Als Stralsunder glaubt man, die UNESCO-Welterbe-Partnerstadt Wismar zu kennen. Allein schon von vielen Stop-and-go-Durchfahrten auf der B 105. Die waren einfach nur nervig. Seit den Neunzigern dagegen schaut man von der A 20 auf sie herab und versucht möglichst viele Küstenautobahn-Kilometer zu machen. Ein Fehler, wie sich dieser Tage herausgestellt hat.
Blick zurück. Anfang Mai lief erstmals das Kreuzfahrtschiff MS ASTOR in Wismar ein. Eine günstige Chance für mich, mit dem beliebten Klassiker eine Nordland-Kurzreise zu erleben.
Nicht ohne vorher Hans-Joachim Zeigert informiert zu haben. Ein guter, alter Bekannter aus gemeinsamer Ost-West-Seefahrtszeit. Er kennt sich in seiner Stadt aus. Der ehemalige Funkoffizier des DDR-„Traumschiffs“ ARKONA, spätere Journalist und leidenschaftliche Fotograf sollte auch von der Seebrücke aus ein paar Bilder vom Auslaufen schießen. Die Zeit zwischen Bahnhof und Markthalle, dem gerade eröffneten Einschiffungsterminal, verlief wie im Fluge. Jochen sprach es schließlich aus: „Du musst unbedingt wiederkommen!“
Träume im Alten Speicher
Mit Böllerschüssen aus der WISSEMARA-Salutkanone wurde die ASTOR verabschiedet, als die Hansekogge mit geblähtem Großsegel entgegen kam. „Was für eine tolle, maritime Geste“, war von vielen Gästen zu hören, die an der Reling standen und hinter der Insel Poel das markante hansestädtische Stadtpanorama verschwinden sahen.
Im Juni schließlich ist es soweit, dass ich mich wieder aufmache gen Westen. Nicht ohne vorher auf Quartiersuche gegangen zu sein. Es sollte eins sein, dass möglichst zentral liegt und geschichtsträchtig ist. Jochen hat das Hotel „Alter Speicher“ in der Bohrstraße empfohlen. Ein Vier-Sterne-Haus und daher nicht ganz preiswert. Aber ich wollte eben typisches Hanse-Flair und nicht nur „SoKo Wismar“.
Das bekam ich reichlich in dem vorbildlich restaurierten und umgebauten Speichergebäude aus dem 12. bis 14. Jahrhundert, das einst als Mälz- und Brauhaus betrieben wurde. Ein erster abendlicher Rundgang durch die ansehnliche Altstadt versetzt mich gefühlsmäßig ins Mittelalter. Meine Bettlektüre „Simons Bericht“ von Konrad Hansen, die Lebensbeichte eines lübischen Kaufmanns und Piraten, der viel mit Wismar zu tun hatte, liefert später den spannenden literarisch-historischen Hintergrund – bis in meine Träume hinein. Dass die am übernächsten Tag realisiert werden sollen, verrät Jochen noch nicht.
Holzbootsbau traditionell
Stattdessen lotst er mich am Mühlenbach entlang durch das Wassertor zum Alten Hafen. Ich muss erst mal stehenbleiben, durchatmen und das aufgeräumte Hafenpanorama bewundern.
Hier ist nicht gekleckert, sondern geklotzt worden! Das Flair mit seinen Restaurants und Cafés mutet geradezu mediterran an. Und die Speicher sind komplett saniert worden. Davon können die Stralsunder nur träumen … auch von einer zentral gelegenen Kreuzfahrtpier mit kompletter Infrastruktur! So was fehlt am Sund völlig, so dass auch nur sehr wenige weiße „Dampfer“ die an sich schöne Wasserstraße rund Rügen befahren. Selbst den Flusskreuzfahrtschiffen wird dort das Leben wegen ihrer Abgase – Landstrom gibt es nur unzureichend – und angeblicher Sichtbehinderung auf Rügen nicht leicht gemacht.
Mit dem Adler-Ausflugsschiff MECKLENBURG geht´s – samt Brückenbesuch und, natürlich, Kapitänshandschlag – in einer Stunde durch die Wismarbucht nach Kirchdorf auf Poel. Am Hafen trifft Jochen Ralf Asmus, den Chef der Poeler Bootsbau GmbH.
Man kennt sich schon lange. Asmus nimmt sich Zeit, um über seine kleine Werft zu führen, die auf Holzboote spezialisiert ist. Mehrere liegen auf Slip und in der Halle. „Ja, wir sind sogar sehr gut ausgelastet“, lacht der freundliche Mann auf die entsprechende Frage und zeigt auf ein besonderes Fahrzeug: „Die am Schweriner See beheimatete SHADWAN gehörte mal als Rettungsboot zum sowjetischen Eisbrecher KRASSIN von 1917, der heute in Sankt Petersburg liegt“. Die berühmte WIKING SAGA, mit der Abenteurer Burkhard Pieske nach Grönland und New York segelte, stammt aus seiner Werft und seine fünf Spezialisten überholten die WISSEMARA.
Mit der Poeler Kogge vorm Wind
Eine maritime Entdeckung ist selbst für Jochen Zeigert die „Maritime Sammlung Kaltenhof“. Hier hat Ingenieur Harald Krabbe (h.krabbe@web.de) im Anbau seines Einfamilienhauses in 13 Jahren Sammlertätigkeit 800 Schiffslaternen und jede
Menge maritime Raritäten aufbewahrt, über die er außerdem spannende Geschichten zum Besten gibt. Nach einem Abstecher zum Strand am Schwarzen Busch, Besuch der Gedenkstätte „Cap Arkona“ und Fahrt durch die Insel-Idylle laben wir uns in „Krönings Fischbaud“ an frisch gebratenen Heringen mit Bratkartoffeln und Leuchtturmblick im Hafen von Timmdorf. Was für ein Tag!
Doch schon am nächsten Vormittag geht es maritim weiter: Jochen nimmt mich mit auf die WISSEMARA, die für elf Uhr auslaufklar ist. Wieder großes Hallo bei der Begrüßung, klar, denn er ist Mitglied des Fördervereins und hat den Bau der Kogge in einem Text-Bildband dokumentiert. Irgendwann verstummt der Diesel und Kapitän Rüdiger Wolf ruft „All hands zum Segelsetzen“ aus, „keiner muss, jeder kann!“ Viele packen mit an, bis sich das große Segel mit dem Wismarer Wappen im achterlichen Wind bläht.
Nach dem Eintopf an Oberdeck ist Knotenkunde angesagt. Wolf lässt einige Schüler auch ans Ruder und erzählt „wahres Seemannsgarn“ aus seiner langen Fahrenszeit. Man sieht und fühlt seine maritime Begeisterung. Wie bei allen Crew-Mitgliedern, die dieses außergewöhnliche Schiffbauprojekt möglich machten, eine Stimmung, die in der ganzen Stadt zu spüren ist. Sie lebt mit und für den Hafen und ihre Schiffe. Stralsund dagegen, die „Meer- und Hafenstadt“, hat es nach vielen Jahren noch nicht einmal geschafft, das Museumsschiff GORCH FOCK (I) zu kaufen oder die Stadt für mittelgroße Kreuzfahrtschiffe attraktiv zu machen.
In der schönsten Ostsee-Stadt
Viel Empathie und Wissen für seine Stadt versprüht auch Ökonom im Ruhestand Dr. Josef Staffa, den anscheinend jeder hier kennt. Der begrüßt uns im Welterbe-Haus in der Tracht von Klaus Störtebeker, der angeblich zwölf verschiedene Vornamen hatte und aus Wismar stammte, aus Stralsund jedoch nur das gleichnamige Bier. Ein wandelndes Lexikon, dem man unentwegt zuhören kann. Wismar, seine Bauten und Historie entstehen als lebendiges Bild vor unseren Augen.
Genauso wie im Maritimen Traditionszentrum Baumhaus am Alten Hafen, das plastisch informiert über den Bau der Poeler Kogge, Wismars Hanse-Zeit, die Restaurierung des Lotsenschoners ATALANTA und des Fischkutter MARLEN, Wrackfunde sowie die Werft, in der das größte jemals in Deutschland gebaute Kreuzfahrtschiff entsteht.
Nach eineinhalb Stunden mit „Störtebeker“ sind die Kehlen vom Reden und Fragen trocken, der Magen leer. Im Restaurant „Al Gusto“ bleiben wir hängen, lassen uns von Inhaber Christodaro Valerio in die Feinheiten sizilianischer Küche einführen und genießen das völlig entspannte Flair hinter dem Rathaus mit Blick auf den zweitgrößten Marktplatz Norddeutschlands und die Wasserkunst.
Wieder am Sund, stoße ich per Zufall auf eine Postkarte an meine Eltern vom 5. Mai 1986. Damals war ich per Frachter hier und schrieb euphorisch: „Bei schönstem Wetter in der schönsten Stadt an der Ostsee, das macht Spaß!“ Das hätte ich heute aus Wismar an sie geschrieben…
Mit Molli-Dampf zum „Feels“
Doch es geht noch weiter entlang der „Ostsee-Perlenkette“: von Wismar mit der Regionalbahn nach Bad Doberan. Am Bahnhof eine große weiße Halle mit der Aufschrift „Mecklenburgische Bäderbahn Molli GmbH“. Eine Rarität, gilt sie doch mit ihren 130 Jahren zu den ältesten Schmalspurbahnen der Welt. Auf 900 Millimetern Spurweite dampfen die unter Denkmalschutz stehenden historischen beige-roten Züge im Stundentakt über 15,4 Kilometer bis nach Kühlungsborn West. Einer der sechs Haltepunkte ist Heiligendamm, wo sich die Züge kreuzen. Der Ort gilt mit seinem exklusiven Hotelkomplex als „Weisse Stadt am Meer“ und erstes Seebad Deutschlands seit 1793. Bekannt in jüngerer Zeit auch durch den G 8-Gipfel 2017.
Vom Bahnhof Kühlungsborn West – bis 1938 hieß die heutige 3000-Einwohner-Stadt mit jetzt 20.000 Gästebetten noch Arendsee-Brunshaupten-Fulgen – sind es zehn Fußminuten bis zum Anglersteig 2 am Strandzugang 22. Etwas Buntes sticht aus dem architektonischen Einheitsweiß hervor: die farblich auffallende Fassade des „feels“, wie sich das 12-Zimmer-Beach Club Hotel nennt. Eine Herberge der ganz anderen Art. Hier wurde ein Ambiente geschaffen, dass in Kühlungsborn ein Alleinstellungsmerkmal hat. Auch die Küche kann sich schmecken lassen. Ebenso der fast direkte Zugang zum Strand und zur Promenade.
Schauer am Ostsee-Grenzturm
Knapp drei Kilometer läuft man auf ihr entlang – mit vielen Aus- und Einblicken. Links die Ostsee, rechts der Uferwald, hinter dem sich die großen Hotels verstecken. Kurz vor der Seebrücke fühle ich mich an DDR-Zeiten erinnert. Eines Abends wurde ich 1985 von einem Scheinwerfer erfasst und von einer Grenzstreife nach dem Ausweis gefragt. Denn Küste war ab 22 Uhr Sperrgebiet wegen möglicher „Grenzverletzer“, sprich Flüchtlinge. Die wählten vom Strand aus den Weg über die viel von West-Schiffen befahrene Lübecker Bucht oder nach Dänemark.
Knut Wiek, rühriger Vorsitzender des Vereins Grenzturm e.V. und ehemaliger Bürgermeister, führt durch die Ausstellung neben dem grauen 15 Meter hohen Turm des Typs BT 11. Der wurde 1991 vor dem Abriss bewahrt und kann heute von „Zivilisten“ bestiegen werden. 25 solcher Beton-Monster „sicherten“ bis zur Wende die DDR-Küste. Von der Kanzel, heute noch mit einer angeketteten Kalaschnikov bestückt, hatten die Besatzungen einen 12 Seemeilen Blick auf das seeseitige DDR-Territorium. Viele Fluchtversuche jedoch scheiterten tragisch: entweder durch Ertrinken oder in einem Stasi-Knast. In dem Buch von Christine und Bodo Müller „Flucht über die Ostsee in die Freiheit“ werden ausgewählte Schicksale geschildert.
Vom Kapitän der Landstraße zum Hafenchef
Ein paar Schritte weiter und man staunt über den 2001-2004 entstandenen Bootshafen mit geradezu mallorquinischem Flair der umgebenden Häuser. Der Strahlemann mit blauer Latzhose entpuppt sich als Hafenmeister Jens Buchwald, Herr über 400 Liegeplätze, fing seine Karriere bei der damaligen Bundesmarine an und ist stolz darauf, Schnellbootfahrer gewesen zu sein im 2. Und 7. Geschwader auf S „Habicht“. „Fürs Zivildasein hab ich auch den Kraftboot- und LKW-Führerschein gemacht“, erzählt er. 15 Jahre war der gelernte Landmaschinenmechaniker Fernfahrer, bis er den Absprung durch seine Frau geschafft hat. Bei seinem Vorgänger ging er in die Lehre als Assistent, bis er Chef des modernen Hafens wurde, der Boote bis vier Meter Tiefgang aufnehmen kann. „Man kann bei uns schon übers Internet einklarieren und sich den Liegeplatz aussuchen“, wirbt Buchwald für diese vereinfachte Prozedur. Neben 225 Dauerliegern gibt es auch noch das DGzRS-Rettungsboot KONRAD OTTO und sechs Fischkutter mit acht Mann Besatzung. Die garantieren in den Restaurants an der Promenade für täglich frischen Fisch.
Segeln ist wie Ballonfliegen
Nach so viel Theorie möchte man auch gern die Sail-away-Praxis erleben. Einen Steinwurf entfernt wartet schon die VIAMAR, ein 12 Meter langer und 6,50 Meter breiter Katamaran vom Typ Jeanneau Lagoone mit acht Schlafplätzen in vier Kabinen.
An Deck Skipper und Eigner Jan Grunwald. Der studierte Maschinenbauer hat sein Segel-Hobby zum Geschäft gemacht, indem er Zwei-Stunden- oder Charter-Exklusivtörns anbietet (www.viamar.de). Er holte das Boot aus dem Mittelmeer an die Ostsee. Für Stimmung sorgt der fröhlich-entspannte Mittvierziger bei den Gästen, „nur das Wetter kann ich nicht beeinflussen“, lacht er und löst die Leinen.
Zwei 40 PS-Motoren schieben den Siebeneinvierteltonner aus der Marina auf die freie Ostsee. Bis leichter Nordostwind den Wasserspiegel kräuselt und die Segel gesetzt werden sollen. „Man kann alles“, ruft er vom Steuerstand aus, „aber muss gar nichts!“ Doch es finden sich schnell helfende Gasthände, so dass sich bald das Tuch am hohen Mast bläht. Dafür gibt es ein Freibier. Die Flautenschieber verstummen. „Ah!“ hört man aus aller Munde, als es endlich still ist an Bord. „Segeln mit dem Wind ist wie Ballonfliegen“, philosophiert Jan, „man merkt es nicht. Wir kommen voran und strengen uns nicht an“. Mit zwei Knoten gleitet der Katamaran an der Küste von Kühlungsborn entlang, untermalt von Jans heimatkundlichen und touristischen Erklärungen. „Wer baden möchte – nur zu!“, ermuntert er das Schiffsvölkchen. Und schon springen die ersten, gesichert durch eine 15 Meter lange Leine, die er achtern ausbringt, in die 15 Grad frischen, klaren Fluten: ein herrliches Wasservergnügen.
Kleine Küstenkreuzfahrt mit Matjes
Das geht später auf andere Art von der Seebrücke aus weiter: mit dem Oldtimer MS BALTICA. Über Lautsprecher erzählt der Kapitän die interessante Geschichte des Seebäderschiffes: 1959 in Husum an der Nordsee gebaut und als RÜM HART für die Wyker Dampfschiffahrtsgesellschaft (WDG) in Dienst gestellt, bediente der 48,80 Meter lange und 8,30 Meter breite und nur 1,78 Meter tief gehende Inselversorger Föhr, Amrum und Helgoland mit bis zu 660 (heute 321) Passagieren, Post und Gütern.
Seit dem Besitzerwechsel 1982 war MS BALTICA in der Lübecker Bucht und auf der Flensburger Förde zwischen Kappeln und Sonderburg im Einsatz. 1999 wurde das 373-BRZ-Schiff mit seinen beiden 400 PS-MaK-Originalmaschinen, die herrlich im Vierzylinder-Takt bullernd für maximal 12 Knoten sorgen, nach Warnemünde verlegt. Seitdem pendelt es für die dortige Baltic Schiffahrt und Touristik GmbH (BSTW) zwischen den Seebrücken. Auf diese Weise erlebt man das Land auch von der Seeseite her, deren Rückseite man vorher mit dem „Molli“ durchdampft hat. Ein Freiluft-Imbiss bei Rostocker Matjes-Tatar mit Schwarzbrot.
Am belebten Warnemünder Strand vorbei fädelt sich die kleine BALTICA hinter zwei großen Fähren in den Seekanal ein, der von einem riesigen Kreuzfahrtschiff überragt wird. Dass sich die Anläufe hier den deutschen Spitzenplatz erobert haben, gefällt wegen der Abgase zwar nicht allen Warnemündern, aber die gewaltigen Pötte sind für viele andere Seh-Leute eine Attraktion. Vom Restaurant „Teepott“ aus kann man die Schiffsparade abnehmen und bei leckerem Fisch genießen. Bis es wieder per Zug an den Sund geht. Eine Rundfahrt der besonderen Art geht nach drei Tagen zu Ende.
Fotos: Peer Schmidt-Walther