Nantes – die Stadt der Kunst und der
Künstler überrascht und bezaubert
von Ronald Keusch
Die Stadt Nantes an der Loire nahe der französischen Atlantikküste hat einige Wandlungen durchgemacht und präsentiert sich heute mit vielen Gesichtern. Vor drei Jahrhunderten war sie eine bedeutende Hafenstadt und vor einigen Jahrzehnten dominierten noch Werften und Schwerindustrie den Ort. 1987 schloss die letzte Werft ihre Tore, Arbeitslosigkeit und sozialer Abstieg waren die Folge. Seitdem hat sich Nantes mit Hilfe der Kultur neu erfunden.
Titelbild: Kunst am Kai von Nantes: Les Anneaux, die Ringe, von Daniel Buren
Vor nunmehr 34 Jahren, als der junge damals 39jährige Bürgermeister Jean-Marc Ayrault ins Rathaus einzog, wurde mit dem Titel „Le Voyage a Nantes“ eine einzigartige Struktur geschaffen. Sie verbindet Tourismus, Kultur und historisches Erbe und macht die Kultur zum Aushängeschild der sechstgrößten Stadt Frankreichs mit ihren derzeit etwas über 300.000 Einwohnern. Aus geschlossenen Schiffswerften und traurigen Industriebrachen wurde eine einzigartige Kulturlandschaft in Nantes kreiert.
Die Besucher von Nantes können im öffentlichen Raum der Stadt über 120 (!) Kunstwerke entdecken. Der Wegweiser dafür ist eine auf Straßen und Wegen gezogene grüne Linie.
Mittlerweile ist die Strecke auf zwanzig Kilometer angewachsen. Und jeder kann sich einen Abschnitt heraussuchen. Da ist dann Staunen, Lächeln und vielleicht auch Kopfschütteln angesagt – gleichgültig wird kaum jemand bleiben.
Entdeckungsreise durch die Stadt
Als Start für die Entdeckungsreise bietet sich der Place du Bouffay im Zentrum der Stadt an. Hier kann man in den Seitenstraßen mit Kulturerbe und zeitgenössischer Architektur beginnen, so mit dem „Jungle Interieure“ – dem Indoor Dschungel – des Künstlers Evor, der in einem Innenhof ein kleines Pflanzenwunder geschaffen hat. Auf dem Platz selbst steht die mittlerweile berühmte Bronzestatue „Éloge du pas de côté“ – Ein Loblied auf den Seitenschritt – des französischen Künstlers Philippe Ramette. Sie stellt den Künstler selbst dar, wie er mit einem Bein über der Leere balanciert, eine originelle Statue, die das Unkonventionelle wie Kreative der gesamten Kunstszene symbolisiert.
Die nächste Station, der Botanische Garten Parc Jardin des Plantes im Zentrum von Nantes, steht stellvertretend für eine weitere beeindruckende Bilanzzahl: Die Stadt errechnet stolze 141 Quadratmeter an Grünfläche pro Einwohner. Hier im Park findet man weitere spektakuläre Kunstprojekte wie das Feydball, eine Kombination aus dem Ortsnamen Carré Feydeau mit dem Sport Fußball. Es entstand ein Fußballfeld, das sich ganz ungewöhnlich den Gegebenheiten des Platzes anpasst, mit einem halbmondförmigen Bogen, wo sich die Tore nicht gegenüberstehen.
Und gleich daneben ein Spielplatz mit der Drachenrutsche
des japanischen Künstlers Kinya Maruyama, eine wild aussehende Holzkonstruktion in Form eines Drachens mit einer Kinderrutschbahn.
Verspieltes und skurrile Poesie im Park
In dem wundervoll gestalteten Park hat seit einigen Jahren die
Kunst des Grafikdesigners Jean Jullien Einzug gehalten mit seinen verspielten Figuren, die sich über die sieben Hektar Parkfläche verteilen.
Ebenso spektakulär die überdimensionale Sitzbank des Kinderbuchautors und Illustrators Claude Ponti und sein schlafendes Tier Dormanron mit einem Hauch skurriler Poesie.
Es macht einfach Spaß, in diesem Park zu bummeln, der auch mit seltenen Pflanzen aufwarten kann. So ist die Vielzahl von Kamelien-Bäumen zu bestaunen und als absolute Besonderheit etwa 500 Sorten von Magnolien.
Bei einem Bummel durch Nantes kommt auch die Historie nicht zu kurz. Denn hier steht das Lieblingsschloss von Anne de Bretagne, der Herzogin der Bretagne. Im Schloss befindet sich das Museum für Stadtgeschichte mit 32 Räumen, von denen einer einen virtuellen Rundgang durch Nantes im Jahr 1757 zeigt. Neben dem wissenschaftlichen und historischen Aspekt erzählen Schriftsteller, Dichter, Maler und Filmemacher die Geschichte der Stadt.
Verschiedene Sichten auf „Lob der Übertretung“
Nicht weit entfernt vom Königssitz das einzige Denkmal in Frankreich von Ludwig XVI., der in der französischen Revolution 1793 öffentlich mit der Guillotine hingerichtet wurde. So ein royales Denkmal ist nur in der Bretagne möglich, meint mein Guide Timothée Demeillers. Und der König auf der Säule trägt sogar noch seinen Kopf oben.
Während darüber vielleicht noch Historiker diskutieren, sind bei der künstlerischen Arbeit „Eloge de la Transgression“ – „Das Lob der Übertretung“ von Philippe Ramette verschiedene Sichtweisen sogar erwünscht.
Der Betrachter sieht ein Schulmädchen, das auf einen leeren Sockel klettert. „Oder ist sie gerade dabei, von diesem herabzusteigen? Der Künstler experimentiert und fordert zur Diskussion auf“, so Timothée.
Nur wenige Dutzend Meter von dem Sockel mit dem Schulmädchen entfernt befindet sich das Denkmal von General Pierre Cambronne, der den Engländern auf dem Schlachtfeld in Waterloo das legendäre Wort „Merde“ entgegenschleudert haben soll. Gibt es zwischen beiden Denkmälern eine Beziehung, Begeisterung oder auch Ablehnung für das Militärische? Will das Mädchen dem General zujubeln oder ihn gar anklagen, weil er so viele junge französische Soldaten in den Tod geschickt hat? Nachdenkliches für den Betrachter, der vom Künstler ernst genommen wird.
Beeindruckende Tischtennisplatten
Auf der Nantes-Insel erwarten den Besucher noch sportliche Herausforderungen.
Im Ping-Pong-Park rufen künstlerisch originell gestaltete blaue Tischtennisplatten dazu auf, bespielt zu werden.
Nichts leichter als das, denn im gegenüberliegenden Restaurant kann man Tischtennis-Kellen und einen Tischtennisball kostenlos ausleihen. Lässt man sich allerdings dann mit etwas Schweiß auf der Stirn zum Durstlöschen mit einem Leffe-Bier verlocken, dann kann so ein 0,3-Glas schon mehr als sieben Euro kosten. Na, dann Prost.
Statt von solchen Preisen sollte sich der Besucher auf der grünen Linie eher durch Bauten in der Gegend des Creative Campus beeindrucken lassen. Schon allein die schicke Fassadengestaltung des Kreativ-Hauses, der Architekturschule sowie des imposanten Justizgebäudes lohnen eine Stippvisite.
Lebendige Maschinen der Kunst
Das große Spektakel erwartet den Touristen dann im Parc des Chantiers unter der großen Überschrift: „Les Machines de l’île“. Dabei handelt es sich um ein völlig neuartiges Kunstprojekt. Die Schöpfer des Projektes François Delarozière und Pierre Orefice kommen aus der Welt des Straßentheaters und urbaner Inszenierungen. Die Teams der beiden Künstler führten die imaginären Welten von Jules Verne, geboren und aufgewachsen in Nantes, das mechanische Universum von Leonardo da Vinci und die industrielle Vergangenheit der Stadt zusammen. Es wurden „lebendige“ Kunstereignisse entwickelt und dazu mechanische Skulpturen entworfen und gebaut. Die ersten Maschinen sind im Jahr 2007 zum Leben erwacht.
Zu ihnen gehörte mit 12 Metern Höhe, 8 Metern Breite und 21 Metern Länge der Grand Éléphant.
Der Koloss aus Stahl und Holz mit 48,8 Tonnen Gewicht ist zweifellos noch heute der Star der Maschinen-Parade. Die mobile Skulptur des majestätischen Dickhäuters verlässt regelmäßig die stählerne Werfthallen-Kathedrale zu einem Spaziergang.
Es ist nahezu magisch, wie lebensecht die Bewegungsabläufe sind, von der Bewegung des Rüssels bis zum Blinzeln der Augenlider. Und wer ihm zu nahekommt, findet sich in einem Schwall von Wasserdampf wieder. Bis zu 50 Passagiere können an Bord gehen und im Inneren des Elefantenbauches das Räderwerk und die Beinbewegungen bestaunen.
Karussell der Meereswelten
Vom Rücken des großen Elefanten können die Passagiere auf die Loire-Kais und auf eine weitere Sensation des Parkes schauen: Das „Carrousel des Mondes Marins“, das Karussell der Meereswelten. Es ist eine Hommage der Künstler an die maritimen Wurzeln von Nantes. In einer Betonröhre mit einem Durchmesser von 22 Metern, überdacht von einer Zeltkuppel, sind drei Karussells übereinander gebaut. Im untersten können sich die Besucher auf den Lebewesen des Meeresbodens platzieren, in der Ebene darüber drehen sich skurrile und fast furchteinflößende Kreaturen der Tiefseegräben, und das oberste Karussell führt an die Meeresoberfläche.
Jules Verne lässt grüßen, dessen Museum sich am gegenüber liegenden Ufer befindet.
Die kreative Nanteser Küche
In Frankreich und speziell in der Kunst- und Kulturstadt Nantes begibt sich der Besucher immer auch auf eine kulinarische Reise. Unter dem Titel „Les Tables de Nantes“ sind 166 Adressen aufgelistet, von der Kategorie „schnell und gut“ bis hin zur Sterneküche. Insbesondere die Liebhaber von Fisch und frischen Meeresfrüchten kommen hier voll auf ihre Kosten, der Fisch wird gerne mit der berühmten Beurre Blanc serviert, einer Sauce aus Weißwein, Schalotten und viel geschlagener Butter. Dazu passt hervorragend die Weinspezialität der Loire-Region, der Muscadet, ein frischer und leichter Weißwein aus der Rebsorte Melon de Bourgogne. Hier bestätigt sich der Ruf der Nanteser Küche als maritime aber zugleich bodenständige Küche mit einem einzigartigen Esprit, der offen ist, neugierig, verbindend und reiselustig.
„Bistro Berlin 1989“ in Nantes
In die Reihe der ungewöhnlichen Restaurationen passen unbedingt auch die drei Bistros mit dem Namen „Berlin 1989“. Ich besuche das Bistro im Universitätsviertel an der Tram-Station Nantes Morrhonnière-Petit Port. Wie „Berlin 1989“ hier nach Nantes an die Atlantikküste kommt, ist einfach erklärt. Der Gründer und Eigentümer Thomas Dutour hat in seinem bewegten Leben als Künstler und Unternehmer vor 3 Jahrzehnten auch fünf Jahre in Berlin-Kreuzberg gelebt. Seine Unternehmensidee hat sich im kreativen Nantes als erfolgreich erwiesen. Insgesamt kann der Gast zwischen zehn deutschen Biersorten zu moderaten Preisen auswählen. Dazu sind einige Dutzend Bistro-Speisen im Angebot, mit flippigen Namen wie „Oranien-Straße“ (würziges Hähnchen, hausgemachte Pommes mit Salat) oder „Checkpoint Mehmet“ (Frikadellen mit Auberginen) oder „Kaiser Bismarck“ (Salat mit Hühnerbruststreifen). Auch die Cocktailkarte hat überraschende Titel wie „Porn Star Alexanderplatz“ mit Wodka oder „Sankt Pauli Killer“ mit Rum.
Die eher zurückhaltende Dekoration hält für die
deutschen Besucher einige Erinnerungen parat. Auf einem kleinen Videoschirm in der Ecke läuft als fortlaufender Videofilm die Uralt-Krimiserie „Derrick“ – glücklicherweise ohne Ton.
Da lächelt von einer Bilderwand der erste deutsche Kosmonaut im Weltraum Sigmund Jähn aus dem Vogtland, da landet in Berlin Tempelhof noch ein Flugzeug
und der Foto-Schnappschuss der Umarmung zwischen Breshnew und Honecker trägt die nette Unterzeile: „Now it`s time…to dance“.
Das sind Bildideen eines Franzosen aus Berlin Kreuzberg, der in Nantes das Lokal Berlin 1989 betreibt.
www.levoyageanantes.fr
www.estuaire.info/fr/
Fotos: Ronald Keusch