LÜBECK – FAST AUSSERHALB DER ZEIT

Ein viel zu kurzer Stadtspaziergang

Von Margrit Manz

Wenn man in Lübeck unterwegs ist, ist man eigentlich ziemlich schnell durch alle Sehenswürdigkeiten, die die Stadt zu bieten hat, hindurch. Die schmalen Gassen führen alle zum selben Marktplatz, die Häuser in den Gassen neigen sich mal mehr, mal weniger bedrohlich nach vorn, nach hinten oder zu den Seiten. Allen voran mitten in der Stadt das 1478 fertiggestellte Holstentor in Backsteingotik, das mit seiner Schieflage, begünstigt durch den morastigen Untergrund am Traveufer, dem schiefen Turm von Pisa in nichts nachsteht.

In den vergangenen Jahrhunderten gab es immer wieder Restaurierungsversuche, aber so ganz in die Senkrechte wollte das Tor nie kommen. Vielleicht gab es sich deshalb mit seiner Rolle als Wahrzeichen Lübecks zufrieden, so wie auch mit der Inschrift „CONCORDIA DOMI FORIS PAX“ (Eintracht drinnen, Frieden außen), die 1863 angebracht wurde.

Marzipan aus Persien oder doch aus Lübeck

Gleich neben dem Tor sind die berühmten „Marzipan-Speicher“, in denen in 3. Generation Marzipan produziert wird. Das Familienunternehmen haben die Brüder Burkhard und Norbert Leu aufgebaut und mit Erfolg weitergeführt. Ganz unschuldig werden sie nicht sein an der Legende, die besagt, dass das Marzipan sogar in Lübeck erfunden wurde. Als nämlich 1407 eine Hungersnot in der Stadt drohte, weil die Lübecker Kornspeicher leer standen, soll der Senat die Bäcker beauftragt haben, ihr Brot aus Mandeln zu backen: Marci-panis (Mandelbrot). Ja, so könnte es gewesen sein. Gesundheitsfördernd ist das süße Naschwerk allemal, denn es hebt die Laune. Doch in den vergangenen Jahrhunderten wurde es tatsächlich als Arzneimittel in Apotheken gehandelt. Wogegen es helfen sollte, ist allerdings nicht überliefert. Im Jahr 1530 fand es in den Lübecker Zunftrollen als Martzapaen Erwähnung, doch die Marzipanstadt Lübeck wurde erst nach 1800 begründet. Der wohl bekannteste Marzipan-Hersteller ist Niederegger, dessen Klassiker das sogenannte Schwarzbrot ist.

Unterdessen sind noch Zugeständnisse an aktuelle Trends hinzugekommen, wie veganes Marzipan und Marzipan-Likör. Frei nach dem Motto: „Erwarte nichts, aber schätze alles.“

Heute ist das Lübecker Marzipan eine von der EU geschützte geographische Herkunftsbezeichnung, sowie die angrenzenden Gemeinden Bad Schwartau, der wir die leckere Konfitüre verdanken und Stockelsdorf, das immerhin 13 Meter über dem Meeresspiegel liegt.

Weltliteratur die Geschichte schreibt

Unbedingt zu erwähnen ist in Lübeck jedoch das “Haus in der Mengstraße 4”, das im 16. Jahrhundert erbaut und als Beispiel für die norddeutsche Backsteingotik gilt. Die Mengstraße ist eine der ältesten Straßen der Stadt und beherbergt viele gut erhaltene historische Gebäude.

Eines der Häuser ist jedoch berühmter als alle anderen und zieht jedes Jahr viele Touristen an, die nur seinetwegen kommen. Grund ist der weltberühmte Roman „Buddenbrooks. Verfall einer Familie“ (1901), in dem Thomas Mann seine eigene Familiengeschichte niedergeschrieben und damit das Haus, in dem der Roman spielt, schlagartig bekannt gemacht hat.

Die Stadt wird zwar nicht ausdrücklich erwähnt, aber es sind unschwer viele Figuren zu erkennen, die an Lübecker Persönlichkeiten jener Zeit erinnern. Der Autor hat sich als Hanno Buddenbrook selbst in die Handlung eingeschrieben.
Doch zurück zur wechselvollen Geschichte des Hauses, das sich noch bis 1891 im Besitz der Familie Mann befand, 1893 von der Stadt übernommen wurde, danach mehr oder weniger dem Haus zuträgliche Vermietungen überlebt hat und seit 1993 als Gedenkstätte in der Trägerschaft der Kunststiftung der Hansestadt steht.

»Meine Kindheit war gehegt und glücklich. Mit vier Geschwistern wuchs ich auf in einem eleganten Stadthause, das mein Vater sich und den Seinen erbaut hatte, und erfreute mich eines zweiten Heimes in dem alten Familienhaus aus dem 18. Jahrhundert, mit dem Spruche ›Dominus providebit‹ am Rokoko-Giebel, welches meine Großmutter väterlicherseits allein bewohnte und das heute als ›Buddenbrook-Haus‹ einen Gegenstand der Fremdenneugier bildet.«

(Thomas Mann Gesammelte Werke XI, S. Fischer , S. 98)

Moin moin zu jeder Tages- und Nachtzeit

Und dann gibt’s in Lübeck die legendären Salzspeicher, die 1922 einen der Drehorte für Murnaus Nosferatu hergaben. „Eine Symphonie des Grauens“ lautet der Untertitel des Stummfilms, heute kaum nachvollziehbar bei dem lieblichen Anblick der Gruppe von Lagerhäusern im Stil der Backsteinrenaissance.

 In diesen Lagerhäusern an der Osttrave wurden einst Salzlieferungen vorbereitet, die über den 1398 fertiggestellten Stecknitzkanal erfolgten. Von Lübeck aus gelangte das Salz weiter nach Skandinavien – ein recht einträgliches Geschäft für die Hansestadt und Grundlage ihres damaligen Reichtums. Das Salz wurde übrigens für die Konservierung vieler Lebensmittel gebraucht.

Hinter jedem Haus scheint sich eine Geschichte zu verbergen, die meisten haben Jahrhunderte auf dem Buckel und geben ihr Geheimnis nicht so ohnedies preis. Norddeutsche Bräsigkeit und Schweigsamkeit halt! Und so verbarg auch das Haus mit dem Namen „Schiffergesellschaft“ hinter seiner spröden Fassade mehrere Überraschungen, denn die traditionsreiche Gaststätte ist nicht nur ein Restaurant im üblichen Sinne, sondern vor allem ein Ort mit reichem historischem Erbe. In diesem Gildehaus in der Breiten Straße haben sich bereits zu früheren Zeiten Seefahrer und Kaufleute zusammengefunden, um ihre Rückkehr von langer Fahrt zu feiern, künftige Handelsreisen zu organisieren und manche Streitigkeiten zu begraben. Heute wird dort traditionelle und moderne Küche kombiniert und dafür saisonal, lokal und nachhaltig eingekauft. Und neben kulinarischem, wird den Gästen geschichtliches serviert, was aus früherer Zeit überliefert ist, manches so abenteuerlich, dass man Seemannsgarn dahinter vermuten könnte. Doch gerade das, was nicht in den Geschichtsbüchern steht, macht einen Ausflug in die Geschichte erst interessant.

Und was „Moin moin“ betrifft, ist gleich beim Eintritt ins Restaurant zu erfahren. Moin moin sagen nur die Schwatzhaften, ein „Moin“ reicht. Und das kann man von früh bis abends sagen. Übersetzt heißt es: „Ich grüße Dich besonders herzlich“ und man antwortet kurz: „Moin zurück“.

Hansezeit und ihre Spuren

Der große grauhaarige Kellner am Empfang weiß seine Gäste sofort für sich einzunehmen, erahnt, ob sie nur auf Speis und Trank aus sind oder sich für die Historie von Ort und Zeit interessieren.

Er zeigt auf die zahlreichen Spuren aus der Hansezeit hier im Restaurant und beginnt zu erzählen. Das Essen wird an langen Tischen aus alten Schiffsplanken serviert, den sogenannten Gelagen.

So nennt man die schmalen Eichentische mit Bänken und hohen Rücken, wo einst schon die Hanseaten aufrecht dinierten, aber im Laufe des Abends enger zusammenrückten, um mit dem einen oder anderen feinen Tropfen auf künftiges anzustoßen. Es waren vor allem die Stammplätze der Kaufleute, die sich in sogenannten „Kompanien“ zusammenschlossen, je nach dem Ziel ihrer Handelswege auf der Ostsee. Die Novgorodfahrer brachten per Schiff Pelze, Wachs und Honig aus Russland mit, die Schonenfahrer Heringe, die als Fastenspeise dienten. Die Schwedenfahrer hatten Erze an Bord und die Bergenfahrer lieferten getrockneten Kabeljau, den beliebten Stockfisch aus Norwegen. Aus England und Flandern kamen Stoffe und fertige Metallwaren. Noch heute sind an den Bänken ihre Wappen angebracht, nach denen vor 500 Jahren mal die Sitzordnung festgelegt wurde und jeder Seemann seinen festen Platz hatte.

An dieser Stelle unterbricht der große grauhaarige Kellner kurz seinen historischen Schwenk und empfiehlt das typische Seemannsgericht „Labskaus“, ein Kartoffelgericht mit Pökelfleisch, Salzhering, Spiegelei und roter Bete.

Schiffbrüche und Seemänner in Not

Aus den Kreisen der Ratsherren und Kaufleute kümmerte man sich im Mittelalter um Bedürftige und sorgte für in Not geratene Arbeitskameraden und ihre Familien. Die Schiffergesellschaft, organisierte damals Wohnraum für alte und bedürftige Menschen. Anfang des 20. Jahrhunderts wurde der Schifferhof in der Engelsgrube errichtet, der bis heute Witwen von verstorbenen Kapitänen eine Heimstatt bietet.

Wenn Gott eine Bar aufmacht

Sogenannte „Gotteskeller“ fanden sich im Mittelalter in einigen Lübecker Bürgerhäusern. Dort konnten Bedürftige kostenfrei essen und übernachten – gegen Gottes Lohn. Heute ist der „Gotteskeller“ im historischen Trakt der Schiffergesellschaft ein beliebter Ort zum Feiern, sowie für Rum-Tastings und ein damit verbundenes geselliges Miteinander. Auch das Rauchen ist hier noch erlaubt!

Man merkt dem Kellner an, der viel Wissenswertes über die Schiffergesellschaft zu berichten weiß, dass er um nichts in der Welt seine Stadt und seinen Beruf tauschen möchte. Er kennt viele Seemannsgeschichten, die von damals und die von heute, denn das Leben geht ja weiter.

Mit „modernem, kreativem Twist“

Das Restaurant mit seinen historischen Schätzen, den Wandgemälden, Schiffsmodellen und Ausstellungsstücken regt die Fantasie an und lässt den Blick schweifen. Auch auf die Speisekarte, die eine gutbürgerliche norddeutsche Küche ausweist, versehen mit einem „modernen, kreativen Twist“, was immer das auch heißen mag. Angeboten werden fangfrische Fischspezialitäten, Fleischspeisen, Vegetarisches und Veganes und als Dessert natürlich Marzipan, eingebracht in Parfaits oder hausgemachtem Eis.

Als Nachspeise wird Kapitäns- oder Admirals-Kaffee empfohlen. Der Anteil am Kaffee spielt dabei die kleinste Rolle. Der große grauhaarige Kellner serviert und erzählt.

Der riesige Kronleuchter an der holzgetäfelten Decke hat natürlich auch eine Geschichte. Die Kirchendiener von der gegenüberliegenden Seefahrerkirche St. Jakobi kamen oft zum Essen ins Restaurant, konnten aber irgendwann ihre Zeche nicht mehr zahlen. Um die Außenstände letztendlich zu begleichen, wurde aus der Kirche ein Kronleuchter ins Restaurant gebracht. Und da hängt er noch heute…

In der Schiffergesellschaft wird die Geschichte Lübecks lebendig gehalten, kulinarisches und historisches zu einem einmaligen Aufenthalt verwoben. Wiederkommen lohnt sich!

Restaurant Schiffergesellschaft | Traditionslokal in Lübeck
ADRESSE: Breite Straße 2, 23552 Lübeck
E-Mail: restaurant@schiffergesellschaft.de
TELEFON 0451 76 776
FAX 0451 73279

Fotos: Margrit Manz, Schiffergesellschaft, Lübeck Tourismus

Margrit Manz ist Journalistin und Redakteurin mit Themenschwerpunkt China. Seit über 20 Jahren berichtet sie über Wirtschaftsbeziehungen und Kulturaustausch, informiert über Tourismus und regionale Küche, rezensiert neue Bücher. Ihre Texte werden regelmäßig in Print- und Online-Magazinen in Deutschland und der Schweiz veröffentlicht, u.a. auf der Internetplattform China Report https://manz-chinareport.com/ Margrit Manz ist Mitglied im Club der Tourismus-Journalisten CTOUR.

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