Geheimnisvolle Wohntürme der Qiang-Nationalität in Sichuan
Unser Fahrer Chen Xiao, gleichzeitig Fremdenführer und begnadeter Unterhalter, wird auf der Fahrt von Chengdu nach Juizhaigou immer schweigsamer. Wir sind in der Provinz Sichuan im Südwesten Chinas unterwegs. Die Fahrt mit dem Mini-Van ist rasant, trotzdem werden wir umsichtig chauffiert, navigiert ist wohl das treffendere Wort. Wärmende Temperaturen in der Septembermitte, sowie ein blauer Himmel ohne Smogdunst sind in dieser Region Chinas mit von der Partie.
Jiuzhaigou (九寨溝/九寨沟)‚ auch als `Tal der neun Dörfer‘ bekannt, steht als Naturschutzgebiet Sichuans seit 1992 auf der Liste des UNESCO-Weltnaturerbes und somit auch auf jedem gutgeführten Touristenprogramm. Der Name Jiuzhaigou bezieht sich auf neun tibetische Dörfer, die in Tälern, umgeben von einer einzigartigen Berglandschaft mit Seen und Wasserfällen, gelegen sind.
160 Kilometer von Chengdu soll ein besonderes Dorf liegen, dass ich wegen seiner bizarren Wehrtürme aus der Nähe betrachten will. Mit dem Auto geht es also die Chengdu-Dujiangyan-Schnellstraße entlang, über die Yincheng-Brücke, dann weiter auf der Chengdu-Aba-Staatsstraße und immer entlang des Flusses Minjiang. In Wenchuan einmal links abgebogen über die Minjiang-Brücke und nochmals die Staatsstraße 312 ein Stück aufwärts bis das Dorf Taoping angeschrieben steht.
Noch unterwegs erfahre ich, wieso der Fahrer Xiao verstummt ist. Leise beginnt er vom schweren Erdbeben 2008 in der Provinz Sichuan zu erzählen. Mit einer Magnitude der Stärke 7,9 forderte das Beben 80.000 Opfer, beschädigte in Sichuan und den anliegenden Provinzen mehr als fünf Millionen Gebäude, und machte rund 5,8 Millionen Menschen obdachlos.
Die durch das Erdbeben ausgelösten Erdrutsche und Steinschläge blockierten die wichtigsten Straßen in der Region und erschwerten die Zufahrt der Rettungsmannschaften und später auch die Hilfslieferungen. Xiao hatte das Chaos hautnah erlebt. Bis heute hat er Mühe, die inzwischen wieder instand gesetzten Straßen, entlangzufahren. Die Bilder der Erinnerung sind einfach stärker. Gehört habe er, dass Experten den Verdacht hätten, dass die Erdstöße von einem neuen Stausee ausgelöst worden seien. In letzter Zeit würden sich Beben in der Nähe von Stauseen häufen. Hunderte Millionen Tonnen Wasser würden den Boden zusätzlich unter Druck setzen, heisst es. Doch die Warnungen vor selbstgemachten Katastrophen verhallen, der schnelle Wohlstand für alle sei halt wichtiger. Xiao hat dafür zwar Verständnis, fragt sich aber doch, ob es das alles wert sei.
Das Dorf Taoping wurde im Jahr 111 v. Chr. während der westlichen Han-Dynastie (206 v.Chr. – 24 n. Chr.) gegründet und befindet sich im autonomen Bezirk Aba. Dort leben etwa 500 Einwohner der tibetischen und der Qiang-Nationalität in 98 Haushalten. Das Volk der Qiang ist eine von Chinas ältesten ethnischen Minderheiten, heißt es. Das Zeichen Qiang findet sich schon vor 3000 Jahren in eingeritzten Hieroglyphen auf Knochen und Schildplatten. Die Qiang bezeichnen sich selber als „Erma“, was so viel wie „Einheimische“ bedeutet. Ihre Sprache gehört zur Tibetisch-Burmesischen Sprachfamilie. So gibt es zwar unterschiedliche Dialekte im Süden und Norden, doch keine eigenen Schriftzeichen.
2000 Jahre alt soll diese Siedlung sein und zu den besterhaltenen in ganz China gehören. Wegen ihrer Architektur hat sie von Gelehrten den Namen „Antike Burg des Orients“ erhalten.
Früher führte nur eine Hängebrücke aus Bambus ins Dorf. In Kriegszeiten war sie leicht abzubauen und hielt so die Invasoren auf räumlichen Abstand. Heute ist das Dorf durch eine Zementbrücke mit der Staatsstraße 312 verbunden. Doch die Dorfbewohner haben sich eine andere List einfallen lassen, um die modernen Invasoren, die Touristen, am massenhaften Einfall zu hindern.
Vor den karstigen Bergen heben sich in gelblich-brauner Camouflage die Häuser des Dorfes kaum ab. Gebaut aus Stein und Lehm, funkeln sie in der Sonne und blenden den Betrachter. Doch die eigentliche Sensation sind die eckigen Türme, die sich 30 Meter in die Höhe recken. Taoping, so heisst es, habe in den vergangenen Jahrhunderten unzählige Konflikte und Kämpfe überstanden, was vor allem auf die effiziente Verteidigung seiner Dorfbewohner zurückzuführen sei. Da die Häuser sämtlich durch Passagen und unterirdische Tunnel verbunden seien, könnte man über die Dächer, aber auch unter der Erde einen Fluchtweg oder ein Versteck finden. Diese Tunnel sind übrigens auch zur Wasserbeförderung gedacht und mit einem einzigartigen Transportsystem angelegt worden. Außerdem sind die Wehrtürme mit Schießlöchern versehen, die den Dorfbewohnern nicht nur die Wahl der Flucht, sondern auch des aktiven Widerstands überließen.
Fast scheint das Dorf dem ältesten der klassischen chinesischen Texte, dem Buch der Wandlungen, nachempfunden zu sein. Schaut man auf die acht Trigramme des I Gings sieht man in der Mitte den Turm, von dem die Häuser strahlenförmig abgehen und in eine Umrandung mit acht Toren münden.
Beim Rundgang durchs Dorf hört man unter den Füßen das Wasser kräftig rauschen. Xiao hebt vorsichtig eine Steinplatte an und zeigt auf den Tunnel, der breit und tief genug ist, um darin zu stehen. Bei der Schneeschmelze wird das Wasser von den Gipfeln in die Tunnel geleitet und dann durch Abzweigungen über das ganze Dorf verteilt. Neben der Nützlichkeit der Wasserversorgung hat dieses unterirdische System auch den Nebeneffekt, die Außentemperatur von unten herauf etwas abzukühlen.
Heute sind nur noch zwei der vier-, sechs- oder achteckigen antiken Türme, dem Wahrzeichen der Qiang-Nationalität, in Taoping erhalten. Das Dorf hat sowohl Kriege als auch Naturkatastrophen aufgrund einer hervorragenden Bauweise, die ohne die heutigen unerlässlichen Pläne, Lotleinen oder Baugerüste ausgekommen ist, überlebt. Xiao erklärt, dass die Häuser und Türme jeweils Stockwerk für Stockwerk gebaut und Schicht für Schicht klebriger Lehm als Bindemittel für die Steine genutzt wurde. Der hohe Kalium-Gehalt in den örtlichen Steinen und im Lehm, so jedenfalls seine Vermutung, soll den Wänden Stabilität verliehen haben.
Früher haben die Dorfbewohner Landwirtschaft betrieben. Jetzt kommen Unterhalt und Einnahmen vom Tourismus. Taoping zieht jährlich 70 000 Besucher an. Eine Familie kann mit der geführten Besichtigung ihres Hauses durchaus 10 000 Yuan pro Jahr verdienen. Und wer nur ein kleines Haus hat, verkauft lokale Produkte und handgefertigte Souvenirs. Besonders das traditionelle handwerkliche Gewerbe, die Stickerei und Weberei, sind bei den Touristen gefragt.
Die Qiang-Familien leben meist in dreigeschössigen Häusern mit anliegenden Gemüsegärten. Der erste Stock dient der Lagerung von Nahrungsmitteln und manchmal auch der Haltung von Haustieren. Die oberen Geschosse sind dem Familienleben vorbehalten. Besonders wichtig ist die Haupthalle im zweiten Geschoss mit einer stets leise prasselnden Feuerstelle. Diese Feuerstelle ist für die Qiang ein heiliger Ort und auch die Quelle vieler Tabus. Für gewöhnlich darf niemand in die Nähe des Platzes kommen, wo das Brennholz gestapelt ist. Dort darf nur der Feuergott sitzen. Dennoch versammeln sich die Familien gerne an der Feuerstelle. Besonders zu Hochzeiten und Geburtstagsfeiern trifft sich das ganze Dorf in der Haupthalle, um sich rund um das Feuer zu setzen, „Alkohol zu saugen“, Volkslieder zu singen und den traditionellen „Shalang“ zu tanzen. Die Qiang sind bekannt dafür, außergewöhnliche Tänzer und Sänger zu sein.
Unter dem Begriff „Alkohol saugen“ versteht man eine ziemlich ungewöhnliche Trinkmethode. Zuerst wird selbstgebrannter Alkohol aus Gerste und Korn hergestellt, der sieben oder acht Nächte, manchmal auch länger, in abgedichteten Fässern gelagert wird. Dann wird ein Fass geöffnet, Wasser hinzugefügt und ein Bambusrohr, das als Strohhalm dient, ins Fass gesteckt. Die jeweiligen Trinker wechseln sich der Reihe nach ab. Nach dem Toast, den der Dorfälteste ausbringt, wird eine Runde weitergetrunken. So hat dieser Brauch unter dem Namen „Alkohol saugen“ seinen Sinn (und Nachahmer) bekommen.
Für die Qiang ist die Verehrung ihrer Ahnen genauso wichtig, wie die von dreißig verschiedenen anderen Gottheiten. An der Spitze steht der Himmelsgott. Alle Gottheiten werden durch heilige weiße Steine symbolisiert, die im dritten Stock aufbewahrt und nur über eine Hühnerleiter zu besichtigen sind. Die Mehrheit der Qiang übt eine polygame Religion aus.
Nun aber zu der List der Dorfbewohner Taopings, um die Touristenmassen in den Griff zu bekommen. Was ihnen mit der abbaubaren Bambusbrücke schon mal gute Dienste geleistet hatte, um feindliche Invasoren abzuwehren, geht heute nicht mehr. Die neue Brücke ist aus Zement. Aber sie haben die äußere architektonische Umzäunung mit den acht Toren zu Eintrittsschleusen und Kassenhäuschen umfunktioniert. Jeder Besucher muss für die Besichtigung zahlen. Was der Besucher nicht weiß, ist, dass er eine Kopie besichtigt. Der eigentliche alte Dorfkern wurde mit einer Kopie seiner selbst ummantelt. Ja, ein eindeutiger Sieg des Nicht-Authentischen über das Authentische, freut sich Chen Xiao.
Und manchmal ist die Kopie schöner als das Original!