Ergreifende Erlebnisse auf einem ungewöhnlichen ostpreußischen Schiffs-Rad-Törn
Ein Bericht von Peer Schmidt-Walther
Masuren liegt im Nordosten Polens, bis wohin sich in der Geschichte Ostpreußen erstreckte. Wald- und Seenreichtum sind sein Kapital.
„Erfahren kann man Masuren zum Beispiel per Schiff und Rad – mit der weißen „Classic Lady“. Seit der Indienststellung im Jahre 2003 startet das 44 Meter lange Kreuzfahrtschiff allwöchentlich von Mai bis September im Segelhafen von Nikolaiken. In Touristenkarten und deutschsprachigen Info-Materialien vor Ort findet man neben den heutigen polnischen auch die einstigen deutschen Namen aufgeführt. Ein Service, den man nicht nur als eine Art Willkommen für die deutschsprachigen Touristen und Urlauber sehen kann, sondern es zeigt auch einen souveränen Umgang mit historischen Tatsachen.
Nikolaiken gilt nach wie vor als touristisches Zentrum der Masurischen Seenplatte im Herzen von Ostpreußens Süden.
Heute gehört es infolge des Zweiten Weltkriegs zu Polen, während der einst nördliche Teil an Russland und Litauen kam. Ein Land voller Geschichten und Geschichte, aber auch der Emotionen.
Familiäre Wurzeln
Die Journalisten-Legende Hans Helmut Kirst träumte von der „Märchenwelt aus Moos und Schilf und der leuchtend grünen Zauberwälder voller Geborgenheit“. Sein Kollege Klaus Bednarz war lange ARD-Korrespondent in Warschau. Dessen Vaterhaus steht in Ukta am romantischen Flüsschen Krutinna, durch deren klares Wasser wir später im Kajak und Stocherkahn von Krutinnen aus gleiten. Dort lag „mein Kindheitsparadies“, erzählte er und kam ins Schwärmen. Masuren war daher auch Thema einiger seiner Filme und Bücher.
Dadurch haben sich auch die Passagiere der „Classic Lady“ anregen lassen. „Einmal das alles mit eigenen Augen sehen und erfahren“, das wollten die meisten Gäste, die darüber hinaus auch manche familiäre Wurzel in Ostpreußen aufweisen.
Die 37 Passagiere sind aus ganz Deutschland angereist, darunter zwei Drittel aus den östlichen Bundesländern.
Bischof als Reiseleiter
„Ostpreußen hat uns schon immer fasziniert“, gesteht Holger aus Magdeburg. Er und seine Frau Franka sind wie die übrigen Gäste auch begeisterte Radler. Für Jutta aus Schwerin liegen die Vorteile der Reisekombination Schiff – Rad, einzigartig in Masuren, klar auf der Hand: „Keine lästige Quartiersuche, kein tägliches Kofferpacken und tagsüber unbeschwertes Fahren ohne Gepäck, von fehlenden Sprachkenntnissen mal abgesehen“. Schnell stellt sich auch – Radfahren verbindet – eine unkomplizierte familiär-legere Atmosphäre ein. Das empfinden alle so. Und alle waren auf der Suche nach neuen Herausforderungen.
Wenn frühmorgens die Fahrräder von Kapitän Tomasz Biadun und seinen Mitarbeitern auf den Anlegesteg gewuchtet werden, können sich die Gäste noch mal genüsslich in ihren zweckmäßig, aber nicht ungemütlich eingerichteten Kabinen umdrehen und anschließend in aller Ruhe frühstücken. Mit Panoramablick auf das jeweilige Gewässer.
Die humorvollen Reiseleiter Andrzej, promovierter Limnologe und Manager, und Pawel, der bodenständige Bischof von Rastenburg im Urlaub, gehen dann mit seinen Schützlingen, wie schon am Abend zuvor, noch mal die bevorstehende Tagesetappe durch. Die meisten finden Erholung im Sattel. Wie eine Droge sei das, begeistern sie sich. „So kann man das Land geradezu mit allen Sinnen erfahren“, schwärmt Andrea aus Berlin. Wie alle anderen ist auch sie zum ersten Mal hier: „Ich werde wiederkommen, denn es gibt ja noch so viel zu sehen und zu erleben“.
Der Preußen-Vogel klappert
Mal strampeln wir über unbefestigte Feld-, Wald- und Wiesenwege, mal über schmale, kaum befahrene Straßen und selten nur kurze Abschnitte auf verkehrsreichen Fernstraßen. Hügelauf und –ab, aber fast mühelos mit einer leicht zu bedienenden Siebengang-Nabenschaltung oder auf Wunsch elektrisch.
Zwischendurch blitzen immer mal wieder ein paar blaue Seen-Spiegel (von insgesamt 3000) durch das frische Grün oder duckt sich das rote Ziegeldach eines alten, einsamen Gehöfts oder Gutes in einer Senke.
Auf unzähligen Firsten thronen Storchennester. Sein schwarz-weiß-rotes Federkleid hat ihm den Spitznamen „preußischster aller Vögel“ eingebracht. „Jeder vierte Storch weltweit ist heute Pole“, hören wir. Wie auf Bestellung klappern sie mit ihren langen roten Schnäbeln.
Uns haben sie scheinbar gewarnt, als wir von Angerburg/Wegorzewo aus nach Norden vorstießen. Plötzlich standen wir vor den Barrieren der polnisch-russischen Grenze. Bis eine Streife kam und uns kurzzeitig festhielt – als vermeintliche Spione.
(Den ganzen Bericht gibt es hier)
Mannche, Mannche…
In Sadry (Zondern), sechs Kilometer westlich von Rhyn (Rhein), „menschelt“ es hingegen. Die letzten Deutschen der Region, Familie Dickti, betreiben in dem Dörfchen ein kleines Privatmuseum, das 200 Jahre alte „Masurische Bauernhaus“ mit regional typischen Hausgeräten und Möbeln. Die Aufkleber von deutschen Reise- und Busunternehmen verraten, dass wir es hier mit einem touristischen Highlight zu tun haben. Souvenirs werden angeboten, aber auch ein leckerer, noch ofenwarmer Kasten-Hefekuchen, gefüllt mit Marmelade und überzogen mit Streusel. Bei Kaffee und Kuchen gibt Dickti junior in breitestem Ostpreußisch „Wippches“ (Witze) zum Besten. Zum Beispiel den: „Was haat ejn Mann, was im Schnee sitzt? Na, Schneegleckchens!“ Schallendes Gelächter.
Auch Ostpreußen-Schriftsteller Arno Surminski, der aus Jäglack/Jeglawki westlich von Drengfurt stammt, hat sich darüber amüsiert, als er die Dicktis besucht hat. „Mannche, Mannche, hat därr mich Lechers im Bauch gefraacht!“, berichtet Dickti über so viel mediale Aufmerksamkeit.
Neben Landschaft satt auch Sehenswürdigkeiten aus mehr als 700jähriger Geschichte aus der Zeit des Deutschen Ordens.
Sichtbare Geschichte
Am letzten Tag heißt es scherzhaft-doppeldeutig: „Heute haben wir einen Termin beim Führer“. Gemeint ist der polnische Reiseführer Jan Zduniak, ein namhafter Historiker und Buchautor.
Im damaligen Hauptquartier Adolf Hitlers, der „Wolfsschanze“ (Wilczy Szaniec) bei Rastenburg, wird einem angesichts gesprengter meterdicker Betonmauern der Wahnsinn des „Tausendjährigen Reiches“ bewusst.
(Links: Die Reste des gesprengten Führerbunkers auf der Wolfsschanze)
Neonazis lassen sich an diesem Ort daher auch nicht blicken, wie wir hören. Aber jede Menge Deutsche. „Das ist ein Stück sichtbare Geschichte“, antworten einige, befragt nach ihrem Besuchsmotiv.
Zwei Denkmäler erinnern an das Attentat vom 20. Juli 1944 und den Widerstand. Neuerdings ist die Baracke, in der es geschah, nachgebaut und mit einer Ausstellung bestückt worden.
Am Ende eines Tages zeigt der Tacho manchmal über 60 Kilometer an. Trotz geruhsamem Tempo. Alle Altersgruppen sind irgendwie stolz, es problemlos geschafft zu haben – ohne geschafft zu sein. Jeder genießt sein kühles polnisches Bier an Oberdeck mit Wald-See-Panoramablick. Auch das Wellengluckern an der Bordwand garantiert anschließend Tiefschlaf.
Jaku matki – wie bei Oma
Krönender Abschluss jedes Tages ist nach stundenlanger Frischluft-Kur das sehnlichst erwartete Abendessen: polnische Suppen und Salate, ein Hauptgericht und Nachspeise, inklusive Natur-Logenplatz. Was Küchenchef Tadeusz Swiderski hier in seiner „U-Boot-Miniküche“ leistet, lässt auch Christian aus Stralsund „immer wieder schon lange vorher das Wasser im Munde zusammenlaufen“. Tadeusz´ Kochküste – „vor allem nach Rezepten der alten ostpreußischen „Oma-Küche“ – sind allein schon ein Grund, um mit der „Classic Lady“ durch Masuren zu schippern.
Die Abende enden im Bord-Restaurant, wenn der masurische Mond durch die Panoramafenster lugt und das Wasser rhythmisch gegen den weißen Rumpf klatscht. Die passende Atmosphäre, um über Tageserlebnisse zu reden und zu lachen. Irgendwie schwingt es dabei mit, das Ostpreußen-Lied, das die „dunklen Wälder und kristallenen Seen“ besingt. Jetzt können wir nachempfinden, was damit gemeint ist.
INFOS
MS „CLASSIC LADY“
Bau und Indienststellung: 2003 in Nikolaiken; Flagge: Polen; Länge: 44 m; Breite: 7 m; Tiefgang: 1 m; Crew: 5 – 6; Passagiere (max.): 40.
Unterbringung: 20 Aussenkabinen (11 m²) mit Doppel- bzw. nebeneinander getrennt stehenden Einzelbetten; Kleiderschrank, Safe, Dusche/WC, Heizung, 220 V-Stromanschluss; 3 Passagierdecks, Panorama-Restaurant, Bar, Sonnendeck.
Bordsprache: Polnisch und Deutsch.
Bordwährung: Euro und Zloty, keine Kreditkarten. Halbpension: Frühstück und Abendessen wegen der Radtouren (niemand hat etwas dagegen, wenn man sich eine belegte Klappstulle und einen Apfel mitnimmt; Imbiss unterwegs ist sehr preiswert; aber auch wenn man mittags an Bord essen möchte).
Reisezeit: 21. Mai bis 03. September 2022 (Anreise jeden Samstag). Einige Gäste sind sogar strapaziös per Auto, immerhin rund 1000 Kilometer von Deutschland entfernt. Empfehlenswert ist die stressfreie zehneinhalbstündige Zugreise auf historischen Gleisen durch Hinterpommern, Westpreußen und das Ermland (ab Stettin täglich via Allenstein für 27 Euro) oder schneller via Warschau und dann per DNV-Zubringerbus.
Man muss übrigens nicht in der Gruppe, kann auch individuell radeln und sich ein individuelles Programm zusammenstellen.
Preise: ab 1045,00 €, Radmiete: 75 €
Enthaltene Leistungen: 7 x Ü/HP, Bettwäsche, Handtücher, Hafengebühren, Transfer Warschau-Schiff-Warschau; Infomaterial, Karte, deutschsprachige Reisebegleitung, Eintritte, Besichtigungen, Kahnfahrt. Krutinnen.
Auskunft über Reiseziele: Polnisches Fremdenverkehrsamt, Marburger Str. 1, 10789 Berlin, Tel.: 030-2100920.
Weitere Infos und Buchung: www.dnv-tours.de, Tel.: 07154-13 18 32, Swetlana Gerasimowa).
Empfohlene Reiselektüre (neben gängigen Reiseführern):
Klaus Bednarz: Fernes nahes Land – Begegnungen in Ostpreußen (Heyne-Bücher);
Hans Graf von Lehndorff: Ostpreußisches Tagebuch (dtv);
Arno Surminski: Jokehnen (rororo);
Siegfried Lenz: So zärtlich war Suleyken (Fischer).
Eine gute Mischung aus Historie und Unterhaltung.
Ein Gedanke zu „WEISSE LADY KREUZT EINSAM DURCH MASUREN“
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