Stralsunder Koloss wieder im alten Stammrevier
Stralsund. 12. Oktober 2013, 11.35 Uhr: Das Signal springt auf Grün. „Einfahrt frei!“, ruft der Berliner Lokführer seinem Hallenser Heizer zu. Ein kurzer Pfiff und der 163-Tonnen-Koloss zieht an, eine Schlange von zehn DR-Reisezugwaggons am Haken. Ihr Gewicht von 342 Tonnen sind kein Problem für die 2000-PS-Maschine.
Dicke Dampfschwaden umhüllen die Zuschauer des Spektakels, als die 03 1010 mit ihrem Anhang aus Original-Reichsbahn-Waggons der Lausitzer Eisenbahnfreunde zum Jubiläum in den Bahnhof der Hansestadt Stralsund rollt. (Foto unten)
Mit geübten Griffen an Regler und Steuerung bremst der Lokführer die 24 Meter lange 03 1010. Sie ist nicht nur das einzige betriebsfähige Exemplar dieser Baureihe, sondern auch die schnellste kohlegefeuerte Dampflok Deutschlands. Elf Tonnen oberschlesische Steinkohle, die für 400 bis 500 Kilometer reichen, lagern auf dem Tender. Im Schein der Flammen sieht man, dass dem Heizer der Schweiß übers Gesicht strömt. Ein Hobby für die Lok-Besatzung, die sonst Elektro-Loks Züge fährt.
Vor 150 Jahren
Historischer Hintergrund: Vor 150 Jahren bekam die Stadt Stralsund ihren Bahnanschluss. Zur Eröffnung reiste Preussenkönig Wilhelm I., späterer Kaiser, höchstselbst an den Sund. Heute natürlich in Gestalt eines Schauspielers wie viele andere Statisten in Kostümen und Uniformen der damaligen Zeit. Sogar Oberbürgermeister Dr. Alexander Badrow erschien im Bratenrock mit Zylinder und Amtskette.
Historisch auch der 5. Oktober 1936. Damals zog die baureihengleiche 03 187 den Eröffnungszug über den Neubau der 2540 Meter lange Rügenbrücke.
Zuletzt D 914
Was hier zum Vergnügen von Eisenbahnfans aus ganz Deutschland abrollt, war bis zum 31. Mai 1980 harter Arbeitsalltag für das Lokpersonal. „Damals zog unsere Stralsunder 03 10 10 zum letzten Mal den D 914 von Berlin nach Stralsund“, erinnert sich Lokführer a. .D. Peter Sobottka wehmütig an das historische Datum. Jahrzehntelang war der Führerstand seine Welt. „Eine Zeit, die wir nicht missen möchte“, meint er.
Seit ihrer Aufarbeitung 2000 durch das traditionsreiche Dampflokwerk im thüringischen Meiningen dampft sie, die im November 1940 bei Borsig in Hennigsdorf abgeliefert wurde, wieder über die Strecken.
Im Hafen wird die Lok frisch bekohlt und mit Wasser versorgt. „Ist ja fast wie eine Kreuzfahrt“, meint der Lokführer beim Blick auf den bewegten Sund.
Lokfans und Pfiffe
Viele Hände winken zum Abschied. „Gute Fahrt!“ wird dem D-Zug nachgerufen. Dutzende Kameras und Mikrofone zeichnen, als der Zug wieder über Berlin nach Cottbus rollt, den markanten Sound der Auspuffschläge auf, die besonders eindrucksvoll unter Brücken zwischen Häuserwänden hallen. Andere Lokfans haben sich mit ihrer Aufnahmetechnik neben der Strecke postiert. Der Meister lässt zu ihrer Freude die Dampfpfeife aufheulen. Mit bis zu Tempo 100 stampft 03 1010 nach Süden, dass die Treibstangen die zwei Meter-Treibräder nur so fliegen lassen: durch Wälder, Felder und über die Peene, deren Wasser fast bis an die Schwellen schwappt. Eine Kuhherde galoppiert neugierig heran. „Woanders laufen die weg vor uns“, grinst der Lokführer, „aber hier ist anscheinend manches anders“.
Traum erfüllt
Dann aber ist „V max“ angesagt, sprich: volle Fahrt! 03 10 10 will endlich zeigen, was nach 73 Jahren noch in ihr steckt. Leitungsmasten neben der Strecke fliegen nur so dahin. Die Männer ziehen ihre Mützen ins Gesicht. Schließlich zittert die Tachonadel bei 120 Kilometern pro Stunde. Die ursprüngliche Stromlinienverkleidung verhalf ihr einst sogar zu respektablen 150 Sachen.
Locker hängt sie die Autos auf der B 96 ab und läuft nach fünf Stunden pünktlich um 23 Uhr in Cottbus ein.
Für mich ist ein Jugendtraum in Erfüllung gegangen: einmal auf dem Führerstand einer Schnellzuglok mitgefahren zu sein.