EIN ZUG FÄHRT KARUSSELL

Weltrekord auf Schienen: Die Rhätische Bahn in der Schweiz hat mit knapp zwei
Kilometern den längsten Reisezug der Welt gefahren

von Fred Hafner

Es ist vollbracht: Die Rhätische Bahn (RhB) hat am 29. Oktober auf der UNESCO Welterbestrecke Sankt Moritz – Thusis vom Albulatunnel in Preda bis zum weltbekannten Landwasserviadukt kurz nach Filisur den längsten Reisezug der Welt gefahren. Für den Weltrekord bildete die RhB einen knapp zwei Kilometer langen Zug, bestehend aus 25 Triebwageneinheiten mit je 4 Wagen, insgesamt 3.000 Tonnen schwer. Am Abend zuvor hatte Seyda Subasi, Rekordrichterin des Guinnessbuchs der Rekorde, den Zug vermessen lassen. Weil unter ihren strengen Augen alles funktionierte, kommt die Rhätische Bahn nun mit dem »längsten Reisezug der Welt auf Schmalspur« in das Guinnessbuch der Rekorde.

Schon in der Nacht vor dem Weltrekord hatten sich mehrere Hundert Schaulustige im Schweizer Kanton Graubünden zwischen den Stationen Preda und Bergün und weiter bis zum Landwasserviadukt kurz nach Filisur versammelt. Sie kampierten in Wohnmobilen, schliefen auf Campingstühlen und -liegen oder kamen einfach mit dem Fahrrad. Denn die umliegenden Bergstraßen waren für Autos gesperrt worden. In „Bahndorf“ Bergün, Mittelpunkt des Events, waren ein großes Festzelt und eine Riesen-Leinwand für 3.000 Menschen aufgebaut. 120 Medienvertreter aus aller Welt waren live dabei. Auf dem Festgelände zeigte die Modellbahnfirma Märklin den Weltrekordzug im Miniformat – mit 25 Modellzügen und einer Länge von 80 Metern im Größenverhältnis 1:22.5.

Der originale Rekordzug rollte schließlich über 48 Brücken und durch 22 Tunnel eine fast 25 km lange Strecke hinab. Die sind nötig sind, um auf kleinem Raum große Höhenunterschiede zu überwinden. Es ging auf den knapp 25 Kilometern insgesamt 789 Höhenmeter abwärts. Nur 150 Menschen durften mitfahren, um das Gewicht des Zugs nicht noch weiter zu erhöhen.

In der Nacht zuvor war der exakt 1.906 Meter lange Rekordzug im 5,9 Kilometer langen Albulatunnel wie eine Perlenschnur zusammengestellt worden.

Bahnhof Preda: Am Albulatunnel startete der fast zwei Kilometer lange Zug mit 100 Wagen am 29. Oktober 2022 seine Weltrekordfahrt.

Kurz vor dem Start machte sich im Zug noch einmal Anspannung breit. Denn als es Punkt 14 Uhr losgehen sollte, tat sich zunächst nichts. Ungewöhnlich für die Schweiz. Wer deren Bahnsystem kennt, weiß, dass man nach ihm die Uhr stellen kann. Doch dieser Zug war selbst für Schweizer Verhältnisse etwas ganz Besonderes. Grund für die Verzögerung: Eine von 19 Kameras, ausgerechnet jene an der Spitze des Zuges, hatte eine Störung. Die wurde behoben. Punkt 14.27 Uhr rollte der Rekordzug dann aus dem Albulatunnel und machte sich auf zu seiner einmaligen Fahrt.

Jetzt ging das Spektakel erst richtig los: Mehrere Hubschrauber kreisten in der Luft, das Schweizer TV sendete live, in einem Großkino in der Kantonshauptstadt Chur und in der Schienenhalle des Verkehrshauses in Luzern konnte der Weltrekordversuch ebenfalls live mitverfolgt werden.

Medienmeute: Mehr als 120 Journalisten aus aller Welt waren in das Bergdorf Bergün in Graubünden nur für diesen einen Tag gereist, um die Weltrekordfahrt zu erleben.

Die inzwischen etwa 5.000 Menschen an der Strecke johlten und applaudierten beim Anblick der knallroten Riesen-Wagenschlange. Wer nicht grad ein Kind auf dem Arm trug, machte Videos und Fotos mit Kamera und/oder Handy. Denn was die Besucher nun zu sehen bekamen, war wirklich einmalig: Die unübersehbare Wagenschlange wand sich mit 30 bis 35 km/h den Berg hinab. Während die Zugspitze bereits zwei Etagen tiefer war, rollten Mitte und Ende des Zugs jeweils eine bzw. zwei Etagen höher in den Bergen – und fuhren gerade in jeweils andere Tunnel ein. Den besonderen Effekt der Berglandschaft zwischen Preda (1.788 Höhenmeter) und Bergün (1.367 Höhenmeter) macht aus, dass der Blick nach unten entlang der Zugspitze talwärts schweift, während mehrere Viadukte und Tunnel weiter oben sich gerade ein anderer Zugteil durch die Serpentinen schlängelt.
Als Mitreisender im Zug bin

ich für Sekunden immer wieder verwirrt: Wüsste ich nicht, dass ich im längsten Zug der Welt sitze, kämen mir die oberen Zugteile jeweils als andere, eigene Züge vor. Die Fahrt wird zum Verwirrspiel. Renato Fasciati, Chef der Rhätischen Bahn, bringt es auf den Punkt:
„Unser Zug fährt Karussell.“

links: Renato Fasciati, Chef der Rhätischen Bahn, im Gespräch mit dem Autor

Herausforderung für den „Weltrekordversuch“ (wie die Schweizer in sympathischer Bescheidenheit sagten) war die Koordination unter den sieben Lokführern: Sie mussten exakt gleichzeitig beschleunigen oder bremsen, um den etwa 3000 Tonnen schweren Zug genau auf Spur zu halten. Dafür hat das Militär extra ein Feldtelefon mit Kabel vom ersten bis zum letzten Lokführer zur Verfügung gestellt. Denn zwei Versuche vorab hatten gezeigt, dass wegen der vielen Tunnel auf der Strecke weder per Funk noch per Handy sonst überall gleichzeitig Empfang gewährleistet werden konnte. Gesteuert wurde die Fahrt von der Betriebszentrale in Landquart aus. Sie musste sicherstellen, dass die Signale, aber auch die Einrichtungen an den Bahnübergängen und die Kundeninformationen im richtigen Moment ausgelöst wurden.

Der Weltrekordzug rollt: Den besonderen Effekt der Berglandschaft zwischen Preda (1.788 Höhenmeter) und Bergün (1.367 Höhenmeter) macht aus, dass der Blick nach unten entlang der Zugspitze talwärts schweift, während sich mehrere Viadukte und Tunnel weiter oben ein anderer Zugteil durch die Serpentinen schlängelt.

Als der Zug nach Halt in Bergün dann auch das berühmte Landwasserviadukt hinter Filisur überquert hatte, war Renato Fasciati, Direktor der Rhätischen Bahn, die Erleichterung anzusehen. Schließlich hatte sich sein Unternehmen auf diesen Tag Ende Oktober über viele Wochen und Monate gründlichst vorbereitet: „Wir sind überglücklich, dass uns dieser Weltrekord geglückt ist. Wir hatten nicht nur hier in Bergün ein wunderschönes Bahnfest, sondern konnten uns mit dieser Rekordfahrt dank engagierten Partnern und Sponsoren sowie einem unglaublich engagierten Team weltweit als faszinierende und innovative Gebirgsbahn präsentieren», sagte er kurz nach Vollendung des Weltrekords.

Und welcher Rekord wurde nun eigentlich geschlagen? Ein ganz alter, was diese Rekordfahrt einmal mehr besonders macht! Am 27. April 1991 rollte in Belgien der bisher längste Personenzug der Welt über die Gleise. Die 70 aneinander gekoppelten Wagen mit einer Gesamtlänge von 1732,9 Metern bildeten bis jetzt einen ungeschlagenen Rekord in der Welt der Eisenbahn. Diesen über 30 Jahre alten Rekord hat die Rhätische Bahn nun übertroffen.

Zahlen und Fakten zum Weltrekordversuch
Exakt 24.930 Meter lang ist die Weltrekordstrecke von Preda bis Alvaneu.
Dabei werden 789.4 Höhenmeter (Preda = 1788.7 m ü.M.; Alvaneu = 999.3 m ü.M.) überwunden.
Die Weltrekordfahrt führte über 48 Brücken und durch 22 Tunnels.
Der größte Viadukt auf der Weltrekordstrecke ist der weltbekannte Landwasserviadukt
kurz nach Filisur mit einer Länge von 142 Metern und einer Höhe von 65 Metern.
Der längste Tunnel auf der Weltrekordstrecke ist der Greifensteintunnel kurz vor Filisur
mit 698 Metern.
Mit der Weltrekordversuchsfahrt wurden 4000 kWh Bremsenergie (Rekuperation)
erzeugt.
Mit 30 bis 35 km/h ist der Weltrekordzug gefahren.
Rund eine Stunde dauerte die Rekordfahrt.
Der Zug setzte sich aus 25 Kompositionen mit jeweils vier Wagen der neuen Capricorn-
Triebzüge zusammen und war 1,91 Kilometer lang.
Rund 2.990 Tonnen betrug das Gewicht des Rekordzuges.
Die Kommunikation innerhalb des Zuges wurde mittels eines fast 2 Kilometer langen
Feldtelefons vom Zivilschutz sichergestellt.
Zusätzlich wurden im Zug 7 Lokführer und 21 Techniker eingesetzt, um den Zug fahren
zu können.
Der Albulatunnel war während rund 12 Stunden für den Bahnverkehr gesperrt.

Fotos: Blick TV, Fred Hafner

Ein Gedanke zu „EIN ZUG FÄHRT KARUSSELL“

  1. Ein sehr sympathischer Bericht. Tolle Leistung und großer Spaß !
    Alte Erinnerungen werden wach . Im Winter in Dunklen rauf mit dem Zug und von Preda runter mit dem Schlitten .

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