Abenteuer-Urlaub für hartgesottene Individualisten
Dramatisch schwarz wölbt sich der Spätsommer-Himmel über der nordestnischen Küste. Bis ein Sonnenstrahl durch die Wolken fingert. Punktgenau zielt er auf eine kleine Insel in etwa sieben Seemeilen Entfernung und lässt sie hell aufleuchten. Als wäre hier ein großer Regisseur am Werk, der seine Anweisungen gibt.
Die Passagiere an der Reling starren wie gebannt nach Osten, während die große Fähre MEGASTAR mit schäumender Bugsee ungerührt Kurs auf den Zielhafen Tallinn nimmt. Was das denn für eine Insel dort drüben sei, möchte man von den umstehenden Einheimischen wissen. Doch alle schütteln unwissend den Kopf. „Irgend so ein Steinhaufen mit Leuchtturm“, murmelt einer, „davon gibt´s in Estland viele“. Schließlich muss Google ran und verrät dem Suchenden die genaue Insel-Zahl des baltischen Landes: unglaubliche 2222, davon nur 19 bewohnt.
Die „Erleuchtete“ heißt schlicht Keri, ist unbewohnt und die nördlichste Estlands, die betreten werden darf.
Und genau die soll es für die nächsten Tage sein. So ist es mit Eeva Lillemägi von Visit Estonia, der staatlichen estnischen Tourismusorganisation, verabredet. Die lässt es sich auch nicht nehmen, vorher die Sehenswürdigkeiten der alten Hansestadt Reval innerhalb und außerhalb der Stadtmauern vorzuführen. Touristenscharen aus aller Herren Länder schieben sich durch die engen Gassen und bestaunen das mittelalterliche Flair mit seinen restaurierten Bürger- und Adelshäusern, Kirchen, Museen und Bastionen. Doch dann wird es „ernst“.
Über den Finnischen Meerbusen
„Peep“, stellt sich der blonde Hüne vor, lächelt scheu und buchstabiert im NATO-Alphabet: „Papa-echo-echo-papa“. Der estnische Wikinger ist Kopf der privaten Gesellschaft MTÜ, die sich seit Jahren um Keri kümmert. Bis dahin sind es von dem kleinen Bootshafen bei Tallinn rund 20 Seemeilen. Mit 40 Sachen schießt das Speedboot dahin, denn, so Peep: „Wir müssen uns beeilen, könnte sein, dass Wind aufkommt, dann wird´s hier ungemütlich“. Um die untergehende Sonne hat sich bereits ein unheilvoller Schleier gelegt.
Langsam senkt sich die Dämmerung über den Finnischen Meerbusen. Aber es gibt einen Wegweiser mit jeweils zwei Lichtsignalen, unterbrochen von mehreren Sekunden Pause. „Die Kennung des 31 Meter hohen Leuchtfeuers von Keri!“, überbrüllt Peep den 250 PS-Motor, „gleich sind wir da!“ Vorsichtig tastet sich der Bootsführer durch das Flachwassergebiet, aus dem Findlinge wie Walrücken auftauchen und Gefahr bedeuten. „Die hat die Eiszeit hierher verfrachtet“, erklärt Peep und macht an einem Holzsteg fest. Der Gang an Land mit dem Rucksack auf dem Rücken wird zu einem wackligen Balanceakt. Glitschiges Geröll säumt den Weg zu einer einstöckigen Steinbaracke. Über dem Eingang kyrillische Schriftzeichen. „Das war bis zur Wende eine sowjetische Grenzbastion“, erklärt der Inselhüter und grinst: „Tere! Willkommen auf Keri, der vergessenen Insel! Nicht mal der Tod findet dich hier.“ Das GPS zeigt, dank Insel-Funkmast, exakt 59 Grad 69 Minuten Nord und 25 Grad 01 Minute Ost an.
Erster gasbefeuerter Turm der Welt
Es riecht muffig. Beim Licht nackter Glühbirnen fallen zugemüllte Räume ins Auge, als wäre alles gerade fluchtartig verlassen worden. In der primitiven Kombüse gibt es zumindest Gas zum Kochen. Für Strom sorgt ein Dieselgenerator aus sowjetischer Produktion im Nachbarhaus. Das Plumpsklo „duftet“. „Wasser haben wir auch“, ist Peep stolz, „aus dem ersten Bohrloch strömte vor 200 Jahren Gas, das man praktischerweise für die Beleuchtung nutzte. Damals der erste gasbefeuerte Turm der Welt.
Das Leuchtfeuer wird heute mit Solarenergie versorgt“. A propos Wärme. Das Holz zum Heizen des eisernen Ofens im Schlafraum muss man in einer baufälligen Hütte sägen und mit der Schubkarre über den grasbewachsenen Inselrücken zum Haus schieben.
Am Ende eines langen, finsteren Gangs mit aufgerissenen, knarrenden Holzdielen das „Schlafgemach“: vier Bettgestelle, ein wackliges Tischchen, eine zersessene Couch. In der Decke klafft ein riesiges Loch. „Wir würden ja gern alles renovieren“, entschuldigt sich Peep, „aber das Geld dafür fehlt, obwohl die Insel samt Gebäuden ein Denkmal ist“. Es gebe zwar Pläne im Wirtschaftsministerium, aber die Umsetzung von Abriss, Neu- und Umbau könne dauern. Sagt´s und setzt sich spontan ans Klavier im Kulturraum, das mit historischen Büchern und Karten vollgestopft ist, und klimpert passend zum aufgehenden Erdtrabanten Beethovens Mondscheinsonate. Keri-Romantik pur.
Ein vielseitiger Mann, dieser Peep, der sonst studierter Elektroniker und Hobbytaucher ist.
Nur der Mond schaut zu
Der einzige Plattenweg führt an der Sauna vorbei zum „Kino“, das mit zerschlissenen Klubsesseln vollgestellt und ungemütlich kalt ist. Peep wirft die altertümliche Technik an. Über die Leinwand flimmert ein selbst produzierter Streifen zur langen Geschichte von Keri, 1623 erstmals urkundlich erwähnt. 1719 wurde auf Befehl Zar Peter I. ein Leuchtturm errichtet, der heutige 1803 in Betrieb genommen und 1857 mit einem Metallaufsatz verstärkt. 2003 verließ der letzte Leuchtturmwärter die 300 mal 100 Meter lange Insel. Und die wächst auch noch. Nachdem das letzte Eis vor 10.000 Jahren geschmolzen war, hebt sich das Land aus dem Meer. So wird Estlands Inselreichtum und Landfläche auch noch ständig vermehrt.
„Heute kommen Leute hierher, die Ruhe und Inspiration zum Arbeiten haben wollen wie Schriftsteller und Maler. Der mangelnde Komfort stört sie nicht“. Junge Leute reißen sich um den Job eines Inselwärters, der sich um Instandhaltung und Reparaturen kümmern muss, sogar über den Winter. „Dann wird´s hier a…kalt mit heftigen Schneestürmen“, weiß er aus Erfahrung, „aber sie finden´s normaalne oder, wie ihr sagen würdet: cool“.
Nostalgikern gefällt das „sowjetische Ambiente“, das sie nicht verändert wissen möchten. Ornithologen interessieren sich nur für die reichhaltige Vogelwelt und eine Robbenkolonie. Geografen erforschen die Entstehung der Insel. Dabei schütteten eiszeitlicher Schmelzwassersand und –kies unter dem Gletscher Wälle auf, die zu einer typischen Grundmoränen-Landschaft gehören. Wissenschaftlich gesehen ist Keri ein sogenanntes Os.
Nach der Einweisung wird es Zeit, Abschied zu nehmen. Dann bist du allein. Nur der Mond schaut belustigt zu, als das Boot mit seinem über den Wellen irrlichternden Boot von der Finsternis verschluckt wird. „Ich ruf dich an“, hat er noch gerufen, „um dich abzuholen!“ Das könne früher oder später sein, je nach Wetterlage. Zu essen ist genug im Rucksack, auch warme und Regenklamotten.
Wilde Träume in der Nacht
Erste „Amtshandlung als Leuchtturmwärter“: ein Pott heißer Tee mit Schuss, dann den Ofen anheizen. Bretter sind schnell gefunden.
Der Wind pfeift um die Baracke. Zeit, um mit Trainingsanzug und Socken in den Schlafsack zu kriechen. Auf dem Tisch flackern Kerzen, die das Kabuff in ein gespenstisches Licht tauchen und dunkle Figuren an die Wände projizieren. Undefinierbare Knack- und Knirschgeräusche verhindern jeglichen Schlaf. Irgendwann trommelt ein Regenschauer auf das Blechdach und sorgt bald für wilde Träume von herumgeisternden Leuchtturmwärtern und an Land gespülten Schiffbrüchigen.
Der nächtliche Gang zur Toilette schließlich wird zum Alptraum. Kein Licht, weil der Generator abgestellt ist, um Sprit zu sparen. Den langen Gang muss man sich stolpernd entlang tasten, bis man durch zwei Türen den Weg nach draußen gefunden hat, denn das Klo ist einfach nicht zu finden. Alle paar Sekunden durchzucken Leuchtturmblitze die abenteuerliche Szenerie. Der Wind heult und die Wellen brechen sich rauschend an den Granitbrocken, die Keri wie eine Ringmauer vor der Außenwelt schützen.
Am nächsten Morgen ist Ausschlafen angesagt, denn Regen trommelt gegen die Scheiben.
Duschen? Fehlanzeige! Aber wie wär´s mit einem kühlen FKK-Ostsee-Bad? Guckt ja niemand zu hier. Dazu muss man sich allerdings auf allen Vieren über glitschige Felsbrocken vortasten und aufpassen, dass man nicht ausrutscht und sich verletzt. Hilfe ist hier draußen nämlich nicht gleich zur Stelle. Der Weg zum Wasser gerät zur Angstpartie, das Bad selber zu einem kurzen Akt. Aber du fühlst dich erfrischt. Mit einem Pott Kaffee noch mehr. Der erste Insulaner-Tag in totaler Einsamkeit und Stille kann beginnen. Weit draußen pendeln die Tallink-Superfähren mit ihren Luxus-Restaurants und edlen Shopping Malls auf ihrer Bahn zwischen Tallinn und Helsinki. Aber noch kommt kein Gefühl auf, mit „denen da drüben“ tauschen zu wollen.
Unrühmliche Spuren beseitigt
Tages-Programmpunkt Nummer eins: Inselerkundung. Einen Steinwurf vom „Wohnhaus“ entfernt die Sauna. Die braucht zwei Stunden zum Aufheizen, also dann nachmittags.
Durch Flieder- und Heckenrosen-Gebüsch bahnt man sich den Weg zum Leuchtturm, dessen gemauerte Rundform wie ein gewaltiger Festungsbau wirkt. Eine metallene Kreuzkonstruktion davor weist auf zwei Gedenktafeln hin: den Abschuss der finnischen JU 52 „Kaleva“ 1940 durch einen sowjetischen Jagdflieger. Zwölf Menschen starben dabei. Das Wrack soll vor Keri liegen, wurde aber nie gefunden. „Wahrscheinlich“, so erzählte Peep, „von den Russen gehoben, um die unrühmlichen Spuren zu beseitigen“. Einen robusten Traktor mit Ketten haben sie im seichten Uferwasser allerdings stehen gelassen. Er rostet seitdem in der Brandung vor sich hin. Niemanden scheint´s zu stören.
Die Türen der maroden Gebäude um den Leuchtturm sind zum Teil herausgerissen, der Turmaufgang selbst ist gesperrt. Schade, denn von oben hätte man einen guten Überblick gehabt. Dafür darf man den 20 Meter hohen Funkmast besteigen, zwar rostig, aber noch ganz rüstig.
Man gewöhnt sich an alles
Die Ostseite des mächtigen Seezeichens ist von Wind und Wetter angenagt und einsturzgefährdet. Ein paar Balken sollen die traurige Ruine abstützen.
Den spitzen Nordzipfel von Keri bildet eine von der See aufgespülte Kiesterrasse, ein passabler Strand jedoch ist nirgends zu entdecken. Etwas Abkühlung nach schweißtreibendem Holzsägen wäre schon angenehm gewesen.
Mittagspause bei Spaghetti und Bolognese aus dem Glas. Danach Lesen, Schreiben und ein Schläfchen in dem inzwischen warmen Zimmer mit weitem Seeblick.
Langsam gewöhnt man sich an die Unzulänglichkeiten und Härten und findet das alles bald gar nicht mehr so schlimm. Im Gegenteil: Man schaut hinüber zum geahnten Festland und ist froh, für eine Weile den vielfach hohlen Aufgeregtheiten und dem Massenbetrieb der übrigen Welt entflohen zu sein. Die Stille sorgt für innere Ruhe und Ausgeglichenheit.
Irgendwann klingelt das Mobiltelefon und Peep meldet sich: „Das Wetter ist gut heute für die Überfahrt, morgen soll´s schon wieder kräftig blasen“.
Abschied von Keri – mit einem lachenden und einem weinenden Auge.
Unterwegs mit Kristiina und Andrus
Peeps Kollege Andrus kommt angeprescht und übernimmt den Vier-Seemeilen-Transfer zur Nachbarinsel Prangli. Das Leben wird gleich um mehrere Stufen angenehmer.
Quasi mit Familienanschluss, Hunden, Schafen, Katzen und leckerer estnischer Küche auf dem Bauernhof von Diina, Direktorin der Zwergschule mit neun Schülern, und Iivar, dem Bauern, Fischer – mit ihm kann man auf Fang hinausfahren – und Fremdenführer, in Lääneotsa. Man kommt sich schon vor wie in einer Luxusherberge, wobei im ehemaligen Kuhstall genächtigt wird. Über die Bucht grüßt nachts verloren das Leuchtfeuer von Keri herüber.
Kristiina von Prangli Travel übernimmt eine Inselführung durch die Wälder und an der Küste entlang; zeigt die besten Fundstellen von Pfifferlingen, Steinpilzen, Sandröhrlingen – die gibt es im September massenhaft – , eine Erdgasquelle mit Pfanne, wo man seine Pilze gleich braten kann; das Wrack einer deutschen Focke-Wulf 190; den Friedhof für die Schiffbrüchigen des ESTI RAND-Untergangs; den Riesenfindling Punane kivi; Insel-Museum; gibt Tipps für Mountainbike-Touren zu den schönsten Stränden.
Aller guten Dinge sind drei
Andrus Prangli, der mit seiner Frau Annika für Prangli Travel arbeitet, zufällig so heißt wie die Insel und Holzhäuser baut, fährt einen hinaus zu den Seehundsfelsen, wo man hunderte der putzigen Kegelrobben hautnah zu Gesicht bekommt. Auf dem Rückweg legt er auch gern mal auf Aksi an, der dritten Insel des Archipels, um die beiden einzigen Dauerbewohner, ein Ehepaar, zu besuchen. „Früher“, so berichtet der Mann, „wurden hier berühmte Holzboote gebaut. Doch als die Russen kamen, vertrieben sie die Familie und zerstörten alles. Aksi wurde zum Grenz-Außenposten und durfte damit nicht mehr betreten werden“. Heute wohnen sie in einem neuen, recht komfortablen Haus aus Feldsteinen.
Landschaftlich ein Paradies von Heide und Wald bedeckt mit weiten Stränden und glasklarem Wasser, das man touristisch nutzen könnte, doch die Beiden kümmern sich nur um die Schafe und Kühe des Inselbesitzers vom Festland. Er habe schon einmal wie Robinson auf einer Insel gelebt: zehn Jahre und völlig allein. „Das ist mir, anders als manche glauben, gut bekommen“, lächelt er schüchtern.
Man kann ihm – selbst nach der kurzen Keri-Erfahrung – nur zustimmen. Die „verlassene Insel“ und ihre Schwestern können süchtig machen…
Weitere Infos:
Estland, ein kleines Land, ein reiches Land – an Traditionen und Kontrasten, sowohl landschaftlich als auch kulturell. Ein EU-Land in Osteuropa, über das man hierzulande noch viel zu wenig weiß. Zwar nicht ganz nah, aber uns kulturell und historisch sehr nahestehend.
Keri: peep@keri.ee (bei Peep kann man sich für einen Gratis-Insel-Aufenthalt bewerben; bezahlt werden muss lediglich die Überfahrt – 20 Euro/Pers. – und die selbst vorher einzukaufende Verpflegung).
Prangli: pranglia@gmail.com (Annika, Andrus und Kristiina sorgen für einen rundum gelungenen Aufenthalt mit Inselrundfahrt, Seehundstour zu den Kegelrobben inkl. Insel Aksi; einzigem Insel-Restaurant; Fahrrad- und Seekajak-Verleih; Unterkunft bei Diina und Iivar auf dem Praaga-Hof)
Tallinn und mehr von Estland: eeva.lillemagi@eas.ee; www.visitestonia.com
Tallink-Fährpassagen: www.tallinksilja.de