CTOUR on Tour: Zwei Mal über den Atlantik geschwommen…

Sechs Wochen, neun Häfen, 13.204 Seemeilen: mit MS NORDISABELLA Kurs Lateinamerika

Masten überragen die weit geschwungene Köhlbrand-Brücke. Fast wie zu Hamburgs besten Segelschiffs-Zeiten, nur heute eben komplett anders: ein 400-Meter-Riese hinter dem anderen. Schwindelerregend ihre Kapazität. Containerschiffe der Superlative mit 20.000 Blechkisten. Nicht gerade Design-Schönheiten, wohl aber effizient wie nie zuvor.

„Für mich ist“, philosophiert der ergraute Eurogate-Terminalbusfahrer und ehemalige Fahrensmann, „so´n Kasten mehr oder weniger nur ein Stahlkörper“, „denn erst die Seeleute geben dem so was wie ´ne Seele“. Wie sehr er damit Recht hat, soll sich bald zeigen.
„Denn man gute Reise!“, wünscht er zum Abschied und braust mit rundum gelb blinkendem Warnlicht davon. Kaum am Fuß der Gangway angekommen, wieselt ein weißbehelmter dunkelhäutiger Overallmann die Stufen herab, strahlt zur Begrüßung, schultert den Rucksack des einzigen Passagiers und klettert mit seiner Last leichtfüßig die steile Treppe hinauf an Deck. Service à la Grand-Hotel.

Mein Schiff mit Nebenbei-Training
Wegbegleiter für die bevorstehende Reise ist ein Satz des französischen Philosophen Blaise Pascal aus dem 17. Jahrhundert: „Die Abenteuer beginnen, wenn wir unser Zuhause verlassen“. Und das schon im IC, der in einem kleinen mecklenburgischen Bahnhof unplanmäßig halten muss. Mit Tränen in den Augen steigt dort eine junge Polin zu. Ihr Zug sei vorzeitig ohne sie und ihren Koffer abgefahren, stammelt sie. „Dabei wollte ich nur auf die Bahnhofstoilette, weil die im Zug geschlossen war“. Die Schaffnerin ist alarmiert und die Frau bald beruhigt. Über Zugfunk wird das Gepäckstück sichergestellt. „Zum Glück ist das hier kein Schiff“, erzähle ich ihr über meine bevorstehende große Reise, „dann hätten Sie mehr Pech gehabt“.

Reiseroute MS NORDISABELLA
Reiseroute MS NORDISABELLA

Doch „mein“ Schiff liegt noch brav an der Pier. Der wachhabende Matrose notiert den Neuzugang vorschriftsmäßig im Wachbuch und gibt dann den Weg frei ins hohe Deckshaus der NORDISABELLA. Fahrstuhl? „Don´t have!“ Dafür schleppt man sich über sieben Decks und 70 Stufen fast senkrecht nach oben und kommt, weil ungeübt, ziemlich aus der Puste. Allemal ein optimales „Nebenbei-Training“.

Wie unter Freunden
SPARE OFFICER steht auf dem Schild über der Tür, was so viel heißt wie „Reserve-Offizier“. Passt – maßgeschneidert zum Kapitänleutnant der Reserve der Deutschen Marine, der hier die nächsten sechs Wochen sein Zuhause hat. Eine „Kommandanten-Kammer“. Zweckmäßig, minimalistisch, so der erste Eindruck: breites Doppelbett für optimalen Schlafkomfort, Couch, Tisch, Regal, Schreibtisch, Stuhl, Kühlschrank, Kleiderschrank, Bad mit Dusche und WC. Fußboden in hölzerner Decksstruktur. Alles in hellem, ansprechenden Design. Leider: hinter dem einzigen Fenster die Rückseite eines Kühlcontainers. Wäre der nicht, hätte man einen weiten, ungebremsten Blick über das Vorschiff auf die See. Nun ja, hätte…Ende der Träumereien und immer dran denken: Dies kein Lust-, sondern ein Frachtschiff. „Lebende Ladung“ ist zweitrangig. Oder?
Plötzlich ein Klopfen am Türrahmen: der Hausherr, erkennbar an vier goldenen Streifen auf den Achselklappen des blütenweißen Hemdes: „Welcome on board!“ Sagt´s und streckt einem wie unter Freunden die Hand entgegen, „captain Denis Pankratov“. Der drahtige 41-jährige Russe wohnt, wie man erfährt, mit seiner Familie nahe am Schwarzen Meer. Welcher Generaldirektor eines Hotels würde einen Gast so persönlich empfangen?! Man kommt sich schon ein bisschen privilegiert vor.

Seeroutine und Kalorien verbrennen
Pankratov nimmt sich, trotz Hafenstress, Zeit für den Neuen, der jetzt sein Nachbar ist. „Sie stehen ab sofort unter meiner Aufsicht“, zwinkert er. Dann Smalltalk mit ersten Hinweisen, zum Beispiel über das bevorstehende Abendessen und die Auslaufzeit früh um sechs am nächsten Morgen. Der Master entschuldigt sich: „Wir können uns nachher in der Messe weiter unterhalten“ und widmet sich wieder seinen Papierstapeln. Während der abgelöste Erste Offizier nach vier Monaten Fahrtzeit nur noch den wohlverdienten Urlaub im Sinn hat. Sein lettischer Nachfolger Vilnis Kaudze ist gerade aus Riga eingeflogen. Lange Reisen mag er eigentlich nicht, gesteht er: „Da denkt man zu viel nach“. Wenn die Häfen Schlag auf Schlag kommen, habe man keine Zeit dazu. So gesehen…Während andere wieder die ruhige Seeroutine schätzen.
Dann das erste Captains Dinner. Kein Privileg, sondern bald tägliche Routine in der Offiziers-Runde. Der Küchenfahrplan vom srilankanischen Smutje Udara Sampath Wahumpurage, kurz und unkompliziert nur „Cookie“ genannt, kann sich in Theorie und Praxis sehen lassen.

Der Autor am Ruder wie in jungen Jahren
Der Autor am Ruder wie in jungen Jahren

Auch wenn´s vielleicht schwerfällt, Treppensteigen muss man hinterher und kann nebenbei gleich ein paar Kalorien verbrennen. Weitere „weight watchers“: Decks-Walking, Fitness-Raum und Swimming Pool. So gerät man unter Garantie nicht aus den Fugen.
Wie es mit der Frühstückszeit sei: Ob es nicht vielleicht auch später ginge – wegen des Ausschlafens. „No problem!“, strahlt auch er, Kaffee und Tee seien immer da, das andere finde man im Kühlschrank und in der Messe.

Seefahrt pur ohne Garn
Was macht man, wenn man in einem Hafen nicht an Land gehen will oder kann? Richtig, das Leben im Hafen beobachten. Das tobt in Hamburg allemal. Untermalt von der ewigen Kakophonie der fiependen Containerkräne und röhrenden Straddle-Carrier-Monster mit ihren Blechkisten im Bauch. Die unüberhörbare wirtschaftliche Erfolgs-Melodie der Elb-Metropole.
Ein Frachterriese läuft aus, ein anderer ein. Genügend Fotomotive aus einer außergewöhnlichen Perspektive. Vom Peildeck in fast 40 Metern Augenhöhe mit den Schiffsmonstern hat man die. Samt Panoramablick über die Containergebirge hinweg auf die Türme der Hansestadt. Deren Turmuhren spiegeln die untergehende Sonne vielfach als goldene Scheiben, während im Süden der Vollmond grinsend durch das Filigran der Containerkräne klettert. Wer könnte sich dieser Romantik entziehen?!
Auf der Elbe schleicht nach einem Abschieds-Feuerwerk mit dröhnendem Typhonkonzert die QUEEN ELIZABETH 2 vorbei. Viele stehen an Deck, um das Schauspiel zu genießen. Dieses Privileg hat man als NORDISABELLA-Passagier exklusiv. Nicht nur das: auch sich an Bord überall – ebenso auf der Brücke und im Maschinenraum – frei bewegen zu können. Seefahrt pur ohne Beschränkung auf öffentliche Räume, ohne jegliche Zwänge – bis auf die üblichen Sicherheitsvorschriften, die überall Priorität haben.
Wer´s mag, der ist hier vollkommen richtig. Vor allem auch, Kontakt zu den Seeleuten haben, mit ihnen reden und ihnen zuhören. Wobei man viele Geschichten hört, in den seltensten Fällen „Seemannsgarn“. Das ist überwiegend sehr real und trotzdem oft unglaublich. Menschen aus elf Nationen können eben was erzählen.

Hamburg vergoldet achteraus
Grummeln um 06.25 Uhr. Die Hauptmaschine wird gestartet. We are sailing, möchte man singen, es geht los! Mit den Leinen klatscht die Gewissheit ins Wasser, dass es die nächsten 5403 Seemeilen oder 13 Tage keinen Landgang gibt.
Zwei Schlepper zerren NORDISABELLA von der Pier ins Hafenbecken. Bis sie die Trossen loswerfen und der 35.000-Tonner in die Elbe eindreht. Achteraus vergoldet die aufgehende Sonne die zarte Stadtsilhouette, während der Nobelvorort Blankenese noch im Halbdunkel dahindämmert. NORDISABELLA nimmt die Parade der schlummernden Villen ab. Querab Glückstadt verhüllen aufkommende Nebelschwaden Fluss und Marschlandschaft über die Ländergrenze von Schleswig-Holstein und Niedersachsen hinweg. Bis sich vor Brunsbüttel die Sommersonne Bahn bricht und den Blick auf Schleusen und den „Graben“ freigibt, wie Seeleute den Nord-Ostsee-Kanal nennen.

MS NORDISABELLA an der Pier
MS NORDISABELLA an der Pier

Lotsenwechsel. Man stutzt und glaubt seinen Augen nicht zu trauen. Da stehen sich auf der Brücke plötzlich alte Bekannte gegenüber. „Wir sind doch mal gemeinsam auf der…gefahren“, hört man das unverkennbar fränkische Idiom. Ein maritimes Original, bärtig und wohlbeleibt, aber ein erzählfreudiger Gemütsmensch. Trotz ständiger Konzentration auf das Fahrwasser. „Man sollte auch Fensternavigation betreiben“, meint er beim Blick durch die großen Brückenscheiben, „denn die jungen Leute starren heute nur noch auf die Bildschirme“. Und: „Wer von denen kann noch mit dem Sextanten umgehen, wenn mal die Systeme ausfallen?!“ Zu seiner Freude entdeckt er ein Exemplar hinter dem Kartentisch, auf dem tatsächlich noch eine Seekarte liegt, in die Position und Zeit eingetragen werden müssen.
Cuxhavens „Alte Liebe“ und Kugelbake ziehen an Backbord vorbei, dann die Inseln Neuwerk und Scharhörn. Voraus das leuchtend rote Doppelrumpf-Lotsenstationsschiff ELBE, das seinen Katamaran-Tender DÖSE losschickt, nachdem der Lotse die Treffzeit gemeldet hat. Noch ein Abschied mit Gute-Reise-Wünschen.

Grundlos gefürchteter Pentland Firth
Dann beginnt endgültig die große Seereise. Nicht etwa durch den Englischen Kanal und die bewegte Biskaya, sondern an Helgoland vorbei mit Nordwest-Kurs auf Nordschottland zu. Sozusagen obenherum, das ist ungewöhnlich. „Unser Charterer Hamburg Süd“, so erklärt Kapitän Pankratov, „hat die Route empfohlen. Ich habe dementsprechend entschieden, durch den Pentland Firth zu fahren: weniger Schwell, mehr Geschwindigkeit, sogar 35 Seemeilen kürzer, Spritersparnis und kaum Verkehr“. Warum manche Kapitäne diese Strecke jetzt fürchten, könne er nicht verstehen.
Wie sich am nächsten Mittag zeigt, presst zwar ein starker Acht-Knoten-Strom gegen den Steven, so dass die Geschwindigkeit auf nur elf Knoten abfällt, aber das Fahrwasser ist breit und bis auf zwei passierende Fähren zwischen den Orkney-Inseln und dem Festland ruhig.

Das reichlich gedeckte Grill-Büffet mit Smutje und Offizieren
Das reichlich gedeckte Grill-Büffet mit Smutje und Offizieren

Der berüchtigte Pentland Firth ist von Regenwolken verhüllt, die Sicht fällt ab auf unter zwei Seemeilen, so dass ein Ausgucksmann die Brücke verstärken muss. Diese Unsichtigkeit indes hat Kapitänleutnant Günter Prien im Zweiten Weltkrieg taktisch genutzt, als er sich mit U 46 in die Bucht von Scapa Flow pirschte und einen Teil der hier ankernden britischen Homefleet versenkte. Während wir hier als friedliches Kauffarteischiff unseres Weges ziehen. Nur kurz gibt die durch das Gewölk blitzende Sonne die schottische Steilküste frei, zu deren Füßen einsame Sandstrände locken. Fast wie in der Karibik.
Die Handys, letzter Landkontakt, verstummen endgültig. Wir sind allein in den endlosen Weiten des Nordatlantiks. Der 360-Grad-Horizont wie leergefegt. Außer uns kein weiteres Schiff in Sicht, was auch eine Woche lang so bleibt.
In der Maschine wird jetzt umgestellt von teurem, schwefelarmen Diesel- auf preiswertes Schweröl. So wollen es die IMO-Vorschriften. Insgesamt schwappen rund 2600 Tonnen Treibstoff in den Bunkern. „Was für eine 13.204-Seemeilen-Rundreise oder 42 Tage reicht“, wie der ukrainische Chief Andriy Vlasenko aus Sewastopol betont.
Mit Schiebewind und fast 19 Knoten Maximalgeschwindigkeit, so zeigt das Log, pflügt der mit 9,80 Metern Tiefgang optimal beladene Frachter bei nur 85 Prozent Leistung durch die endlose graue See. Im schäumenden Kielwasser überstürzen sich die Sahnehäubchen aus Gischt.
Die Uhr wird nachts zum ersten Mal um eine Stunde zurückgestellt. Das heißt eine Stunde länger schlafen, heimwärts umgekehrt. Insgesamt acht Mal. An die Nächte muss man sich allerdings gewöhnen. „Dank“ Vibrationen und Maschinengestampfe kommt man sich vor wie auf einem Rüttelsieb.

Schöne Worte und Bord-Realität
Versammlung nach Großreinschiff und Kaffepause im Mannschafts-Aufenthaltsraum: „Ich möchte euch“, beginnt Kapitän seine kurze Rede, „ein neues Familienmitglied vorstellen, damit keiner rätselt, was der hier macht, CIA-Agent oder so…“ Eine ungewöhnlich nette Geste, die alle mit Beifall quittieren. Nun weiß jeder Bescheid über den Gast, und die Gerüchteküche verstummt.

Abendstimmung beim Grillen auf dem Achterdeck
Abendstimmung beim Grillen auf dem Achterdeck

Denis Pankratov weiß, worauf es bei der Menschenführung ankommt: „Gute Ergebnisse generiert man nur dann, wenn die Qualität des Teams stimmt. Jeder engagiert sich, bringt seine Stärken ein, ist fair im Umgang und als Person verlässlich – getreu dem Motto: Alle ziehen wie eine Familie an einem Strang, das motiviert. Genauso ein abgewogenes Verhältnis von Lob und Tadel, denn gute Arbeit stärkt das eigene Wohlbefinden“. Dazu gehören, so will es die Reederei-Policy, auch Respekt, Toleranz und Höflichkeit.
Nur schöne Worte? Gelebte Bord-Realität auf MS NORDISABELLA. Crew-Mitglieder aus elf Nationen werden darin von ihrem Kapitän konsequent unterstützt. Der kümmert sich gemeinsam mit dem Koch auch um den Lebensmittel-Einkauf, „damit das Essen abwechslungsreich ist, was wiederum auf die Leistungsbereitschaft stärkt“. Sich bei Koch und Steward Kanare Uati, der auch täglich die Kammern putzt, nach den Mahlzeiten zu bedanken, ist selbstverständlich.

Ruhe vor dem Sturm
Neben dem Schiff segeln seit mehreren Stunden in elegantem Tiefflug zwei graue Sturmvögel, die zwischendurch sogar auf einem Container pausieren wie zwei kleinere Singvögel. Diese Tramps fahren mit als „Stowaways, blinde Passagiere“, und sparen dadurch Energie. Aber bescheren dem Vorschiff, ihrem Rastplatz, auch ätzende weiße Kotspuren auf der frischen Farbe. Das bedeutet für die Matrosen Mehrarbeit.
Am dritten Seetag fällt der Luftdruck rapide. Vorbote für bewegteres Wetter. „Normal auf der nördlichen Route, auch um diese Jahreszeit“, weiß Kapitän Pankratov. Ein riesiger Tiefdruckwirbel nähert sich von Nordwest. „Wir fahren zwar mitten durchs ruhige Zentrum“, informiert er, „aber den Rand streifen wir noch. Das bedeutet schweres Wetter“. „Wenn sich die Vögel nicht verstecken“, fürchtet der mitfühlende Kapitän, „werden die Tierchen von diesem Sturm glatt weggepustet“.
An Bord wird alles lose Gut gelascht und festgezurrt, die Außentüren werden verschlossen. An Deck darf niemand ohne Erlaubnis des Kapitäns. Doch das in der letzten Dienstbesprechung per Protokoll festgelegte Arbeitspensum geht weiter. Innendienst steht bei Schlechtwetter auf dem Plan.

Unter den Auslegern von Kran 1 in Vormasthöhe
Unter den Auslegern von Kran 1 in Vormasthöhe

Der Medaillenspiegel der gerade in Rio zu Ende gegangenen Olympischen Spiele ist hier draußen egal. Auch die über Satellit hereinkommenden Nachrichten, die der Kapitän als Bordzeitung verteilt, verlieren auf See ihre scheinbare Bedeutung. Denis Pankratov freut sich zwar über die russischen Medaillen, doch es gibt ganz andere Themen. Meistens entwickeln die sich nach den Mahlzeiten im Treppenhaus beim langen Aufstieg in die Höhe. Mit entsprechenden Pausen. Wir nennen das „Stairway communication“ und überbrücken so problemlos den steilen Weg nach oben.

Zwischen Eisbergen und Bermuda-Dreieck
Halbwegs zwischen Schottland und Neufundland auf 55° Nord fängt NORDISABELLA an, sich unwillig bei bis zu acht Windstärken zu schütteln. Gegen Nachmittag haben sich sechs Meter hohe Wellen in der schräg von vorn anlaufenden See und seitlichem Schwell aufgetürmt. Gischtwolken fetzen jedes Mal über NORDISABELLA hinweg, wenn die Wellen gegen ihre Steuerbordflanke knallen und dann geradezu explodieren. Aber dank ihrer Breite und reduzierter Geschwindigkeit – „damit Schiff und Crew nicht gestresst werden“, so der Kapitän – bleibt es erstaunlich ruhig, kaum Roll- oder Stampfbewegungen.
Seesalz liegt in der feuchten Luft. Rost ist vorprogrammiert. Aber noch glänzt das erst sieben Monate junge Schiff fast überall vor frischer Farbe. Dennoch ist der Bootsmann mit seiner Pinsel-Truppe ständig unterwegs, um kosmetische Korrekturen vorzunehmen und alles an Deck am Laufen zu halten. Arbeiten, die für Seeleute nie aufhören.
Die Wassertemperatur zeigt nur noch elf Grad, die Luft kaum mehr. In der Seekarte sind vor Neufundland und Labrador Gebiete eingezeichnet, in denen Eisberge vorkommen. Man glaubt ihren eisigen Hauch schon zu spüren. NORDISABELLA tangiert das nicht, sie wird das Gefahrengebiet südlich passieren. Während sich weiter im Süden, im berüchtigten „Bermuda-Dreieck“, ein Killer-Hurrikan entwickelt mit bis zu zwanzig Meter hohen Wellen, die tödlich sein können. „Da rutschen wir zum Glück gerade durch die Florida-Straße an Kuba vorbei in den Golf von Mexiko“, freut sich Kapitän Pankratov. Die kleine Hamburger Bachstelze hat es schlechter getroffen und nur bis Neufundland geschafft. Trotz Wiederbelebungsversuchen mit Körnern und Wasser ist ihr zartes Leben unter der Grünpflanze in der Messe zu Ende gewesen. Letzter Flug über Bord – zum Seemannsbegräbnis.

Schönwetter mit Pfeiftönen und Technik
Am nächsten Morgen nordwestlich von Neufundland: wie weggeblasen der Tiefdruck-Spuk, von der Sonne nur unschuldig belächelt. Achteraus erinnert nur noch ein schwarzgrauer Streifen am fernen Horizont an das vergangene Wind- und Wellen-Theater. Jetzt hämmern, schleifen und klopfen sie wieder, die Matrosen. Ein Kärcher-Trupp rückt der Salzkruste und dem Hafendreck mit Hochdruck zu Leibe. Schönwetter-Alltag. Den nutzen auch Erster Offizier Vilnis Kaudze und Kapitän für eine Inspektionsrunde. Akribisch werden Roststellen oder nicht gangbare Teile per Handykamera dokumentiert für Bootsmann Volodymyr Konkov. Seine Männer von den Kiribati-Inseln in der Südsee haben damit die nächsten Tage vollauf zu tun. Während man als Passagier weiter die Segelschiffsstille auf der Back mit unverbautem 270-Grad-Blick genießen kann. Tief unten rauscht nur die Bugsee. Sehr beruhigend. Das macht den Kopf frei von allen tagespolitischen Aufgeregtheiten, die einen an Land noch vor kurzem beschäftigt haben.
Bis plötzlich schrille Töne neben dem Vorschiff die Runde unterbrechen. Kurze Schaumstreifen, dann Rückenflossen. „Delphine!“ rufen alle wie aus einem Mund. Schon katapultieren sich die pfeifenden Meeressäuger aus dem Wasser und begrüßen freudig NORDISABELLA, die sich dazu wie eine Diva sanft in den Hüften wiegt. „Jetzt läuft sie 19 Knoten wie durch Butter“, freut sich Pankratov, „obwohl wir nur für 18 Knoten Sprit verbrauchen, dank mitlaufendem Strom. Wenn wir aber auf den Golfstrom vor der US-Ostküste treffen, wird das umgekehrt sein“. Nebelschwaden und steigende Wassertemperaturen sind erstes Indiz dafür. Das Typhon brüllt vorschriftsmäßig warnend alle zwei Minuten gegen die dicke Suppe an. Auf der Brücke unterstützen Kapitän und Ausgucksmann den Wachoffizier. Wir erinnern uns daran, dass nicht weit von hier 1956 die Passagierschiffe STOCKHOLM und ANDREA DORIA im Nebel kollidierten, trotz Radar mit verheerenden Folgen. „Drum ist es wichtig“, unterstreicht Kapitän Pankratov, „bei so geringer Sichtweite auch Augen und Ohren als Navigationsmittel einzusetzen“.

Im blitzsauberen Kellerreich
Tief unten im Herzen des Frachters spürt man nichts von alledem. Wer dafür eine Ader hat, liegt beim ukrainischen Chief-Ingenieur Andriy Vlasenko genau richtig. Der ruhige Mann ist Herr über viele tausend „Pferde“, die pro Tag bis zu 48 Tonnen Schweröl schlucken, je nach Fahrtstufe. Priorität habe der Treibstoffverbrauch, erklärt er. Als oberster Bordtechniker residiert er im klimatisierten und lärmgeschützten Maschinenkontrollraum vor den Überwachungsmonitoren und hat Tagschicht wie alle in der Maschine, die nachts unbemannt ist. Vlasenko freut sich, dass er den Besucher durch das blitzsaubere Kellerreich führen kann. „Das soll auch so bleiben“, sagt er, „solange ich hier Chief bin!“
Zum Schluss der technischen Lektion verrät er augenzwinkernd sein Berufsgeheimnis: „Wir von der Maschine sind nämlich die Wichtigsten an Bord, denn ohne uns könnten die Nautiker nicht fahren“. Die hingegen empfinden das natürlich genau umgekehrt. Uralte Rivalitäten und Frotzeleien zwischen „oben und unten“ wie auf jedem Schiff.

Matrosen in Aktion
Matrosen in Aktion

Dafür sehen „die da oben“ mehr: zum Beispiel eine blasende Herde Blauwale, die sich auf den Flachs – gerade mal 50 Meter tief – der neufundländischen Grand Banks tummeln. Denn hier gibt´s Futter satt für Riesen und Zwerge wie später die fliegenden Fische, die schon am nächsten Morgen aus dem tintenblauen Wasser vor der amerikanischen Ostküste schnellen und durch die seidig-warme Sommerluft segeln. Ein Schauspiel, von dem man sich nur unschwer losreißen kann.

Romantische Seite des Kapitäns
Oder man erlebt auf der Brücke einen Sonnenuntergang, wie ihn selbst Kapitän Denis Pankratov in diesem oft sehr rauen Seegebiet noch nicht gesehen hat: „Einfach traumhaft!“ „Die See ist für mich“, schwärmt der temperamentvolle, aber ansonsten sehr sachorientierte Kapitän, „die lebendigste Landschaft Wasser, das Element der Verwandlung“. Und er zeigt seine romantische Seite angesichts der vergoldeten See: „Sie ist weich und hart, glatt und rau, manchmal still und dann wieder aufwühlend wild. Farben, Oberflächen, Licht und Stimmungen ändern sich ständig. Der Stand der Sonne und der Wolkenzug geben dem Wasser und seiner Weite ein Gesicht. Freundlich-einladend oder abweisend kalt. Man muss das nur sehen können und wollen“. Was allen verborgen bleibt und nur aus der Seekarte abzulesen ist: die Berg- und Talfahrt über Seamountains, untermeerische Gebirge. Die steigen vor der US-Ostküste plötzlich aus 6500 Metern Tiefe auf und gipfeln bei 1000 Metern unter der Wasseroberfläche. Und NORDISABELLA schwebt darüber wie auf Wolken.
Während tief unten im Schiffsbauch unablässig das kräftige Herz wummert, stimmen die verspannten Stahlkisten ihre eigene Melodie an: Es knistert, ächzt, brummt, klopft, quietscht, schnarrt, scheppert, sirrt, zirpt und knallt in den Kartons. Ständiger Begleitsound beim Decks-Walking. Die Sonne lacht dazu: auf jetzt 41°N und 53°W bei angenehmen 25 Grad – mit steigender Tendenz. Bis zur Heimreise kann die Windjacke wieder im Schrank verschwinden. Weit hinter dem westlichen Horizont indes stöhnen die New Yorker unter der Sommerhitze. Während der Kapitän die Bord-Badesaison offiziell für eröffnet erklärt: bei angenehmen 26 Grad im atlantischen Meerwasser-Wellen-Pool, der sich in den kommenden Tagen bis zu 31 Grad aufheizen soll.

Zwischen Transsilvanien und Südseeinseln
Bomben-Suche und Piraten-Alarm am Nachmittag. Aber nur zur Übung, denn die Vorschriften verlangen ständiges Sicherheits-Training. Was nicht perfekt gelaufen ist, kritisiert Erster Offizier Vilnis Kaudze konsequent-freundlich im anschließenden Briefing, verteilt aber auch Lob. „Nur so kann man motivieren, nicht indem man rumbrüllt“, lautet sein pädagogisches Credo.
Zeit für Bootsmann Volodymyr Konkov, auf dem Poop-Deck den Grill anzuheizen. Schon tags zuvor hat Smutje Udara leckere Salate und mariniertes Fleisch vorbereitet. Der Kapitän spendiert die Getränke. Das Barbecue, kurz BBQ genannt, kann steigen. Einmal pro Reise. „Die Grill-Party ist jedes Mal ein Höhepunkt für uns alle“, weiß Denis Pankratov.
Wir delektieren uns an Shrimps, Würstchen, Steaks, Thunfisch, Puten- und Hähnchenschnitzel mit diversen Dips und Salaten. „Auf die Sattmacher verzichte ich da lieber“, gesteht der sportliche Kapitän und packt sich noch mal gegrillte Shrimps pur auf den Teller. Eine lockere Bier-Runde, bei der alle auftauen. Vom rumänischen Dritten Ingenieur Daniel und seinem Landsmann Marian erfährt man haarsträubende Schauergeschichten aus Graf Draculas Reich Transsilvanien und über das Herumgeistern von an Bord Verstorbenen, aber auch über das von Korruption geprägte Leben in ihrer Heimat. Die Kiribatis freuen sich nach elf Monaten Seefahrt auf ihre Südseeinseln, wo die Familien von Fischfang und bescheidener Landwirtschaft für den Eigenbedarf leben. Der Bordgast bekommt sogar ein Tuch als Geschenk, den traditionellen Rock der Südsee-Insulaner. Ihre Lieder zeugen von starker Sehnsucht nach der fernen Heimat. Meint der Chief grinsend dazu: „Wenn nach drei Wochen der Streit mit der Frau anfängt, wird´s wieder Zeit, auf See zu gehen“.
Maschinen-Kadett Upula aus Sri Lanka empfiehlt, gegrillte Shrimps wie daheim mit Schale zu essen, „da erspart man sich mühsames Auspuhlen“. Allen gemeinsam ist, dass ihnen das Fahren mit gemischter Crew Spaß macht. „Hier toleriert und respektiert jeder jeden“, ist Zweiter Offizier Kangjin He aus China überzeugt. Ihn faszinieren die fantastischen Wolkenformationen und der Sonnenuntergang: „Die Fotos schick ich meiner Freundin“, strahlt der stille, bescheidene Mann.
Wetterleuchten meißelt in Sekundenbruchteilen Sagengestalten aus den abendlichen Quellwolken-Türmen am fernen Horizont. 29 Grad warmer Wind umfächelt die fröhlichen Party-Gäste. Unter der funkelnden Milchstraße, die mit Sternschnuppen schießt, verglühen schließlich die geheimsten Wünsche. Ringsum nur schwarzer schiffsleerer Ozean. Der Dritte Andriy Lesnikov hat dafür kein Auge, denn er muss „Hausaufgaben“ am PC erledigen. Sein Kiribati-Wachmatrose hält Ausguck und starrt still in die Finsternis.

Kopfloser Riese wird abgehängt
„Land in Sicht!“ meldet der Ausguck nach zehn Seetagen. Um 19 Uhr ist die Südspitze der Bahamas-Insel Great Abaco Island mit ihrem Leuchtturm querab. „Glückwunsch zur Atlantik-Passage!“, grinst Kapitän Pankratov, „jetzt geht´s in den Golf von Mexiko“. Der empfängt NORDISABELLA mit Regenschauern, Gegenstrom und Wind. Keineswegs traumblau, sondern nordseegrau, aber jahreszeitlich in der Regenzeit typisch. Ebenso ein sich im Golf von Mexiko entwickelnder tropischer Sturm. „Den streifen wir nur“, beruhigt der Kapitän, „allerdings beschert er uns auch einen Seitenwind von 40 Knoten mit leichtem Rollen“.

An Steuerbord schleicht ein großer Bulkcarrier und schlägt merkwürdige Haken. „Kommt uns allmählich immer näher“, meint Chief mate Vilnis Kaudze mit unverwandtem Blick auf den Radarschirm. Für ihn und seinen chinesischen Kadetten-Schüler Fenglei Li bein Beispiel dafür, wie man es nicht machen sollte. „Auf keinen Fall nur stur nach Wegpunkten fahren, sondern auch den Kopf benutzen“, meint Vilnis kopfschüttelnd und fühlt dem jungen Chinesen bei der Gelegenheit gleich mal auf den Zahn, welches Manöver er denn fahren würde. Zum Glück kann der ungelenke Bulker-Riese bei einem Sicherheitsabstand von zwei Seemeilen problemlos überholt und abgehängt werden. Im Kielwasser verwirbeln mit seinem unsicheren Fahrstil auch bald seine Laternen. Während sich voraus zwei hellbeleuchtete Kleinstädte ins Bild schieben. Kreuzfahrtschiffe aus Miami auf Bahamas-Kurs. Drüben zelebrieren sie vermutlich gerade den Captains-Empfang mit tausendfachem Händeschütteln und Smalltalk. Auf der NORDISABELLA hingegen hat man „den Alten“ nicht nur als Nachbarn, sondern auch täglich drei Mal am Tisch. Und wird dadurch stets mit frischen Informationen versorgt.

Der alte Mann und das Meer auf Mastkur
Bis zum nächsten Morgen dampft der Frachter durch den New Providence Channel und biegt dann nach Backbord ab in die Florida Straße an den berühmten Keys entlang, auf deren äußerster Insel Key West der Autor des Romans „Der alte Mann und das Meer“ lebte, Ernest Hemingway. Ebenso wie „gegenüber“ auf Kuba, das auch nur auf der Seekarte zu sehen ist. „Alles immer schön außerhalb der amerikanischen SECA-Zone“, erklärt der Kapitän, „denn innerhalb müssten wir von Schwer- auf Dieselöl umschalten, und das ist teuer“.
Kostenlos indes sind heftige Regenschauer, die schwarze Rußplacken wegspülen. Von nächtlichem Wetterleuchten und Blitzen, die die Brücke in ein „Fotostudio“ verwandelt hätten, berichtet der Erste beim Frühstück am nächsten Morgen im Golf von Mexiko.
Ruhige See und wenig Wind machen´s möglich: eine „Mastkur“ – mit Kapitänserlaubnis und Sicherheitsgurt. Als Ex-GORCH FOCK-Fahrer fällt einem das Aufentern in Vor- und Signalmast nicht schwer und erinnert an vergangene Kadettenzeiten im „Gehölz“ der Bark. Nicht mal aus knapp 40 Metern Höhe ist Yukatan, die mexikanische Halbinsel, an Backbord auszumachen. Sie liegt weit hinter dem Horizont, zu dem es gerade mal 15 Seemeilen sind. Die Blicke auf Schiff und endlose tintenblaue See indes sind aus dieser luftigen Perspektive atemberaubend.
Pünktlich um 19 Uhr, nach zwei Wochen auf See, kommt der erste Hafen in Sicht: Altamira.

Dinner am Sonntag
Dinner am Sonntag

Voraus die funkelnden Lichter des Industriegebiets, links und rechts verlockende Strände mit Lagunen und Dünen. Hinter Tampico, der berühmten Nachbarstadt, flackern die Fackeln von Ölraffinerien in den Nachthimmel, der zusätzlich von grell zuckendem Wetterleuchten im Sekundenabstand erhellt wird. Im Hinterland ragt die dunkle Mauer einer Bergkette auf.
„Altamira traffic, this is motorvessel NORDISABELLA calling“, meldet sich der Kapitän an, und eine Stunde später steigt der Lotse über. Zwei Schlepper assistieren, drehen und bugsieren NORDISABELLA an ihren Liegeplatz. Um 21.30 Uhr sind alle Leinen fest. Ein Containerkran schiebt sich fiepend übers Vorschiff, das Laden und Löschen beginnt. Für Kapitän und Offiziere eine kurze Nacht. Landgang? Nicht dran zu denken.
Plötzlich ungewohnte Stille am nächsten Abend: Maschine Stopp – auf hoher See. „Wir haben Zeit“, erklärt der Kapitän völlig unaufgeregt, „da lassen wir uns einfach mal treiben“.

Veracruz-Willkommensgruß
Veracruz-Willkommensgruß

Bienvenidos en Veracruz, dem wahren Kreuz
Irgendwann in der Nacht geht wieder das vertraute Grummeln durchs Schiff. Mit Schleichfahrt wird am frühen Morgen Veracruz angesteuert. Da ist wieder jede Menge Papierkram angesagt, zu viel, wie die Offiziere meinen. Beschäftigungstherapie trotz oder wegen modernster Kommunikationstechnik. Jeder von ihnen, egal welcher Nation, kann ein müdes Lied davon singen. Die internationalen Vorschriften jedoch verlangen es so.
Das fängt schon beim Landgang an. „Buenos dias!“, wünscht der Wachmann freundlich, „bienvenodos, willkommen im wichtigsten Atlantik-Hafen Mexikos!“ Aber ohne lange Hosen und feste Schuhe könne er niemanden von Bord lassen, „I am sorry“, schüttelt er den Kopf, sonst „muchas problemas“. Also, trotz 33 Grad „warm anziehen“ und erneuter Versuch. Es klappt, abgehakt auf der Crew-Liste. Nur mit dem Terminal-Bus nicht. Dafür kann man sich die 333 Jahre alte Festung San Juan de Ulúa aus der Nähe ansehen. Die gewaltigen grauen Mauern, verrät der Wächter, dienten einst zum Schutz vor Piraten, als die Spanier von Veracruz, der ältesten spanischen Siedlung auf dem amerikanischen Kontinent – sie wurde am Karfreitag 1519 gegründet als „wahres Kreuz, vera cruz“ – Silber und Gold abtransportierten. Heute ist Veracruz Auto-Ausfuhrhafen, sichtbar an großen kastenförmigen RoRo-Transportern. Sie holen auch die im VW-Werk Puebla am Fuß des Vulkans Popocatepetl produzierten Beetles ab, die Nachfolger des legendären Käfers.
Aus seinem Notizbuch reißt der Wachmann noch einen Zettel und schreibt „Placa Malecon“ drauf. Da müsse man hin, wenn man ins Zentrum der Halbmillionenstadt wolle.
Mit angeklemmter ID-Card, dem Bordausweis, passiert man zwei weitere Kontrollen, bis endlich „Freiheit“ angesagt ist. Ein paar Brocken Spanisch können hilfreich sein, um die nicht gekennzeichnete Bushaltestelle zu finden. „Al centro – ins Zentrum?“ Für 50 US-Cents geht´s dann los, nachdem ein junger Mann den richtigen Bus herangewinkt hat. Überraschung im klapprigen Gefährt: Ein Gitarren-Gesangs-Duo stimmt auf den Landgang ein. Nicht mit dem Welthit „La Bamba“, der als Volkslied schon 1683 hier entstand, aber so ähnlich.

Platz vor der Kathedrale von Cartagena
Platz vor der Kathedrale von Cartagena

An der Placa Malecon ist man nach kurzer Fahrt drin in der lebendigen, aber erstaunlich ruhigen Altstadt. Beim Rundgang sollte man sich wie NORDISABELLA einfach treiben lassen: vom Palacio Municipal, dem Rathaus, mit stolzen VIVA MEXIKO-Riesenlettern, schneeweißer Kathedrale, schattigen Arkaden, kilometerlanger Hafenpromenade samt Blick auf NORDISABELLA, Alexander-von-Humboldt-Statue und Mole – bis zum romantischen Tequila-Absacker unter Palmen vor einer Hafenkneipe. Schließlich wieder Kontrollmarathon samt Security-Spießrutenlauf zum Schiff. Schweißtriefend. Der Busfahrer hat zwei Stunden Siesta. Die Hafenarbeiter nicht. Um 22.30 Uhr ist NORDISABELLA deshalb wieder auslaufklar.

Auf zum Fortschritt!
Zwei Nächte und ein Tag in See, bis die Küste der Halbinsel Yukatán frühmorgens in Sicht kommt. „Nur 200 Container-Bewegungen diesmal“, sagt der Erste Vilnis Kaudze, „dann könnten wir um 15 Uhr ablegen“. Von der Crew hört man, dass sich der Landgang nicht lohne. Aber keiner hat sich bisher selbst ein Bild gemacht. Alle müssen sowieso arbeiten, obwohl Sonntag ist. Da verdrängt man lieber den Gedanken.
Der Torwächter empfängt einen – trotz kurzer Hosen und Sandalen – strahlend mit Handschlag und kündigt auch schon den Bus an. Nach 15 Minuten über die acht Kilometer lange Mole – sie ist damit eine der längsten weltweit – hält das klapprige Vehikel im Zentrum der 40.000-Einwohner-Stadt Progreso oder zu Deutsch: Fortschritt. Offiziell hat sie den Zusatz „de Castro“ zu Ehren des gleichnamigen Hafenerbauers.
Einstöckige bunte Häuser, manche noch mit den typischen umlaufenden hölzernen Balustraden, dominieren die um das Rathaus rechtwinklig angelegte Altstadt. Wie man das aus Filmen kennt. Saubere Straßen, viel Grün. Gemächlich geht das Leben im schwülheißen karibischen Klima. Da schenkt man sich auch die beiden 20 Kilometer entfernten Maya-Ruinen. Die Zeit wäre ohnehin knapp geworden.
In der Markthalle ein großes Sonntagsfrühstück, zu dem sich anscheinend alle Bewohner verabredet haben. An einem Stand werden Souvenirs angeboten, darunter auch furchterregend aufgerissene Hai-Gebisse. Davon sollte man sich nicht schrecken lassen und den Strand ansteuern, ehe es, trotz Meeresbrise, mit 40 Grad unerträglich heiß wird. Schneeweiß, palmengesäumt und kilometerlang ist er. Hinein in die klaren türkisfarbenen Fluten, die mit 31 Grad auch keine rechte Abkühlung bringen. Aber immerhin ein durchaus wohliges Planschvergnügen und nicht zu vergleichen mit dem begrenzten Bordpool.

Mit Straßenmonster an Bord
Zurück zum Containerterminal geht um die Mittagszeit natürlich kein Bus. Aber schwere Lastzüge rollen in nicht abreißen wollender Kolonne über die Mole. Zu Fuß, in der mörderischen Hitze? Keine gute Idee. Aber man könnte ja am Tor mal einen Fernfahrer ansprechen. Es klappt tatsächlich, obwohl „Mitfahrt eigentlich verboten“, wie einer der Schrankenwärter sagt. Das Gefährt, in dessen Führerhaus man neben einem „Kapitän der Landstraße“ sitzt, kann sich sehen lassen: 35 Meter lang, neun Achsen, 32 Räder, 550 PS, 18 Gänge, 55 Tonnen Sojaschrot in den Trailern. In Australien heißen solche Monster nur „Road Trains“. Der Fahrer sitzt, wie er erzählt, schon 35 Jahre „auf dem Bock“ und ist pausenlos unterwegs auf den Fernstraßen Mexikos. „Genau wie ihr Seeleute da draußen“, lacht er, als wir in der Ferne NORDISABELLA sehen. Eine Frau? Habe er nicht, „das geht in dem Job nicht lange gut“. Zum Abschied heulen die beiden Hörner des Kenworth-Supertrucks wie ein Schiffstyphon, und man sieht nur noch eine Hand aus dem Seitenfenster winken, bevor der Straßenzug hinter einem Speicher verschwindet.

Laura Bonita aus London mit dem Autor
Laura Bonita aus London mit dem Autor

Pünktlich um 15 Uhr legt der Frachter ab und quirlt dabei den hellen Sand im Hafenbecken wie zu riesigen Quellwolken gewaltig auf, die zu denen am blauen Himmel kontrastieren. Die Crew fragt einem Löcher in den Bauch und staunt, was sie alles an Land verpasst hat.
Als der Lotse von Bord gegangen ist, gibt der Kapitän die vorgeschriebene Anweisung, NORDISABELLA in allen karibischen Häfen nach blinden Passagieren und Drogen zu durchsuchen. „Negativ!“, kann gemeldet und die 1124 Seemeilen lange Reise nach Costa Rica angetreten werden.
Den nächtlichen Kurs unter der Milchstraße haben anscheinend Bohrinseln abgesteckt, die Mexikos Gold von heute fördern. Ihre Gasfackeln und Scheinwerfer konkurrieren mit den funkelnden Sternen.

Moin, Moin, nur anders
Wie geplant rauscht der Anker um 10 Uhr in den Grund. Vor einer sattgrünen Urwald- und grau-verhangenen Bergkulisse. Die Zeit bis zum Einlaufen wird für Schiffspflegearbeiten außenbords genutzt: Das heißt Entrosten und Malen. Wobei die Matrosen wie Akrobaten auf Stellagen über dem Wasser sitzen oder stehen, während ihre Kollegen an Deck sie an Leinen absichern.
Sechs weitere Frachter liegen schon auf Reede und nicken im Schwell, von der starken Küstenströmung ständig in die gleiche Richtung gedrückt. Sie warten darauf, dass einer der vier Liegeplätze im kleinen Hafen frei wird. Das brauchte Kolumbus nicht, als er im September 1502 auf seiner vierten Reise hier landete. Im September 2016 indes ruft der Erste Offizier nur „Alle Mann auf Manöverstation!“. Der Lotse kommt vor Anstrengung keuchend auf die Brücke, lässt das Schiff drehen und präzise rückwärts einparken. „16 Uhr fest“ wird im Logbuch notiert, pünktlicher als die Deutsche Bahn. NORDISABELLAS Kräne schwenken aus, es geht wieder los mit Laden und Löschen. Die schwül-feuchte Tropenluft ist dieselgeschwängert und vibriert vom Dröhnen unzähliger Container-Trucks, die von den Plantagen heran donnern.

Die Crew von MS NORDISABELLA
Die Crew von MS NORDISABELLA

Wer von Bord aus zusehen möchte, wie Bananen oder Ananas verladen werden, der ist in Moin – nicht etwa benannt nach dem norddeutschen Allerweltsgruß – genau richtig. Ansonsten: für 10 US-Dollar pro Strecke ein Taxi nach Puerto Limon chartern. Nur mit Schutzhelm, Warnweste, Shore Pass und ID card schafft man hier die strengen Kontrollen am Gate. Die ISPS-Sicherheitsvorschriften werden eng ausgelegt.
Puerto Moin ist keine Stadt im eigentlichen Sinne, sondern nur ein Hafengebiet, wo Frachter anlegen. Es gibt darüber hinaus kaum Infrastruktur wie etwa Restaurants oder Märkte. Die und noch mehr gibt´s reichlich in der 100.000-Einwohner-Nachbarstadt Puerto Limon, die auch von Kreuzfahrtschiffen angelaufen wird.
Mit ein bisschen historischer Fantasie kann man sich vorstellen, im Hafen blutgetränkten Boden zu betreten. Im Zuge der spanischen Kolonialisierung zwischen 1524 und 1650 starben sechs von sieben Mayas durch Kämpfe und Zivilisationskrankheiten. Die Erben der einst mächtigen Mayazivilisation hielten den mordenden und plündernden Konquistadoren nicht lange stand. Die Ureinwohner ergaben sich, anders als das bis heute feuerspeiende Vulkanland, fast kampflos. Wer von ihnen die Massaker überlebte, wurde zum Sklaven gepresst. Ihre kulturelle Identität, so ist nachzulesen, konnten sich diese Menschen erfreulicherweise bewahren.

Landgang mit Shopping und Strandbar
Ein Hafenarbeiter nimmt fünf Kiribati-Matrosen und den Passagier mit. Womit die klapprige Kiste völlig überladen ist. Dafür bekommt er einen Dollar Trinkgeld. Kleidung, Schuhe, Geldüberweisungen nach Hause und Telefonkarten stehen auf dem Shopping-Programm der Südseeinsulaner. Die Preise sind natürlich überhöht, aber mit ein paar Spanisch-Brocken kann man sie für die Jungs runterhandeln. Die freuen sich wie die Kinder und spendieren einen Drink dafür. Die bei Seeleuten beliebte „Washington-Bar“ hat am Vormittag noch die Rolläden unten. „No chance for a beer, girl and ´short time`, bedauern die jungen Männer. Wenn ihre Mädels zu Hause wüssten…Doch zur Wache müssen sie pünktlich wieder zurück an Bord sein.
Zufälliges Treffen am Park mit seinen Urwaldriesen und Luftwurzel-Vorhängen. Der mexikanische Zweite Ingenieur Ignazio und sein srilankanischer Maschinen-Kadett Upula laden zum Lunch in einem Strandrestaurant. Das „Quimbamba“ liegt an einer malerischen palmengesäumten Bucht mit gelb leuchtendem Sandstrand, den rauschende türkisfarbene Karibik-Brandung wäscht. Hinein! Das typisch costarikanische Fischgericht mit Meerblick schmeckt danach umso besser.
Die Alternative: Gleich gegenüber vom Hafen legt morgens um zehn Uhr ein Boot ab, das auf dem Küstenfluss zum Tortugero Nationalpark tuckert. Das Gebiet wird auch der „Amazonas von Costa Rica“ genannt, weil es durch ein 200 Kilometer langes labyrinthisches System von Wasserwegen und Kanälen geädert ist und im dichten tropischen Primärwald eine reiche, exotische Tierwelt zu Hause ist. Schildkröten, wie der spanische Name schon sagt, sind häufig, aber auch Krokodile, Papageien und Affen bekommt man vor die Linse. Schon gewusst, dass fünf Prozent aller bekannten Lebensformen der Erde sind in Costa Rica zuhause sind? Nicht verwunderlich, wenn ein Viertel des Landes unter Naturschutz steht.

Grünes Gold aus der Meseta Central
„Costa Rica, die reiche Küste“, weiß Kapitän Pankratov, „ist nicht viel größer als die Schweiz.“ Es liegt, so wirbt ein Flyer des städtischen Touristenbüros über das Gebiet, auf der Landbrücke zwischen den sanften Sandstränden an der Karibik und der schroffen, reich gegliederten Küste am Pazifik. Vom Vulkan Irazú aus kann man beide Meere sehen. Im Norden verläuft die Landesgrenze in Sichtweite des Nicaraguasees, der Teil des geplanten gigantischen Kanals zwischen Atlantik und Pazifik werden soll, und folgt dann dem Rio San Juan. Der südliche Nachbar ist Panama. Zwei bis zu rund 4000 Meter hohe Gebirgsketten erheben sich zwischen dem schwülen Regenwald auf der karibischen und der Küstenebene an der pazifischen Seite. Das Hochland hat ein ideales Klima – weder zu heiß noch zu kalt, weder zu feucht noch zu trocken, weder zu hoch noch zu tief gelegen. Darum ist die dichtbevölkerte Meseta Central aus fruchtbaren Vulkanböden optimal geeignet für die Landwirtschaft.  So beherrschen heute Bananenplantagen amerikanischer Frucht-Konzerne das Land. Das „grüne Gold“ wird sortiert, gewaschen, verpackt und in Kühlcontainer-Trucks verladen, die als schier endloser Konvoi zur Küste donnern. Dritte-Welt-Wirtschaft live. Auf NORDISABELLA werden rund 200 Hamburg-Süd-Kühlcontainer mit Ziel Europa verstaut. Beim Gang zum Vorschiff steigen einem wenig später süßliche Ananas- und Bananendüfte in die Nase. Verlockend zwar, aber unerreichbar. Mit Plomben sind die Früchte vor fruchtigen Gelüsten gesichert.
Für 22 Uhr ist der Lotse bestellt. Um 22.40 Uhr klatschen die Leinen schließlich ins Wasser.

443 Seemeilen quer durch die Bucht von Panama bis Cartagena in Kolumbien liegen vor dem Frachter. Ungewöhnlich: Schon am nächsten Nachmittag querab der Panama-Kanal-Einfahrt werden die Borduhren um eine Stunde vorausgestellt. „So können die Leute besser ausruhen“, zeigt sich der Kapitän fürsorglich, „denn unter Schlafmangel leiden wir hier alle ständig“. Ganz im Gegensatz zu den IMO-Richtlinien gegen Übermüdung, die nur blanke Theorie sind.

Ciudad vieja oder Geschichte pur
Kurz vor Sonnenaufgang dreht MS NORDISABELLA in die Bucht von Cartagena ein. Die schmale Einfahrt ist festungsbewacht, am Strand mit Palmwedeln gedeckte Hütten. Scharfer Kontrast um die Ecke: Hinter dem Leuchtturm taucht eine Manhattan-Kulisse mit Wolkenkratzern auf. Neben dem Fahrwasser eine Marien-Statue, die an die viel größere Freiheitsdame vor New York erinnert. Über die roten Ziegeldächer der jahrhundertealten Ciudad vieja, der seit 1984 UNESCO-geschützten Altstadt von 1553, ragen Kirchtürme und Kuppeln, gekrönt von einem Berg mit aufgesetzter Festung. Kolumbiens Cartagena de Indias, so wird sie zur Unterscheidung ihrer spanischen Namenscousine genannt, gilt als die schönste unter den kolonialen Hafenstädten Amerikas.
Letzte Chance vor der elftägigen Atlantik-Passage, sich noch einmal die Füße zu vertreten. Im Schiffsbüro bekommt man dazu vom Dritten Offizier den Shore Pass oder Landgangsausweis. Der Kontrolleur am Hafenausgang ist nicht zufrieden. Es fehle die Passnummer. Also wieder per Bus zurück an Bord und da capo.
Hinein ins südamerikanische Verkehrsgetümmel der Millionenstadt, wieder mit einem Hafenarbeiter und sogar gratis. Seine indianische Frau schaukelt während der Fahrt ihr Kleinkind und erzählt von ihren Vorfahren aus der Sierra, den Bergen, die die Stadt halbkreisförmig umschließen. Auch ihre alte Sprache werde wieder in der Schule gelehrt.
Stopp an der spanischen Wehranlage Castillo Grande mit ihrer elf Kilometer langen wuchtigen Ringmauer. Zeitweilig galt das Fort als uneinnehmbar und war das Beispiel spanischer Militärarchitektur.
Vor der Kulisse der Kathedrale zwei scheinbar alte Segler. So könnte es zu spanischen Zeiten hier ausgesehen haben. Cartagena gilt in der Geschichte als eine der ersten kolonialen spanischen Stadtgründungen im Norden Südamerikas und erlebte ein schnelles Wachstum als wichtiger Hafen für die Schifffahrt des Kontinents. Die spanische Flotte kam zweimal jährlich von Sevilla oder Cádiz nach Cartagena gesegelt, um hier spanische Waren wie Waffen, Rüstungen, Werkzeug, Textilien und Pferde, aber auch schwarze Sklaven zu vermarkten. Ein Denkmal neben der Kathedrale erinnert an sie. Für die Rückreise wurden Gold, Silber, Perlen und Edelsteine – heute Öl, Kaffee und Platin – geladen. Aus diesem Grund attackierten und plünderten häufig Piraten Cartagena, beispielsweise 1585 der berüchtigte Engländer Sir Francis Drake.
Damit war seit November 1811 Schluss. Zu verdanken hatte das Cartagena dem Befreier Südamerikas Simón Bolívar. Natürlich wurde ihm dafür ein monumentales Denkmal gesetzt.

Cartagena mit Bonita am Bocagrande
Die engen Gassen, von ansehnlich restaurierten Kolonialbauten eingefasst, gehören den Fußgängern. Ringsum wie eigentlich überall starke Polizeipräsenz. Zumindest tagsüber ist man hier sicher, kann sich in Ruhe umschauen, bummeln und auf einem der schönen Plätze unbelästigt pausieren.  Sogar Laura aus London, die, wie sie erzählt, vier Wochen allein und ohne ein Wort Spanisch zu können durch Kolumbien reist, „weil es nach dem Ende der Guerilla-Kämpfe wieder ein lohnendes Ziel ist“. Die dunkelhäutige schwarze Schönheit mit dem kessen Sonnenhut hält man überall für eine Einheimische, deshalb hat sie wohl auch keine Probleme.
Selbst im Schatten der malerischen Häuser wird es langsam drückend heiß. Abkühlung schafft ein Rundgang auf der Stadtmauer mit lauer Passat-Brise. Noch mehr lockt der Bocagrande-Strand mit seinem klaren Karibik-Wasser zu Füßen des kolumbianischen Manhattan.

Auslaufen Antwerpen mit Kompass-Kurs Heimat
Auslaufen Antwerpen mit Kompass-Kurs Heimat

Im Hafen fällt ein Boot der Küstenwache auf, das an den Frachtern auf und ab patrouilliert. „Drogas!“, grinst ein kolumbianischer Arbeiter. So wollen die Behörden Drogenschmuggel unterbinden. Ein Kiribati erzählt, dass auf einem Schiff mal zwei Neulinge erwischt wurden, die das schnelle Geld machen wollten, stattdessen aber im Gefängnis und auf einer Schwarzen Liste landeten: „Die bekamen natürlich nie wieder einen Bord-Job“.
Mit zweistündiger Verspätung startet die rund 5186 Seemeilen lange Reise an den Azoren vorbei über Marin, Pontevedra/Nordspanien, Antwerpen, London nach Hamburg. „Weil erst der Kompressor eines Kühlcontainers repariert werden musste“, ist der Kapitän sauer, „aber der Charterer wollte es so“. Denis Pankratov freut sich aber, dass der Hafenstress für die nächste Zeit erst mal vorbei ist und „wieder geordnete Verhältnisse herrschen“. Mit vorgeschriebenen wichtigen Drills: General-, Feuer- und Rettungsboot-Alarm. „Hier kann man nicht einfach 110 anrufen, wenn´s brennt“, schließt der Kapitän seine Kritik, „es kommt nur auf euch an, denn ihr allein habt euer Leben in der Hand!“

Schwimmhäute und Seebeine
Adios Südamerika und Cartagena bonita, deren flammender Nachthimmel bald hinter dem Horizont versinkt. Milde lächelt der Neumond, und aus dem Schornstein sprühen nur so die Funken wie Sternschnuppen. So befeuert heißt es ab jetzt nur noch volle Fahrt voraus! Mit Nordost-Kurs auf die berühmte Mona-Passage zu: zwischen Puerto Rico und der Dominikanischen Republik auf der Insel Hispaniola hindurch – in die blauen Weiten des Atlantiks. Wenig später passieren wir über dem Puerto-Rico-Graben seine mit fast neun Kilometern tiefste Stelle.
Ein Bekannter fragt per Mail an: „Wird´s dir nicht langsam langweilig?“ „Keine einzige Minute!“, schreibe ich zurück, „es liegt allein bei jedem selbst, das Beste daraus zu machen“. Ein Platon-Zitat bildet meinen bedeutungsschweren Schlusssatz: „Es gibt drei Arten von Menschen: jene, die tot sind, jene, die leben und jene, die über die Meere segeln“. Langweilig? Von wegen, denn das Leben auf See ist bunt. Nach dem Motto: voll beschäftigt mit dem Nichtstun. Noch Fragen?
Letztes Karibik-Wellen-Bad vor dem Wasserwechsel bei romantischem Mondschein im Pool, während das Schiff im „dead swell“ stampft. „Weit vor uns wütet ein tropischer Sturm mit zwölf Metern Wellenhöhe“, erklärt Kapitän Pankratov auf der nickenden Back das Schauspiel beim Sonnenuntergang, „das sind seine Reste, sonst hätten wir einen Ententeich“. Fliegende Fische zeichnen goldene Kometenschweife in die See, Wale ziehen prustend vorbei und Schildkröten dösen in der Sonne. Als Passagier kann man das natürlich auch genießen – beim täglichen Schwimmen, wobei im ersten europäischen Hafen Puerto de Marin im nordspanischen Galizien das Gefühl aufkommt, zwei Mal über den Atlantik geschwommen zu sein und schon Schwimmhäute zwischen den Fingern zu haben. Abgesehen von den Seebeinen von täglichen Decksrunden. So kann man sich wohl trainiert wieder an festen Boden gewöhnen. Auch wenn die Stadt – außer der landschaftlich sehr reizvollen Zufahrt – nicht viel zu bieten hat.

Zwischen Schelde, Themse und Elbe
Ganz anders dagegen Antwerpen nach 826 Seemeilen in zweieinhalb Tagen. Die geschichtsträchtige und in zwei Weltkriegen gebeutelte Rubensstadt steht am zweiten Tag auf dem Programm: nach dem sonntäglichen Einlaufen mit spannenden, weil scheinbar zentimeterknappen Brücken- und Schleusen-Passagen. Für drei Euro pro Strecke fährt der Bus 762 (nur von Montag bis Freitag) ab Terminal in einer Viertelstunde bis zum Rooseveltplads im Zentrum.
Um den Großen Markt herum, dem Herz der Millionenstadt, führen die verschlungenen Wege: vorüber an schönen Gildehäusern aus dem 16. Und 17. Jahrhundert um das Rathaus herum, das aus dem 15. Jahrhundert stammt und als gelungene Kombination von flämischem Baustil und italienischer Renaissance gilt. Auf dem Großen Markt werden skurrile Antiquitäten feilgeboten. In seiner Mitte das Standbild des handwerfenden Brabos. Der Legende nach hat Brabo einst einem fürchterlichen Riesen die Hand abgehackt und sie über die Schelde geworfen. Aus diesem Vorfall soll sich der Name „Antwerpen“ ableiten.
Wahrzeichen der Stadt ist jedoch die Liebfrauen-Kathedrale, größte gotische Kirche Belgiens mit ihrem filigranen weißen Turm. Antwerpen ist eine der üppigsten Kunststädte Europas. Unbedingt sehen muss man das Rubens-Haus. Die Bilder, die man noch aus Schulbüchern kennt, kann man hier im Original sehen. Absolut faszinierend, diese unglaublich präzise, realistische und lebensnahe Darstellungsweise des barocken Malerfürsten Peter Paul Rubens.
Ein Souvenir-Tipp: belgische Pralinen. Die Firma Leonidas gilt hier als das berühmteste Haus, in dem man die köstlichen „Weißen mit cremiger Kaffee-Füllung“ unbedingt probieren und einkaufen sollte.
Landgang im nieslig-windigen London, nur ein 60-Seemeilen-Katzensprung von der Schelde an die Themse, fällt wegen nächtlicher Liegezeit aus. Doch die Elbe, das Finale, rückt mit ständig schrumpfenden 287 Seemeilen immer näher, den längsten für die abmusternden Seeleute. Das sind vor allem drei Männer aus der Maschine, die das letzte aus ihr ´rausholen, denn NORDISABELLA fliegt geradezu mit 21 Knoten in die Deutsche Bucht. „Vielleicht rudern die auch noch da unten“, grinst Erster Offizier Vilnis.
„It´s a long way to Tipperary, it’s a long way home…”, hat die Besatzung im Film „Das Boot“ den schon legendären Song angestimmt, als der Kurs nach überstandenen Abenteuern endlich wieder Richtung Heimat ging. Nicht anders ergeht es einem auf der NORDISABELLA – nach 13.204 eindrucksstarken Seemeilen mit pünktlichem Einlaufen und Lotsen-Willkommens-Gruß: „Happy landing in Hamburg!“

Infos:

MS NORDISABELLA
Bauwerft: Guangzhou Wenchong Shipyard, China; Bau-Nr.: GWS 449; Typ: SDARI 2500 (hoch effizient u. flexibel, entwickelt nach Reederei-Konzept); Kiellegung: 08.06.2015, Ablieferung: 19.01.2016; Schwesterschiff: NORDSERENA (NORDAMELIA in Bau, Ablieferung Ende 2016); IMO Nr.: 9697014; Rufzeichen: 5BLD4; BRZ: 28.316; deadweight: 35.156 t; light ship (Gewicht): 12.329 t; displacement: 47.486 t; Länge: 195 m, Breite: 32,20 m, Tiefgang (max.): 11,50 m, Höhe: 48,87 m; Luken: 5; Container-Kapazität: 2506 TEU, davon Kühlcontainer: 531); 45-Tonnen-Kräne: 3 MacGregor; Hauptmaschine: MAN B&W, Typ 6G60ME-C9.2-TII; Leistung: 13.400 kW; Geschwindigkeit: 19 kn (max.); Treibstoffvorrat: 2600 t (ausreichend für eine 13.204-Seemeilen-Rundreise), optimierter Verbrauch: 16 t/h; 1 Propeller (MMG, Waren/Müritz) fünfflügelig, 6,80 m Durchmesser; Hilfsdiesel: 4 MAN (je 2 x (gesamt 7620 kW); Bugstrahlruder: 1100 kW; Crew: 23 (11 Nationen); Klassifizierung: GL 100 A5 Container Ship; Eigner: NORDISABELLA GmbH, München; Bereederung: Reederei NORD GmbH, Hamburg (Flotte: 48 Schiffe sowie 15 in Bau); Charterer: Hamburg Süd;  Flagge: Zypern; Heimathafen: Limassol.

Häfen:
Hamburg: 18.8. (06.00) – 19.6. (06.00) – 5403 sm
Altamira/Mexiko: 31.8. (22.00) – 1.9. (06.00) – 227 sm
Veracruz/Mexiko: 02.9. (08.00) – 03.9. (22.30) – 395 sm
Progreso/Mexiko: 04.9. (08.00) – 04.9. (15.00) – 1124 sm
Puerto Moin/Costa Rica: 07.9. (12.00) – 10.9. (23.00) – 443 sm
Cartagena/Kolumbien: 11.9. (05.00) – 11.9. (21.00) – 3983 sm
Marin, Pontevedra/Spanien: 22.9. (07.00) – 22.09. (17.00) – 826 sm
Antwerpen/Belgien: 25.9. (10.00) – 26.9. (18.30) – 59,7 sm
London/England: 27.9. (18.00) – 28.09. (03.00) – 287 sm
Hamburg: 29.9. (07.00) – 30.9. (06.30)
Gesamtstrecke: 13.204,1 sm

Warum das Reisen auf Frachtern empfehlenswert ist:
Geräumige Kabinen, auf großen Schiffen vielfach mit separatem Wohn- (Teppichboden, Sitzecke, Tisch, Stühle, CD-, DVD-Anlage, Schreibtisch/-stuhl, Kühlschrank, Bücherschrank, Telefon) und Schlafraum (Teppichboden, Doppelbett, großer Kleiderschrank), Bad (Dusche/WC); jederzeit offene Brücke, Maschinenraum (ein Besuch sollte vorher – aus Sicherheitsgründen – beim Chief angekündigt werden);
Mahlzeiten (ohne Schlips und Kragen) mit der Schiffsführung in der Offiziersmesse;
auf großen Schiffen Pool (innen oder außen wie auf NORDISABELLA), dessen Seewasser täglich erneuert wird;
weitläufige Decksflächen zum Sonnen oder für Spaziergänge (nur tagsüber);
freundliche, hilfsbereite internationale Crew (Kommunikation: meistens Englisch);
Informationen stets aus erster Hand;
Kontakt zur Außenwelt: per E-Mail;
gutbürgerliche, reichhaltige Küche;
Sauberkeit wird großgeschrieben;
Wäsche kann man selber waschen (Waschmaschine und Trockner vorhanden), so dass man daher mit relativ kleinem Gepäck auskommt;
Einkauf (Getränke aller Art, Zigaretten, Schokolade, Toilettenartikel etc.) zweimal pro Woche beim Kapitän; besondere Wünsche (z.B. bestimmte Wein-, Bier- oder Zigarettenmarken) können oftmals vorab über die Reederei bestellt werden;
Kabinensäuberung (wie bei den Offizieren) durch den Messesteward;
Trinkgeld ist unüblich;

Woran man denken sollte:
Auf einem Frachter haben Ladung und Arbeitsabläufe Priorität.
Mit ausgefallenen Sonderwünschen sollte man sich möglichst zurückhalten und die allgemeine Hilfsbereitschaft nicht unnötig strapazieren. Das bedeutet auch, dass man sich selbst beschäftigen kann. Bücher, CDs/DVDs oder Laptop/Notebook gehören, je nach Interessenlage, zum Gepäck.
Berührungsängste gibt es auf einem Frachter nicht. So kommt es häufig vor, dass man in diese oder jene Kammer eingeladen wird. Offene Türen signalisieren, dass man willkommen ist, geschlossene, dass man seine Ruhe haben möchte.
Essenszeiten – mit gewisser „Gleitzeit“ – sollten im Interesse von Koch und Steward eingehalten werden.
Um Flüge zu/von den Lade-/Löschhäfen muss man sich selber kümmern, sollte aber einen zeitlichen Spielraum einkalkulieren und daher engen Kontakt zum Reisevermittler/zur Reederei halten.

Frachter-Reisende sind Individualisten, die das Ambiente von Kreuzfahrtschiffen nicht mögen. Hier kann man tun und lassen und anziehen, was man will. Für Seefahrt pur sollte man sich schon interessieren. Die Bordatmosphäre steht und fällt allerdings mit dem Kapitän. Das ist wie mit einem Fisch, der vom Kopf her anfängt zu stinken. Da gibt es die unterschiedlichsten Erfahrungen. Manche haben infolge ihrer langen Seefahrtszeiten eine normale Kommunikation völlig verlernt; da kann man es ganz schön schwer haben, vor  allem wenn nur Ausländer an Bord sind. Kapitän Denis Pankratov gehört zum Glück nicht zur schweigsamen Sorte. „Auch wenn wir als Seeleute dauernd unterwegs sind“, sagt der weltläufige Mann, „sehen wir kaum mehr als die Häfen“. Was bei nächtlichen Liegezeiten passieren kann.

Das Fazit einer solchen Reise?
Eine „nie zu stillende Sehnsucht und Weltbewusstsein“, wie schon Alexander von Humboldt schrieb, der Forschungsreisende des 19. Jahrhunderts aus Berlin-Tegel. In Veracruz grüßt seine Statue alle ein- und auslaufenden Schiffe. Als Beiladung transportieren sie auch die Wünsche und Träume ihrer Besatzungen über die Weltmeere.

Ein typischer (Passagier-)Tag auf See:
Aufstehen, zum Munterwerden ein paar Runden im Swimming-Pool;
zwischen 07.30 und 08.30 Uhr Frühstück (das man natürlich auch verschlafen kann; Kaffee/Tee gibt es durchgehend; aus dem Pantry-Kühlschrank kann man sich auch außer der Zeit bedienen);
Gespräch auf der Brücke mit dem Wachhabenden: Position, Wetter, Persönliches;
Deckswanderung mit Kontakt zu den Matrosen bei der Arbeit;
je nach Wetterlage: Erfrischung im Pool und Sonnen an Deck;
11.30 bis 12.30 Uhr Mittagessen;
Mittagsschläfchen;
Coffee time mit neuesten Information auf der Brücke;
Decksspaziergang, Lesen, Musikhören, Schreiben, Pool – je nach Wetter, Lust und Laune;
17.30 bis 18.30 Uhr Abendessen;
Zusammensitzen mit Besatzungsmitgliedern zum Klönschnack beim Feierabend-Bier (einmal pro Reise auch BBC = Barbecue);
Film ansehen, lesen, Spiele;
Besuch auf der Brücke;
ab in die Koje

Per Frachter zu reisen bedeutet auch, wieder Verbindung zu sich selbst aufzunehmen, zu unseren Träumen, Vorstellungen, unserer Vergangenheit und Zukunft. Die Dauer so einer Reise im Radfahrertempo erlaubt uns, die Dinge aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten: Bücher zu lesen, für die man nie die Zeit hatte; zu schreiben, malen, zeichnen, die Kenntnisse einer Fremdsprache aufzufrischen, zu träumen, denken, meditieren, aufzutanken, sich der Natur und den Elementen anzunähern, den Himmel zu betrachten, die Sterne zu entdecken, die Farben, die verschiedenen Töne, die unendlich wechselnden Landschaften der See zu betrachten, die Gischt auf der Haut zu spüren, dem Wind zuzuhören, das Murmeln der Wellen zu vernehmen, Delphine, fliegende Fische oder Seevögel zu beobachten, das Dröhnen des Schiffstyphons zu spüren, den Geschichten der Seeleute zuzuhören.. Unendlich viele Möglichkeiten, die man mit wachen Sinnen nutzen kann.
Was bleibt: komplett abzuschalten, sich den eigenen Träumen hingeben und in die große Weite stürzen. Denn Seefahrt macht gleichgültig gegenüber der Zeit, verjüngt dich und weckt Glücksgefühle.

Ein unbekannter Autor hat seine Gefühle dazu in Gedichtform gefasst:

SEEREISE
Meilenweit seewärts
dem Licht entgegen –
strahlendes Blau im Spiegel der See.
Wolkenverhangenes, buntes Grau –
Bewegung am Himmel: Leben.

Wolken umspielen die hohen Masten,
von liebkosenden Winden durchweht.
Auf ihren Häuptern tanzen Strahlen,
kräftige Winde Schatten malen
und immer ein Tag zur Nacht vergeht.

Die Dunkelheit durcheilt ein Glanz,
der langsam ermattend verglimmt.
Nach Captains Dinner und Wellentanz
in sorglose Ruhe und Träume versinkt.

Stille – Ein einsames Licht auf der Brücke
die Technik den Kurs kontrolliert –
lautlos – bewacht allen Schlaf.
Noch Zeit – Morgengrauen weit – dann,
lichter Tag, der wieder –
alle Sinne verführt.

Buchung am direkt bei Frachterreise-Spezialveranstaltern
(s. Internet).
Auf allen Frachtern ist das Preis-Leistungsverhältnis angemessen (von ca. 50 bis 110 € pro Tag/Person); geeignet für (etwas) seefahrtsinteressierte Erholungssuchende, die Zeit haben und Wert auf Individualität legen.

Buchtipp:
FRACHTSCHIFFREISEN von Peer Schmidt-Walther, ISNB 978-3-7822-1094-2, Koehlers Verlagsgesellschaft, Hamburg

Fotos: Dr. Peer Schmidt-Walther