„A JEDER MENSCH HAT HALT ‚NE SEHNSUCHT.“ (Gerhart Hauptmann)

Das Hirschberger Tal in Niederschlesien

Von Margrit Manz

Von der Sehnsucht, sowohl dem Weltweh als auch der Himmelsehnsucht, hat der Dramatiker und Schriftsteller Gerhart Hauptmann jeden seiner Protagonisten in den zahlreichen Romanen und Bühnenstücken träumen lassen. Als einer der bedeutendsten Vertreter des Naturalismus waren ihm die Sorgen und Nöte der kleinen Leute bewusst. Ihre sozialen Missstände und persönlichen Konflikte wollte er öffentlich machen. In seinem Werk „Die Weber“ thematisiert Gerhart Hauptmann den Weberaufstand in Schlesien aus dem Jahr 1844. Im niederschlesischen Agnetendorf (Jagniątków), in dem der Schriftsteller und Literaturnobelpreisträger bis zu seinem Tod 1946 in der Villa Wiesenstein lebte, ist ihm zu Gedenken heute ein Museum eingerichtet.

Gerhart Hauptmann „Haus Wiesenstein“ Agnetendorf

Restaurierte Herrenhäuser, romantische Ruinen und Parks

„Das Wirkliche ist dahinter, versteckt, aber auffindbar. Du musst dir die Dinge nur genau anschauen!“ – so sagt man über die niederschlesische Literatur. Aber es gilt wohl auch für das historische Erbe der Region. Insbesondere im Hirschberger Tal sind die meisten Schlösser und Gärten zu finden. Die atemberaubende hügelige Landschaft war Grund genug, dass sich über Jahrhunderte hinweg viele Adelsfamilien dort niederließen und eindrucksvolle Herrenhäuser, Paläste, Gebetshäuser und Kirchen errichteten. Einige davon haben die wechselvolle Geschichte aus Krieg und gesellschaftlicher Neuordnung überstanden. Seitdem Polen 2004 Mitgliedstaat der Europäischen Union wurde, haben ehemalige Eigentümer dieser Ländereien mit Hilfe von EU-Subventionen und sehr viel Eigenkapital die Restaurierung und Renovierung ihres familieneigenen Besitzes auf den Weg gebracht.

2005 haben sich einige Schlossbesitzer zusammengetan und die Stiftung Schlösser und Gärten im Hirschberger Tal (Fundacja Dolina Pałaców i Ogrodów Kotliny Jeleniogórskiej) ins Leben gerufen.

Heute ist das Tal zu einer touristischen Route von regionaler Bedeutung angewachsen. Besucher können Architekturdenkmäler, wie gotische Burgen und Wehrtürme, Renaissance-Herrenhäuser, Barockschlösser und einzigartige Residenzen aus dem 19. Jahrhundert bewundern.

links: Trompetenengel und Putten mit Pauke im Orgelprospekt der Gnadenkirche

Neben repräsentativen Bauwerken sind hier auch ausgedehnte Landschaftsparks angelegt. So ist eine einmalige Symbiose zwischen den Landschaften des Riesengebirges und des Landshuter Kamms, sowie der architektonischen Baukunst aus vergangenen Jahrhunderten entstanden. Heute haben erfahrene polnische Investoren den Schutz dieser einmaligen Kulturlandschaft und des kulturellen Erbes der Region übernommen.

Einige der aufwändig restaurierten Schlösser, Burgen und Herrenhäuser sind unterdessen in Hotels umgewandelt worden, wo man komfortabel übernachten, in angrenzenden Schlossparks flanieren und wenn man Glück hat, auch die Schlossherren und -herrinnen kennenlernen kann.

Zu den schönsten Schlössern gehören Schloss Lomnica (Lomnitz), Schloss Wojanów (Schildau), Schloss Staniszów (Stonsdorf), Schloss Karpniki (Fischbach) und Schloss Pakoszów (Wernersdorf).

Schloss Wernersdorf – Eine edle Perle der Region

Die Schlossherrin Dr. Ingrid Hartmann hatte eine internationale Gruppe Journalistinnen und Journalisten zu einem Besuch auf Schloss Wernersdorf eingeladen, um sich vor Ort ein Bild zu machen, wie mit großem persönlichem Engagement, aus dem privatem Familienerbe ein beliebter Treffpunkt mit Kunst-, Musik und Kultur-Events für die Öffentlichkeit geworden ist. Den komfortablen Rahmen bildet ein 5-Sterne Hotel mit Restaurants, Konferenzräumen sowie SPA- und Wellnesseinrichtungen.

2005 hatte das unterdessen stark verfallene Anwesen zum Verkauf gestanden. Dr. Hagen Hartmann, ein Nachfahre der Familie, hatte nicht lange gezögert und den Familienbesitz zusammen mit seiner Frau Ingrid erworben.
Ingrid Hartmann erinnert sich an die Anfänge: „ Ja, bis 1945 hatte das Haus der Familie gehört, einer großen Familie mit sechs Kindern.

Festsaal Schloss Wernersdorf mit Deckengemälde

Bei den Familienfesten wurde oft von Wernersdorf gesprochen, als dem Schönsten, was es auf der Welt gab. 1975 sind mein Mann und ich das erste Mal nach Schlesien gefahren und waren erschrocken über den schlechten Zustand des Hauses. Und ich dachte damals, so jetzt habe ich Wernersdorf gesehen, einmal und nie wieder. Anfang des neuen Jahrhunderts sind wir dann noch einmal nach Schlesien gefahren.

Das Kachelzimmer mit holländischen Delfter Fliesen aus dem 18. Jahrhundert

Eine Privatfamilie bewohnte den Seitenflügel, die Welt war eine andere geworden. Als bekannt wurde, dass Ausländer Besitz in Polen kaufen könnten, wenn das Land in die EU kommt, war mein Mann sofort Feuer und Flamme. Er träumte davon, etwas Bleibendes zu schaffen. Ich habe damals eher nach einer Ausrede gesucht. Ja, sagte ich, wenn der Dachstuhl in Ordnung kommt, könnte ich mir das vorstellen. Doch mein Mann war beharrlich und irgendwann habe ich nachgegeben. Wegen des Dachstuhls hatten wir einen Experten gefragt. Der erste meinte, dass ein bis zwei Balken schief seien, aber ansonsten wäre alles in Ordnung. Der zweite sagte, um Gottes Willen, der Dachstuhl müsse völlig runter. Aber unterdessen war der Kaufvertrag schon abgeschlossen.“

Das Ehepaar Hartmann, beide Ärzte in Pension, pendelten viele Jahre lang zwischen ihrer Wohnung im Saarland und Wernersdorf. Schritt für Schritt betreuten sie von 2008 bis 2012 den Wiederaufbau, bzw. den Umbau des Gebäudes. Beauftragt hatten sie den Architekten Christopher Schmidt-Münzberg, um aus dem Familienbesitz ein Boutiquehotel zu machen. Ihm gelang es, barocke und moderne Elemente der Architektur gekonnt miteinander zu verweben. Für die Restaurierung der Decke im barocken Festsaal wurde der Dresdner Maler Christoph Wetzel geholt, der bereits die Kuppel der Dresdner Frauenkirche nach historischem Vorbild neu gestaltet hatte.

Die Hartmanns kümmerten sich sowohl um die repräsentative Eröffnung des Hotels, sowie den Start des Restaurants, bei dem ihnen der erfahrene Gastronom und Spitzenkoch Jörg Glauben behilflich war, als auch um den anschließenden aufwendigen Hotelbetrieb.

Bibliothek in Schloss Wernersdorf

2022 erhielt Frau Dr. Hartmann für ihre Leistungen den Kulturpreis Schlesien des Landes Niedersachsen.

Die Geschichte erzählt sich nicht von allein

Dr. Ingrid Hartmann weiß einiges über die lange Vorgeschichte des Hauses zu berichten: „Seit dem späten Mittelalter gab es die Leinenproduktion im Hirschberger Tal und es

wurde eine besonders dünne Leinenart Voile (französisch für Schleier) gewebt. Vor allem Frauen und Kinder arbeiteten an den Webstühlen.
Nur einheimische Kaufleute, die in der 1638 gegründeten Handelskammer Mitglied waren, durften ihre Produkte in der ganzen Welt verkaufen. Darunter auch die Hirschberger Voile. Sie wurden als „Schleierherren“ bezeichnet und konnten sich wegen der guten Erlöse für das Leinen luxuriöse Familienresidenzen bauen.

links: Frau Dr. Hartmann zeigt ein Kleid aus Voile

1725 wurde das Wernersdorfer Gebäude durch den Kaufmann Johann Martin Gottfried (1685–1737) zum Barockschloss umgebaut. Gottfried war später Bürgermeister und Kirchenvorstand der Gnadenkirche von Hirschberg sowie Schwiegersohn des Hirschberger Leinenhändlers („Schleierherrn“) Christian Mentzel (1667–1748). Im Obergeschoss des Schlosses befanden sich die Wohn- und Repräsentationsräume mit einem großen Festsaal. Ab 1771 übernahm Heinrich Hess (1745–1802), Kaufmann und Direktor der Zuckerfabrik in Hirschberg, den Besitz. Nach ihm wurde das Schloss meist „Hess´sche Bleiche“ genannt. Während das obere Wohngebäude auch als Leinenbleiche genutzt wurde, wurden die Stoffe im Erdgeschoss in Bottichen eingeweicht, gespült und dann auf der Wiese getrocknet. Im Jahr 1856 wurde die Leinenbleiche aus wirtschaftlichen Gründen eingestellt.

Die Familie Hess hatte im Schloss Wernersdorf viele Persönlichkeiten zu Gast, u. a. den Dichter Friedrich Gottlieb Klopstock, den Maler Sebastian Carl Christoph Reinhardt, Hofrat Johann Joachim Christoph Bode, Kriegsrat Jonae und John Quincy Adams, den späteren Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika. Selbst Friedrich der Große kam 1765 und 1777 zu Besuch ins Stadthaus in Hirschberg.“

Investor auf dem Plan

Frau Dr. Hartmann beendet ihren Einblick in die Geschichte des Hauses mit einem Ausblick auf die aktuelle Situation von Schloss Wernersdorf. Man merkt ihr an, wie sie zwar voller Optimismus auf die künftige Ausrichtung blickt, aber auch etwas Wehmut – ein kleiner Abschied – mischt sich in ihre Worte: „ Leider ist mein Mann kürzlich verstorben. Zusammen mit meinen Kindern haben wir überlegt, was zu tun ist. Was machen wir mit Wernersdorf? Durch eine Empfehlung erhielten wir die Telefonnummer von Artur Kozieja, und wir waren uns schnell sicher. Ja, das wird der neue Pächter unseres Anwesens sein. Am 1. April 2023 haben wir das gesamte Wernersdorf in seine Hände gegeben.“

Doch die Familie Hartmann wird weiterhin Besitzer des Schlosses bleiben. Die operative Geschäftsführung liegt nun in den Händen der Europlan-Gruppe, deren Vorstandsvorsitzender Kozieja ist. Er ist gelernter Hotelier und Eigentümer mehrerer Luxushotels und Pensionen, darunter in Karpacz.

Es ist dem liebevoll restaurierten Familienbesitz, in dem nicht nur ein finanzielles Engagement steckt, sondern auch der Wunsch, etwas über die Zeit hinaus zu erhalten und zu bewahren, von Herzen zu wünschen, dass der neue Pächter, die Tradition weiterführen und im Hartmannschen Sinne ausbauen kann.

Dank an die Schlossherrin für die freundliche Einladung

Um noch einmal auf Gerhart Hauptmann zurückzukommen: Die Leinenproduktion hatte viel Geld nach Niederschlesien gebracht, aber nicht denen, die das Leinen hergestellt haben. In seinem Sozialdrama „Die Weber“ hält eine Schar junger Weberburschen in der Wirtsstube Einkehr und gemeinsam stimmen sie das Lied vom „Blutgericht“ an. Als ein Gendarm kommt, um zu melden, dass der Polizeiverwalter das Lied verboten habe, beschließen die Weber zum Fabrikanten zu ziehen und das Lied dort erneut zu singen. Der Wirt kommentiert die Lage so: „Dass die alten Krepper a vollends a Verstand verlieren!“ Worauf ein Lumpensammler antwortet: „A jeder Mensch hat halt ’ne Sehnsucht.“ Durch seine Aktualität avancierte das Stück zum Welterfolg – akut ist es wohl noch immer: „Empört euch!“ war gestern, ist heute und wird wohl auch morgen noch sein.

P.S. Übrigens wurde der Satz „A jeder Mensch hat halt ’ne Sehnsucht“ zum 150. Geburtstag Gerhart Hauptmanns auf eine 10 Euro Münze geprägt.

Fotos: Natasza Sallmann, Schlosshotel Wernersdorf, Miran Kwak

Margrit Manz ist Journalistin und Redakteurin mit Themenschwerpunkt China. Seit über 20 Jahren berichtet sie über Wirtschaftsbeziehungen und Kulturaustausch, informiert über Tourismus und regionale Küche, rezensiert neue Bücher. Ihre Texte werden regelmäßig in Print- und Online-Magazinen in Deutschland und der Schweiz veröffentlicht, u.a. im Magazin RUIZHONG der Gesellschaft Schweiz-China und auf der Internetplattform China Report https://manz-chinareport.com/ Margrit Manz ist Mitglied im Club der Tourismus-Journalisten CTOUR.