Touristische Stippvisite beim polnischen Nachbarn an der Oder
Nicht nur wenn es Strippen gießt, auch bei Sonnenschein quillt unsere Stralsunder Innenstadt regelrecht über – vor Touristen und Blech. Das ist gut fürs Geschäft, keine Frage, aber als Einheimischer gerät man da schnell zur Minderheit und verkriecht sich in die vier Wände. An die Strände zu fliehen wie früher, das erscheint zu Corona-Zeiten schier aussichtslos: Autolawinen, Parkplatznöte, Kurtaxe, Menschenmassen. Da fragt man sich, ob es nicht noch Alternativen gibt. Ja, die gibt´s, zwar im Ausland, aber doch ganz „dichte bi“ und wesentlich preiswerter. Wie wär´s da zum Beispiel mit der ehemaligen pommerschen Landeshauptstadt Stettin? Die ist gerade mal gut zwei Stunden Autofahrt – entgegen dem allgemeinen Strom zur Küste – oder ein bisschen mehr per Bahn entfernt. Man verhält sich damit quasi antizyklisch. Klar, da pilgern auch Touristen auf ihren Sightseeing-Pfaden, aber in der Fast-Halbmillionenstadt verlaufen die sich auf angenehme Art.
Engere Kooperation
Ein Wochenende wäre gut, aber man kann auch in kürzerer Zeit einen guten Überblick gewinnen und dann irgendwann vertiefen.
Wer im Internet zu Hause ist, wird unter www.visit.szczecin.eu oder www.visit.westpomerania.eu einige Angebote für ein attraktives Kurzprogramm finden. Die Macher in der dynamischen Oder-Stadt haben sich auf die Fahnen geschrieben, nicht nur „Heimweh-Touristen“, sondern vor allem auch junge Leute verstärkt anzulocken. Die größte Stadt Nordwestpolens und Hansestadt ist zwar schon über 700 Jahre alt, aber macht einen jungen Eindruck, wozu die Studenten von drei Universitäten nicht unwesentlich beitragen.
Konrad Guldon, der 40 Jahre junge Chef des polnischen Fremdenverkehrsamtes in Berlin, hat sich auch in Stralsund umgesehen, „denn man kann nur dazulernen, weil Tourismus grenzübergreifend ist“, meint er, „wie man an der florierenden deutsch-polnischen Euroregion Pomerania
sieht“. Was er sich von einer engeren Kooperation erhoffe? „Wir müssen mehr junge Leute dazu motivieren, Polen als ein noch preiswertes Reiseland mit großem Naturpotenzial zu erkennen“. Außerdem sollten Vorurteile abgebaut werden, meint er, „denn unser Land ist sicher, schnell erreichbar und tourismusfreundlich“. Er und sein ebenfalls junges Team haben sich zum Ziel gesetzt, diese Attribute stärker in den Focus ihrer Werbemaßnahmen zu rücken.
Die stärksten TOP 12
Das ist auch abzulesen an der „hohen Zahl von Start-up-Unternehmen, besonders in der künstlerischen und IT-Branche, die wie Pilze aus dem
Boden schießen“, weiß Dr. Artur Pomianowski (34), Direktor des Tourismus-Büros von Stettin und West Pomerania. Er legt besonderen Wert auf die vielen Angebote besondersfür junge Leute. Sein praktisches, gut gestaltetes und übersichtliches Faltblatt „Willkommen in Stettin!“ führt unter „TOP 12“ die für
sie stärksten Highlights in Stettin auf, die neugierig machen: von „Los geht´s!„Floating Garden“, „Mal was Anderes“, „Für Entdecker“, „Wie schmeckt Stettin“, „Mal auf ein Bierchen“, „Sei ein Stettiner“, „Greifen“, „Touristische Straßenbahn und Busse“, Aussichtspunkte“ über „Veranstaltungen“ bis hin zur Frage „Liegt Stettin am Meer“. Ein Feuerwerk von Möglichkeiten und Anregungen. Die handliche Broschüre „Szczecin – die schönsten Plätze“ ist ein sehr praxisbezogener Reiseführer mit allem unbedingt Sehenswerten wie zum Beispiel
Pommernschloss, Jakobikirche, Rotes Rathaus und Neustadt, Hakenterrasse und Philharmonie; ebenso wie die Broschüre „Eine Region für Dich“, die einem das nähere und weitere Umland schmackhaft macht. Dr. Artur Pomianowski kann das alles auf Anfrage zuschicken: info@zrot.pl Sein Disco-Tipp – es gibt rund 20 in der Stadt, die aber wegen Corona teilweise geschlossen sind – ist übrigens „WyspaGrodzka“ in der Nähe der City Marina.
Werften-Krise bekämpfen
Dort trifft man auch Zbgniew Jagniatkowski auf seiner schnittigen 15-Meter-Motoryacht „Kuba“. Der fitte 72-Jährige ehemalige Kapitän und Weltumsegler ist nicht nur Präsident des Seglerverbands West Pomerania, sondern auch Chef der Stettiner Reparaturwerft JPP Marine. Während einer Fahrt über die Ostoder und den Dammschen See mit seinem deutschen Betonfrachter-Wrack von 1945 nach Ziegenort am Stettiner Haff kommt er auch auf die M-V-Werften-Krise zu sprechen.
Er meint, „wenn Chinas Werften staatlich subventioniert werden, um mit Dumpingpreisen den Markt zu ruinieren, sollten wir als europäische Schiffbauer verstärkt kooperieren und damit kontern. Solche Schiffe haben einen höheren Wert als die fernöstlichen und würden dann auch eher geordert werden. Das Potenzial ist da“. Also auch hier der Ansatz, über den Rand der Suppenschüssel zu schauen.Auch beim Thema „Kreuzfahrt“, das in der Oderstadt eine hohe Priorität genießt. Man ist bemüht um mittelgroße und kleine Einheiten, keine „Massentransporter“. Ein deutsch-polnischer Workshop ist in Entstehung.
Seine Werft sei übrigens mit Schiffsreparaturen, Umbauten und Sektionsfertigungen für Neubauten auf deutschen Werften gut ausgelastet.
„Wenn nur wieder die traditionsreiche Vulkan-Werft wieder in Fahrt käme“, sinniert der welterfahrene Senior, „würde das auch Stettin einen enormen Schub geben“.
Im sehenswerten Museum für Technik und Kommunikation kann man erleben, welchen hohen Stellenwert Stettiner Technik mal hatte – von Schreibmaschinen bis zu Stoever-Limousinen.
Deutsch-Polnisches
Übrigens: Mit der langen deutschen Geschichte haben die heutigen Stettiner kein Problem. Im Gegenteil, sie sind sogar stolz darauf, auch auf deutsche Wurzeln und Kultur. Es ist nun mal eine Grenzregion mit vielen Überschneidungen und Gemeinsamkeiten. Im nur zehn Kilometer entfernten Löbnitz wird deutsch-polnisches Zusammenleben schon seit Jahren aktiv praktiziert, sogar in einem zweisprachigen Gymnasium und vielen Polen als neuen Häuslebauer-Einwohnern. Junge Leute sind hier schon längst mangels Arbeit abgewandert.
Deutschen gegenüber sind die polnischen Nachbarn sehr offen und sagen sogar unumwunden: „Wir sind Stettiner und Pommern“. Man hat den Eindruck, dass eher die Deutschen verkniffen-zurückhaltend reagieren, wenn es um das Thema Vergangenheit geht.
Die erlebt man zum Beispiel in den Backstein-Gewölben Kellerkneipe „Wyszak“ unter dem Alten Rathaus am wunderschönen Heumarkt mit seinen hervorragend restaurierten Bürgerhäusern. An schönen Sommerabenden, wie wir sie erlebt haben, trifft sich hier, auch in den vielen urigen Kneipen und Cafés rings um den Platz, halb Stettin, um das selbst gebraute Bier zu leckeren polnischen Pirogen und Suppen zu genießen.
Stettin lebt und entwickelt sich rasant wie einst, heute nur unter anderer Flagge.
Fotos: Peer Schmidt-Walther, ©Polen.travel