CTOUR on Tour: Friedliche Vielfalt der Religionen

Tatarstan ist Teil Russlands und pflegt dennoch seine Eigenständigkeit

Ob Bangkok, Gelsenkirchen oder Florida: Wer Freunde oder Kollegen in seine Reisepläne einweiht, erntet je nach persönlichem Geschmack des Adressaten: Zustimmung, Fragen, Kopfschütteln oder neidvolle Blicke. Wer hingegen erwähnt, dass er demnächst nach Tatarstan reisen wird, erntet: ausnahmslos fragende Gesichter. Tatarstan? Wo liegt das denn? Ist das überhaupt eine eigene Republik? Wie weit ist das von Deutschland entfernt? Kann man da einfach so hinfliegen? Fragen über Fragen.


„Tatarstan – Land of 1.001 Delights“ – der Slogan von „Visit Tatarstan“ ist natürlich nicht zufällig gewählt. Pate standen die Geschichten von Aladin und seiner Wunderlampe sowie Sindbad dem Seefahrer aus dem Märchen von 1.001 Nacht. Und eins vorweg: Tatarstan ist auch märchenhaft schön und bei sehr gastfreundlichen Bewohnern mehr als einen Besuch wert.

Wir fliegen von Frankfurt(Main) direkt: In 3 Stunden 45 Minuten bringt uns ein fast neuer Airbus 320 der Aeroflot direkt nach Kasan. Die 1,2 Millionen Einwohner zählende Stadt ist schon bekannter. 800 Kilometer östlich von Moskau gelegen ist sie Hauptstadt der Autonomen Republik Tatarstan. Die Nonstop-Flugverbindung gibt es zweimal wöchentlich (montags und freitags). Sie wurde erst im Juni dieses Jahres aufgenommen. Als wir im August um 19 Uhr Ortszeit landen, ist es bereits stockdunkel: „Wir haben keine Sommerzeit“, erklärt Dolmetscherin Katja das Phänomen.

Auf einer hell erleuchteten, sehr gut ausgebauten vierspurigen Straße geht es in die City. Augenfällig ist sofort: Tatarstan ist vergleichsweise reich. Möglich machen dies vor allem die Einnahmen aus den zahlreichen Ölvorkommen. Die Infrastruktur ist sehr gut, die Schaufenster prall gefüllt, die moderne Stadt hell erleuchtet. Geländewagen westlicher Produktion sind zahlreich unterwegs, die Menschen auffallend gut und geschmackvoll gekleidet (kein Vergleich zu Berlin!) Und die Bevölkerung ist vergleichsweise jung: 3,8 Millionen Einwohner leben in Tatarstan, 53 Prozent sind Tataren, 40 Prozent Russen.

Typische tatarische Nationaltracht
Typische tatarische Nationaltracht

Tatarstan bezeichnet sich selbst als „Land von Frieden und Harmonie“. Hier leben Menschen unterschiedlichster Religionen friedlich miteinander. 2014 wurde die Republik sogar als „beste Reiseregion Russlands“ ausgezeichnet. So trifft man russische Reisegruppen auf Schritt und Tritt. Bei derzeit 2,8 Millionen Touristen jährlich machen die ausländischen Besucher nur sieben Prozent aus. Das soll sich ändern.

Dafür tun die Landesväter in Kasan und Umgebung sehr viel. Kräne drehen sich zahlreich, eine Uferpromenade entlang der Wolga wird gebaut, Sportstätten modernisiert. Vor allem aber zieht der Kasaner Kreml die Touristen an. Unsere Führerin Katja bringt es wieder auf den Punkt: „Kreml heißt ja nichts anderes als Festung. Moskau hat einen sehr schönen, aber andere eben Städte auch.“ Diese Mischung aus Anerkenntnis des russischen Staats aber gleichzeitig berechtigtem Stolz auf die eigene Republik begegnet uns vielfach während des dreitägigen Aufenthalts in Tatarstan.

Also der Kasaner Kreml: Im Jahr 2000 von der Unesco zum Welterbe erklärt, wurde 2005 die Kul-Scharif-Moschee im Kreml eröffnet. Die Muslime  wollten im Kreml wieder ein Gotteshaus besitzen, was zwar im Vorfeld zahlreiche Diskussionen auslöste, dann aber ein alle zufriedenstellendes Ende fand. Die Kul-Scharif-Moschee ist die zweitgrößte in Russland. Ihren Namen verdankt sie dem letzten Imam vor der russischen Eroberung, Kul Scharif. Vier Minarette ragen bis zu 57 Meter in die Höhe. Der Kronleuchter im Gebetshaus wurde in Böhmen produziert und wiegt über zwei Tonnen! Die Moschee ist nicht nur ein Gotteshaus, sie ist vor allem auch ein Touristenmagnet.

Die „weiße Moschee“ in Weliki Bolgar ist dem indischen Taj Mahal nachempfunden
Die „weiße Moschee“ in Weliki Bolgar ist dem indischen Taj Mahal nachempfunden

50 Kirchen gibt es allein in der Region Tatarstan, die meisten gehören zur russisch-orthodoxen Kirche. Und es gibt 50 Moscheen! Religiöse Auseinandersetzungen sind unbekannt, jeder kann seinen Glauben frei ausleben. Diskriminierung oder gar Verfolgung? Fehlanzeige, wird uns von Vertretern verschiedener Religionen mehrfach versichert.

Schon in der Schule wird Vielfalt gelehrt: „Unsere Kinder lernen russisch und tatarisch und zwar gleichberechtigt und als Pflichtfach“, klärt Katja uns auf, und setzt nach: „Wobei das gar nicht so einfach ist: Unser Tatarisch gehört zur türkischen, russisch zur slawischen Sprachfamilie.“ So hat sich in Kasan selbst Russisch etabliert, in den ländlichen Gegenden um die Hauptstadt herum wird eher Tatarisch gesprochen. Aber beides sind offizielle Staatssprachen. Und es gibt viele bilinguale Ehen in Tatarstan. Darüber wird noch zu sprechen sein.

Am zweiten Tag fahren wir mit dem bekannten „Raketa“-Schnellboot ins 180 Kilometer entfernte Weliki Bolgar. Der Pilgerort für Muslime zählt heute 8.500 Einwohner. Er gilt als Geburtsstätte des Islam in Tatarstan und ist nach dem Kasaner Kreml das zweite Unesco-Welterbe der Republik. Die Natur auf dem Weg ist wunderschön! Die Wolga mäandert, wird an der breitesten Stelle 43 (!) Kilometer breit. Am Ufer glänzen immer wieder mit Gold verzierte prachtvolle Kirchen und Moscheen in der Sonne. Nach 2,5 Stunden legt „Raketa“ pünktlich in Weliki Bolgar an. Seinerzeit größer als Paris oder London galt Bolgar einst als eine der größten und bedeutendsten Handelsstädte am größten Fluss Europas. Auch hier gibt es natürlich Moscheen und Kirchen in üppiger Schönheit. Eine davon, die „weiße Moschee“, ist dem indischen Tajmahall nachgebaut. 88 Säulen zählen wir, der Marmor wurde aus Italien geholt. Und: Bolgar beherbert die größte gedruckte Ausgabe des Koran. Das Buch wiegt über 800 Kilogramm, ist 2,5 Meter hoch und 1,5 Meter breit. Der Umschlag besteht aus edlem Kalbsleder, ist mit zahlreichen Edelsteinen verziert.

Gäste werden gleich doppelt freundlich empfangen: russisch mit Brot und Salz, tatarisch mit Tschak-Tschak, einer leckeren Süßspeise
Gäste werden gleich doppelt freundlich empfangen: russisch mit Brot und Salz, tatarisch mit Tschak-Tschak, einer leckeren Süßspeise

Am Abend sprechen wir mit Jekaterina Barabanova, 1. Stellvertreterin des Vorsitzenden des Staatskomitees für Tourismus, bei uns wäre das wohl eine stellvertretende Ministerin. „Für die Fußball-Weltmeisterschaft 2018 sind wir in Kasan mit 140 Hotels, zahlreichen Ferienwohnungen und unserem neuen Stadion schon jetzt gerüstet“, erklärt sie. Es sei ohnehin die Strategie Tatarstans bis 2030, durch gezielte Großveranstaltungen mehr auf sich aufmerksam zu machen. Nach einheimischen Touristen kommen die meisten aus China, der Türkei und Deutschland. „Aber jährlich sind es eben nur 7.000 Deutsche, die uns besuchen, das muss mehr werden“, formuliert die Tourismuspolitikerin das Ziel.

Kasaner Kreml vom Wasser aus
Kasaner Kreml vom Wasser aus

Einen Tag später tauchen wir dann in die russische Kultur ein. Die Inselstadt Swiyazhsk liegt 60 Kilometer von Kasan entfernt. Knapp 300 Menschen leben auf der Museumsinsel. Sie diente einst Iwan dem Schrecklichen als Festung, um Kasan zu erobern. Auf der „Insel von Krieg und Frieden“, erlebt man sehr anschaulich das Leben der Tataren, Bogenschießen und Reiten inklusive. 37 Kulturstätten zählen wir auf Swiyazhsk, einige haben bereits die Aufmerksamkeit der Unesco auf sich gezogen. Vielleicht  kann Tatarstan ja bald mit einem dritten Welterbe aufwarten.

Feierabendverkehr in Kasan: O-Busse zahlreich unterwegs
Feierabendverkehr in Kasan: O-Busse zahlreich unterwegs

Zurück nach Kasan im Feierabendverkehr. Die Staus halten sich in Grenzen. „Das war vor Jahren ganz anders“, erklärt Katja, „wir brauchten bis zu zwei Stunden, um einmal die Stadt zu queren.“ Inzwischen gibt es eine U-Bahn mit zehn Stationen, die die Satellitenstädte in der Umgebung mit dem Stadtzentrum Kasans verbindet. Und es gibt breit ausgebaute Straßen mit vielen Bussen und O-Bussen. Kein Wunder, Elektrizität ist günstig. Das ÖPNV-Ticket kostet 25 Rubel (30 Cent) und gilt ohne verwirrende Zeit- und Tarifzonen. „Egal, ob wie eine oder 100 Stationen fahren, egal ob drei Minuten oder zwei Stunden, der Preis ist immer gleich“, sagt Katja.

Kasaner Kessel: Hochzeiten im 20-Minuten-Takt
Kasaner Kessel: Hochzeiten im 20-Minuten-Takt

Am Abend vor der Abreise besuchen wir den „Kessel von Kasan“. „Kasan heißt Kessel, und so haben wir uns entschieden, einen solchen zu bauen“, erklärt Katja. Das Bauwerk ist 32 Meter hoch und beeindruckt schon bei der Anfahrt. Die Bauweise geht auf den traditionellen tatarischen Kochtopf zurück. Der Kasaner Kessel ist heute der Hochzeitspalast der Stadt. Im 20-Minuten-Takt geben sich hier Paare in drei Hochzeitssälen gleichzeitig das Ja-Wort. 3.000 Rubel (etwa 43 Euro) kostet eine Trauung hoch über dem Fluss Kazanka – Panoramablick vom Dach des Kessels inklusive. In Spitzenzeiten schließen 70 Paare täglich hier den Bund fürs Leben. Kritiker sprechen schon von „Fließband-Hochzeiten“, die allerdings auch ihren Preis haben: Die Scheidungsrate liegt bei 50 Prozent, die Regierung versucht mit psychologischer Beratung gegenzusteuern. Bei aller vorbildlich gelebten Religiösität und dem berechtigtem Stolz auf Vergangenheit und Gegenwart: Im Scheidungsverhalten sind die Kasaner eins mit anderen Völkern Europas.

Das zeigt sich auch beim Bummel am letzten Abend über die „Baumann-Fußgängerzone“: Cafes und Restaurants mit Gerichten aus aller Welt buhlen um Kundschaft, Straßenmusiker um ein paar Rubel, die Leute flanieren und konsumieren wie in jeder westlichen Stadt auch. Schade, dass am nächsten Morgen der Flieger zurück nach Frankfurt abhebt. Wir hatten uns gerade so schön eingelebt in dieser friedlichen Vielvölkerrepublik. Da müssen wir unbedingt noch einmal hin! Selbst wenn Freunde und Kollegen Fragezeichen im Gesicht haben ….

Fotos: F. Hafner