„GOTT HAT UNS DAS SCHÖNSTE FLECKCHEN (ERDE) GESCHENKT“

Georgien im Aufbruch

Im Kampf um seine Unabhängigkeit vom mächtigen Nachbarn Russland wirbt Georgien mit seiner großartigen Natur zwischen Kaukasus und Schwarzem Meer und der angestrebten Nähe zu Europa.

Text und Fotos: Hubert Kemper

Wer Wein verpönt, hat es schwer im Mutterland des Rebbaus. Es ist noch früher Vormittag, doch die Gäste in der Vineria Kacheti, vornehmlich Sibirer und Kasachen, sind nach der sechsten Probe bereits in guter Stimmung. „Jetzt darfst Du nicht kneifen“, warnt Giorgi. „Das ist Khvanchkara, Stalins Lieblingswein“. In der Tat: Der halbtrockene Rote mundet vorzüglich.

Mit dem Finale der Verkostung will Giorgi nicht der unveränderten Verehrung vieler Landsleute für den aus Georgien stammenden Diktator Stalin entsprechen. Denn mit seiner Erfahrung aus dem Studium an der Ruhr-Uni Bochum und später als Justiz-Staatssekretär in Tiflis verkörpert der Weingutchef eine moderne Generation, die das Erbe der Sowjetzeit endgültig abstreifen will. „Wir gehören eindeutig zu Europa“, definiert Giorgi seine politische Präferenz – um einschränkend die nur lauwarme Unterstützung seiner Regierung für die Ukraine zu erklären: „Ein, zwei russische Raketen auf Tbilisi, und wir wären machtlos“.

„Politik später. Jetzt geht’s um Wein“, grätscht unser Begleiter David dazwischen. Denn wir sind im Ursprungsland des Rebsaftes. In Kachetien blickt man auf eine über 8000 Jahre alte Geschichte des Weinbaus zurück. Typisch ist die Gärung in Tongefäßen, die in die Erde eingelassen sind. „Georgische Lieder handeln von Wein oder Liebe oder Liebe zum Wein“, erklärt David, und mit dem Spruch „Hello Wein, good bye problems“ beschreibt er zugleich die Mentalität seiner Landsleute. Herzliche Gastfreundschaft paart sich mit unverkrampfter Alltagsbewältigung. „Probier noch einen Tschatscha“, sagt David. Der traditionelle Tresterbrand ist finaler Pflichtkonsum in jeder gemütlichen Runde.

An Weinproben kommt man in Kachetien und Tuschetien, diesen südlich des Hohen Kaukasus gelegenen Hügelregionen, ebenso wenig vorbei wie an der Besichtigung von Klöstern, Schlössern und Naturschätzen. Telavi, größte Stadt Kachetiens, wird überragt von einer 900 Jahre alten Platane, um deren Stamm eine komplette Schulklasse einen Kreis bilden könnte. 

Sehenswerter als Telavia ist das nahe Sighnaghi. Die engen Gassen mit den holzgeschnitzten Balkonen der Häuser aus dem 17. und 18. Jahrhundert vermitteln italienisches Flair. Und bei klarem Wetter sind die schneebedeckten Gipfel des Großen Kaukasus zu sehen. 

Die Hauptattraktion von Signaghi ist das Frauenkloster Bodbe. Mit dem Grab der Missionarin und Heilerin Nino gilt Bodbe als eine der heiligsten Stätten Georgiens. Nino hatte die Bekehrung der Georgier zum Christentum eingeleitet. Die Orthodoxe Kirche des Landes nennt sie die „Erleuchterin Georgiens“.

Am nächsten Tag hat sich der Regen verzogen. Der Kashbek, mit 5.047 Metern zweithöchster Berg Georgiens, zeigt sich in majestätischer Erhabenheit. Der Weg in die Nähe des Vulkangipfels führt über die Georgische Heerstraße. „Das ist keine Straße, sondern Poesie, eine wunderbare, phantastische Erzählung“, schwärmte einst der Schriftsteller Anton Tschechow. Heute ist die 213 Kilometer lange Passstraße zwischen Tbilisi und Wladikawkas in Russland ein Alptraum – speziell für LKW-Chauffeure. In kilometerlangen Schlangen und oft tagelangen Staus quälen sie sich vorbei an der Festung Ananuri, durch den Skiort Gudauri bis zum 2.379 Meter hohen Kreuzpass. 

Die Jahrtausende alte Handelsroute stellt die einzige Landverbindung zwischen Armenien und Russland her. Kennzeichen aus Aserbaidschan, Türkei und Kasachstan zeigen wie massiv Sanktionen gegen Russland umgangen werden. Die Heerstraße ist Russlands Schlupfloch, und viele Georgier machen ihrem Unmut Luft.

„Beim Betreten des Hauses stimme ich überein, dass Putin ein Kriegsverbrecher ist“, sortiert das Restaurant Guda unerwünschte Gäste aus.  „Jetzt sind wir doch wieder beim Thema Politik“, schmunzelt David.

Zur Wahrheit gehöre, dass Georgien über 300.000 Russen nach Putins Rekrutierungswelle im Herbst 2022 Aufnahme gewährt habe. Das habe zu einem massiven Anstieg der Mietpreise geführt. 

Doch Fakt sei auch die Verlogenheit der Eroberer aus dem Osten, ergänzt David. Jetzt stehen wir unterhalb des Kreuzpasses an einem riesigen Monument, das 1983 die Freundschaft zwischen Russland und Georgien bekunden sollte. Seit 2008 okkupiert Russland ein Fünftel des kleinen Nachbarlandes. Der am Denkmal eingravierte Spruch des georgischen Schriftstellers Rustaveli „Ein echter Freund wird immer helfen“ gewinnt angesichts des Ukraine-Krieges zynische Aktualität.

Willkommen in Stepanzminda. Anders als der gleichnamige „Prometheus-Berg“ Kashbek trägt der Gebirgsort unweit der Grenze zu Russland wieder seinen alten Namen: St. Stephan. Viele Straßen sind ungepflastert, im Vorgarten des Museums grasen Kühe, wie überall im Land lungern wilde, aber friedliche Hunde herum. Ein bizarrer Charme, der dem Tourismusboom nicht im Wege steht. 4-Sterne-Hotels werben mit Wellness- und Fitness-Angeboten, unzählige Pensionen bieten preiswerte Unterkünfte und stärken mit schmackhaften Gerichten wie dem Nationalgericht Khinkali (Teigtaschen mit Fleisch in saftiger Soße).

Besucher wie Pierre sind Exoten in Stepanzminda. Mit seinem Yamaha-Motorrad legt der 64jährige Franzose auf dem Weg in die Mongolei nur einen Zwischenstopp ein. Wir genießen lieber zu Fuß die atemberaubende Natur. Gut zwei Stunden dauert die Wanderung nach Gergeti Sameba, der Kirche zur Heiligen Dreifaltigkeit. Der Aufstieg zum Kwemi Mta auf 2170 Metern Höhe führt vorbei an Kiefernwäldern, Wasserfällen und weiten Wiesen. Lohn der Anstrengung: Vor der Kulisse des Schnee bedeckten Kaukasus-Riesen Kashbek zeichnet sich die Kirche aus dem 14. Jahrhundert ab, die einst ein Symbol für Frieden und Einheit sein sollte.

Die Sameba Kathedrale ist die größte Kirche Georgiens und die drittgrößte orthodoxe Kathedrale der Welt.
 

Zurück nach Tbilisi: Aus der Welt der Fünftausender in die quirlige Metropole, wo futuristische Wolkenkratzer und Altstadthäuser mit ihren typischen Veranden, einige am Rand des Steilufers des Kura-Flusses, einen reizvollen Kontrast bilden.

Steil über dem Kura-Fluss prägen Häuser mit ihren typischen Veranden das Altstadt-Bild von Tiflis. 

Tbilisi, mit seiner orientalisch anmutenden Atmosphäre einst erreichbares Ziel ostdeutscher Weltenbummler, ist heute Schmelztiegel vieler Nationen. Hohe Sicherheit, günstige Preise, liberale Gesetze und ein für sie auch im Sommer erträgliches Klima, sprechen vor allem Gäste aus den Golf-Staaten an. 

Ein Lockmittel sind auch die Schwefel-Thermalbäder. Auf ihre Wunderwirkung führen Legenden auch die Gründung der Stadt durch König Wachtang Gorgassali zurück. Einige Kuppelbauten im Bäderviertel Abanotubani haben die zahlreichen Eroberungen der Stadt durch Mongolen, Perser und Türken überstanden. 

Tbilisi, die brodelnde Millionenstadt, eignet sich für eilige Besucher als strategisch günstige Startbasis: Mtskheta, das geistige Zentrum des Landes, ist auch mit der Marschrutka, dem beliebten Kleinbustransport, erreichbar. Viele Georgier pilgern in die als heilig verehrten Kirchen. Auf einem Bergrücken thront das Dschwari-Kloster aus dem 6. Jahrhundert. Der Blick reicht über den Zusammenfluss von Kura und Aragvi bis zu den Gipfeln des Kaukasus. In Mtskheta herrscht lebhafter Besucherrummel. Besonders beliebt ist eine georgische Spezialität: Churchkela, ein Snack aus Walnüssen, die mit Weintraubensaft und Honig überzogen sind. 

Georgisches Fruchtkonfekt: Tschurtschechela ist eine Dessert-Spezialität aus Walnüssen  und Traubensirup.

Uplisziche nennt sich die „Festung Gottes“. Teile der Felsen gehauenen Stadt stammen aus dem dritten und vierten Jahrtausend vor Christus.
Trotz Zerstörung durch die Mongolen sind noch Weinkeller, die Ruinen eines Theaters und Reste des Wasserleitungssystems zu erkennen. Die Arbeiten verrichteten Sklaven. 

Das Höhlenkloster von Wardzia, hoch über dem Ufer der Kura gelegen, zählt zu den großen Touristen-Attraktionen in Georgien.

Die am meist fotografierte Felswand ist rund 500 m hoch.

Das Erklimmen der Höhlen auf den in Stein gehauenen Stufen macht eine gute Kondition erforderlich


links: Die Höhlenkloster von Wardzia beeindrucken jeden Besucher.

Mit jüngerer Geschichte verbindet auch Gori seine Bedeutung. Das Josef-Stalin-Museum am Boulevard 32 erzählt das Leben des nur wenige Meter von hier entfernt geborenen Revolutionärs und Diktators.

Geht man durch die prächtigen Säle, sieht die überlebensgroße Statue auf dem steinernen Sockel und die zahlreichen Fotos und Erinnerungsstücke, könnte man vergessen, dass Stalins Säuberungen bis zu 20 Millionen Menschen zum Opfer gefallen sind.

rechts: In seiner Heimstadt Gori genießt Ex-Diktator Stalin immer noch hohes Ansehen.

„Ach ja, unten haben wir noch einen anderen Raum“, sagt unsere Führerin auf Nachfrage etwas verlegen. Schwarz-Weiß-Fotos zeigen dort die berüchtigten Gulag-Arbeitslager. 

Die jüngste Touristenattraktion des Landes befindet sich knapp drei Autostunden von Tbilisi entfernt. Zeit genug, um der Schöpfungsgeschichte auf Georgisch zu lauschen. „Als der liebe Gott die Erde verteilte, seien die Georgier zu spät gekommen, weil sie getrunken und Loblieder gesungen haben,“ erzählt David. „Dann hat uns Gott das schönste Fleckchen geschenkt, das er eigentlich für sich ausgesucht hatte“. Auch auf das Naturreservat an der Dashbashi-Schlucht trifft das zu: Die 240 Meter hohe Glasbrücke überspannt das 280 Meter tiefer gelegene Tal. Im Guinnessbuch der Rekorde wird die Brücke als größte und höchste Hängekonstruktion der Welt bezeichnet.

Die gläserne Brücke über die Dashbashi Schlucht hat es ins Guinnessbuch geschafft.

Auf dem Weg zurück nach Tbilisi stößt man auf ein Erbe deutscher Siedler: Die renovierte lutherische Kirche in Assureti (Elisabethtal) ist Mittelpunkt eines schwäbischen Dorfes, in dem die typischen Häuser am besten erhalten geblieben sind. Anfang des 19. Jahrhunderts waren deutsche Siedler auf Einladung des russischen Zaren nach Georgien gezogen. 1941 wurden sie von Stalin nach Zentralasien deportiert. In Assureti sind 260 deutsche Fachwerkhäuser erhalten geblieben, in denen jetzt georgische Familien leben.

Muss man Batumi gesehen haben, wenn man Georgien besucht?

Ja, denn die zweitgrößte Stadt des Landes ist mehr als ein „Dubai am Schwarzen Meer“. Denn sie verkörpert mit ihren Wolkenkratzern und ihrer Internationalität den Aufbruch des Landes und den Weg nach Europa. Chinesische Baufirmen vollenden derzeit eine Autobahn zwischen Batumi und Tblisi.

„Wenn Du das nächste Mal kommst wirst Du unser Land nicht wieder erkennen“, sagt David zum Abschied. Ich hoffe, er meint es positiv.

INFOS
Einwohner: 3,7 Millionen, Größe: 69.700 qkm (wie Bayern)

Anreise: Täglich mit Lufthansa von München oder mit Georgia Airways von Berlin nach Tbilisi. 

Günstigste Reisezeit: Von April bis Oktober.

Einreise: Mit Reisepass, kein Visum erforderlich

Klima: Subtropisch am Schwarzen Meer, mediterran im Westen, alpin im Kaukasus, Wüstenklima in der südöstlichen Steppe.

Währung: 1 Lari = 0,36 Euro. Problemloses Bezahlen mit Kreditkarte.

Übernachtung: In Tbilisi Hotels auf internationalem Niveau. Landesweit viele familiär geführte, preiswerte Pensionen mit guter Küche. 

Lesetipp: Georgien , Reise Know How, von Marlies Kriegenherdt.

Über den Autor:
Hubert Kemper hat seine Leidenschaft für das Reisen mit dem Interesse für Politik als Chefreporter der Westfalenpost (Hagen), später als Korrepondent der Freien Presse, verbinden können. Auch im Ruhestand schreibt er für die Sächsische Zeitung und Freie Presse.