schera-Tunnel
Munt La Schera-Tunnel

Man nannte die Enklave liebevoll „das kleine Tibet“

Luggi Bormolini, heute an die achtzig, erinnert sich an seine Lederschuhe mit Eisennägeln, die er als recht funktionstüchtig empfand. Wenn die brüchigen Ledersohlen aus Armutsgründen durch eine harte Holzsohle ersetzt wurden, war es aus mit Komfort. Die Lodenstoffe erzeugte man im Dorf. Oder besser gesagt, es gab nur den einen Stoff in braun/beige, so wie ihn die Schafe hergaben. Die Schnitte waren für alle gleich. Knickerbocker-Hosen und ein fülliges Jackett. Mit weitem Rücken für Bewegungsfreiheit. Die Knöpfe wurden an den langen Winterabenden aus Hirschgeweihen geschnitzt. Der Anzug war für Jahrzehnte langen Gebrauch geschneidert. Wo sich Löcher durchbohrten, half man mit Flecken aus dem gleichen Stoff aus. Die Kniestrümpfe strickte man aus rauer Alpenschafwolle. Das Jucken verspürt Luggi noch heute an seinen Beinen.
Über Rezepte machte man sich keinen Kopf. Rüben waren die Basis, Kartoffeln wurden wegen ewigen Frosts nicht mehr als fingerdick. Obst wuchs bei diesen Klimabedingungen nicht. Ziegen- und Schweinefleisch gab’s nur an kirchlichen Festtagen. Bei durchschnittlich zehn Kindern konnte man kein Gemüse zukaufen.
Eine silberne Taschenuhr galt als anerkanntes Statussymbol, womit man sich von der Armut abhob. Wer sie trug, dem widersprach man nicht. Gesundheitsversorgung lag in der Hand der Kräuterfrauen und Hebammen. 1932 tauchte der erste Arzt auf.

Wer konnte, wanderte im Sommer über die Berge in die Schweiz, arbeitete da und half mit dem kleinen Einkommen den Familien hinter den Bergen aus. Ab 1946 brauchte man dafür einen Pass. Dazu benötigte man ein Foto. Wer das Geld dafür nicht hatte, legte mit einem anderen zusammen, und dann liefen zwei einfach unter einem Foto.
Im „MUS – Museum von Livigno und Trepalle“, dem örtlichen Museum, zeigt man die damalige Lebensart den staunenden Gästen. In dem hunderte Jahre alten Holzhaus mit den engen Stuben, bekommt man einen Anflug von Verständnis, wie hart das Leben der Gebirgsbauern damals war. Samstagnachmittags kommen die alten Herrschaften gekleidet wie einst ins Museum. Setzen sich an die blank geschrubbten Bauerntische, und erzählen von der Zeit, als es noch keine reguläre Post für Briefverkehr gab, und viel Abenteuerliches mehr.

Zwei Herrn aus Livigno
Zwei Herrn aus Livigno

1963 mit dem Öffnen des Tunnels änderte sich das Leben schlagartig. Mit einer dreistündigen Wanderung war man in einer anderen Welt. Autos kamen später und revolutionierten noch um einen Tick wilder die Welt. Als dann noch ein Berglift nach dem anderen öffnete, reihten sich an Wochenenden die Autoschlagen am Tunnel.
Heute kann man zwischen 33 Liftanlagen wählen, hat 115 km Pisten zur Verfügung und wer es gemütlich will, dem stehen 46 Kilometer eben dahin gehende Langlauf Pisten zur Verfügung.

Sport für jede Sportlichkeit
Unter dem Motto „feel the alps“, und das nicht nur im Winter, bietet das 23 Kilometer lange Tal Abwechslung für entspannte Wanderer und aktive Sportler. Rund um den Livigno-See und den Fluss Spöl befinden sich Wanderwege, Klettersteige und Mountainbike-Trails verschiedenster Schwierigkeitsgrade. Der See selbst lädt im Sommer zum Kayaken, Stand-up- Paddling, Windsurfen und Bootfahren ein.
Außerdem ist der Ort berühmt für seine Events, wie zum Beispiel das „European Freeride Festival“ oder das weltweit größte Telemark Festival „La Skieda“. Weitere Langlauf-, Ski- und Snowboard- Wettbewerbe sowie der kunterbunte Livigno-Karneval runden den Spaß ab.

Blumenpracht im Sommer
Blumenpracht im Sommer

Italienisches Shopping
1805 wurde Livigno wegen seiner exponierten und früher im Winter kaum erreichbaren Lage von Napoleon zur zollfreien Zone erklärt, damit es durch die Einnahmen die Armut lindere. 1910 wurde Livignos Status von Italien und schließlich 1960 auch von der Europäischen Gemeinschaft bestätigt. Dank der strengen Bauvorschriften, wo fünf-und mehrstöckige Hotels undenkbar sind, hat man auch auf eine Einkaufsmall verzichtet. In den reich verzierten, zum Teil nur aus Holz gebauten typischen Engadin-Häusern, gibt es Ladentische, an denen es noch ganz persönlich zu geht. Einkaufen ist, abgesehen davon, dass man die Mehrwertsteuer spart, ein stilvolles Erlebnis. Von „Prada-teuer“ bis zu leistbaren Schnäppchen ist alles vorhanden. Die italienische Mode ist breit gefächert, ein Schaufensterbummel lohnt sich. Wer Livigno noch zu Hause auf der Haut spüren möchte, kann sich an der in Livigno aus Enzianwurzeln gemachter Biokosmetik erfreuen. Besonders beliebt ist die neue Käserei „Latteria“. Ob hausmacher Speck, langgereifter Bergkäse oder frischer Ziegenkäse, alles wird im Tal erzeugt. Bier-Liebhaber zieht es in die höchstgelegene Brauerei Europas „1816“, benannt nach der Höhenlage von Livignos Ortszentrum.

Ortseingang von Livigno
Ortseingang von Livigno

 

 

 

 

 

 

 

In den kleinen Herstellerbetrieben und in der Gastronomie verspürt man noch die Verbundenheit der Familien untereinander. Ein Gast ist noch Gast.

Fotos: Bernd Siegmund