GRENZWERTIGE POLNISCH-RUSSISCHE GRENZERFAHRUNG

Nervosität beherrscht die Situation in den masurischen Wäldern

Ein Situationsbericht von Peer Schmidt-Walther

Raudischken/Angerburg. Von Frühjahr bis Herbst zieht seit über zwanzig Jahren das kleine polnisch-deutsche Kreuzfahrtschiff „CLASSIC LADY“ seine Runden über die masurische Seenplatte. Die liegt im Norden der heutigen polnischen Woiwodschaft Ermland-Masuren.
Vom zeitweiligen Liegeplatz in Wilkassen südlich von Lötzen am Löwentin See braucht man gut zwei Stunden mit einem der bordeigenen Fahrräder für 42 Kilometer, um nach Rudziszki zu kommen, ein ehemaliges Rittergut im südlichen Ostpreußen. Das Anwesen gehörte einst der Familie von Schlieben, hieß bis 1938 Raudischken, wurde dann „entslawisiert“ und in Raudingen umbenannt.
Warum aber, so wird man fragen, sollte man sich in diesen äußersten Zipfel Polens begeben?

Wie vom Veranstalter der beliebten Rad-Schiff-Reisen, DNV-Touristik in Kornwestheim, zu erfahren war, haben eine Reihe von Gästen „aus Angst vor einer russischen Invasion“ storniert. Man könne schließlich nicht in einer Region entspannen, an deren unmittelbarer Grenze Raketen stationiert seien, deren bloße Gegenwart ein Bedrohungspotenzial darstellen, das unbeschwertes Urlauben unmöglich mache. Am Rande bemerkt: Wir haben während unserer Touren nicht eine Militärbewegung beobachten können – weder von Polen noch Amerikanern.

Wir wollten uns jetzt allerdings ein Bild machen von der tatsächlichen Lage im Grenzgebiet. Dies sei berufsbedingter journalistischer Neugier geschuldet, rechtfertigten wir unseren anstehenden Ausflug.

Im Niemandsland beobachtet

Aufgrund der unsicheren Wetterlage wird entschlossen, per PKW über die alte Kreisstadt Angerburg/Wegorzewo der Landstraße 63 zu folgen.

Am Schlagbaum enden die Republik Polen und die EU.

Nach 14 Kilometern taucht am Straßenrand ein Schild auf, das uns zum Halten bringt:

rund, rot umrandetes weißes Feld mit einem Fußgänger darin. Verunsichert drehen wir bei und versuchen dieses nicht näher bezeichnete Signal zu interpretieren. Wir entscheiden uns für die Version „Gilt nur für Fußgänger“.

Also umdrehen und mit der Nase wieder in Richtung des rund 500 Meter entfernten Waldes. Diese Manöver werden von den Bewohnern eines Gehöfts am Straßenrand skeptisch bis misstrauisch beobachtet. Auf ein freundliches Winken reagieren sie nicht, zumal sie längst das fremde Nummernschild entdeckt haben.

Eine Schranke schließlich, umgeben von diversen Schildern in polnischer Sprache, bremst unwiderruflich unsere Fahrt durchs Niemandsland. Wir drehen wieder in Gegenrichtung und steigen aus. Aha, hier ist also Schluss mit Westen, EU und NATO. Schnell noch ein Smartphone-Foto.  Frisch gepflügt ist der Streifen von rund fünf Metern Breite, der Polen von Russland trennt, das sich natürlich auch mit einer rot-weißen-Barriere „schützt“. Auf jeder Seite auch ein rot-weiß bzw. grün-rot gestreifter Betonpfahl samt Hoheitsabzeichen. Beide tragen einen Adler.

Die letzten Meter der polnischen Landstraße 63 mit dem Verbotsschild für Fußgänger. Der Wald gehört zu Russland.

Hand an der Pistole

Während wir nachdenklich inne- und Abstand halten vor diesem brisanten Bauwerk, werden wir plötzlich durch Motorengeräusch aus unseren Gedanken gerissen. Nur Zentimeter vor unserem Auto stoppt ein Jeep. STRAZ GRANISZNA ist auf  seinen tarnfarbenen Flanken zu lesen, zu deutsch: Grenzschutz. Ein Uniformierter springt heraus und fuchtelt wild mit den Armen herum, ein Redeschwall ergießt sich über uns. Wir sind überrumpelt und erst mal sprachlos. Mit der Hand an seiner Pistole zwingt er uns zum Einsteigen. Ob wir Fotos gemacht hätten, stottert er in brüchigem Englisch. Wir verneinen pflichtgemäß und lassen das Handy unauffällig in den Fußraum gleiten. „Dokumenty!“ fordert der Grenzschützer jetzt barsch. Wir reichen ihm alles, was wir dabei haben. Mein Kollege erbleicht: „O je, hab alles an Bord gelassen!“ Als der Leutnant einen Presseausweis sieht, verfinstert sich seine Miene noch um Grade. Tomasz Biadun, der Kapitän der CLASSIC LADY, wird benachrichtigt und nach der Richtigkeit unserer Aussage befragt. Er kann alles bestätigen.

Aber „Presse“? Das ginge hier in dieser sensiblen Region überhaupt nicht. Ob wir die Schilder nicht gelesen hätten? Wir verneinen, weil a) für uns nicht zu verstehen und b) noch zu weit weit, weil in zu kleiner Schrift. Ob wir den Grenzstreifen betreten hätten? Das koste nämlich 5000 Zloty Strafe. „No, no, no!“ beteuern wir wahrheitsgemäß und befürchten, dass er uns jetzt etwas anhängen will, weil er noch nicht „fündig“ geworden ist.

Helfer der Grenzpolizei

Auch der Leutnant ist anscheinend ratlos. Mir fällt ein, dass es ja eine deutsch-polnische Waffenbrüderschaft mit der NATO-Brigade in Stettin gebe und ich als Marine-Reserveoffizier gewissermaßen Teil davon bin. Da leuchten die Augen des Grenzers. Wir grüßen militärisch mit angelegter Hand an der Stirn und schütteln uns die Hände. Er erklärt, dass man hier an der EU-Außengrenze besonders wachsam sei, „weil die nervösen Russen drüben alles genau mit Sicht- und Abhörgeräten registrieren, was auf der polnischen Seite passiert“. Das führe nur zu unnötigen Verwicklungen. Er bitte sein Verhalten quasi zu entschuldigen, zumal es auch Spionageversuche gebe. Das sei eben anders als an innereuropäischen Grenzen. Die Bauern im Niemandsland hätten außerdem den Auftrag, als „Helfer der Grenzpolizei“ – wie zu DDR-Zeiten – alle auffälligen Bewegungen zu melden. Und wir sind nun mal aufgefallen. Übrigens: Den ostpreußischen Wald überragen keine Raketenspitzen…

Endlich, nach zwei Stunden Arretierung, dürfen wir unter seiner Eskorte das Sperrgebiet verlassen.  „Dziekuje bardzo!“ und „Czesc!“ Dankeschön und Tschüß! Zu einem Abschiedsfoto konnte sich der polnische Kamerad dann doch nicht durchringen. Das sei gegen die Dienstvorschrift.

Die Aufregung klingt noch lange nach und sorgt an Bord für abendfüllenden Gesprächsstoff sowie einige zusätzliche polnische Biere.

Den Beitrag über die gesamte Reise mit der „CLASSIC LADY“ gibt es hier.

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