DREI MANN UND EINE GROSSE LIEBE

Vor 40 Jahren ging die Dampflok-Ära in Stralsund zu Ende: Was bleibt, ist einzig die Erinnerung. Gemeint sind die damals in der Hansestadt beheimateten Maschinen der Baureihe 03 10, wegen ihrer guten Fahreigenschaften auch „Salon- oder Schnellzugdampfer“ genannt.

Da sitzen sie dieser Tage um einen Packen Fotos herum, die alten Dampf-Haudegen Franz Eickhoff und Franz Starrey.
Der 30. Mai 1980 hat sich ihnen tief ins Gedächtnis eingegraben. Sie wissen noch ganz detailliert, wie dieser denkwürdige Tag im damals noch gepflegten DR-Betriebswerk Stralsund verlief.

(Bild oben: Sonderzug unter Volldampf von Berlin nach Stralsund)

„Wir mussten uns gesund, munter und einsatzfähig bei der Lokleitung melden“, beginnt Eickhoff und Starrey ergänzt: „Bis wir abfahren konnten, waren viele Arbeitsschritte notwendig, die uns in Fleisch und Blut übergegangen waren“.
Das begann mit der Lokzuteilung, dann Schlüsselübergabe, Einsicht ins Strecken-Befehlsbuch mit Angabe von Baustellen und Langsamfahrstellen, Übernahme der bereits unter Dampf stehenden Lok im Rundschuppen, Betriebsmittelkontrolle von Öl, Bremssand, Kesselspeisewasser und Chemiekalien, Bremsprobe, Dichtigkeitsprüfung.
„Wir sind dann über die Drehscheibe zur Lokübergabestelle gerollt“, so Starrey, „haben uns gemeldet mit ´Lok 03 1010 für Zug 813` und hörten dann: ´Ja, geht in Ordnung!`“. Kollege Peter Sobottka, Dritter in der Runde, der andere Maschinen derselben Baureihe fuhr, erklärt: „Das war der D-Zug Stralsund-Leipzig über Berlin-Lichtenberg, wo die Lok gewechselt wurde. Zurück hieß er D 914 und kam von Dresden. Die 1010 blieb solange in Berlin und wurde für die Heimfahrt restauriert“.

von links nach rechts: Peter Sobottka, Franz Eickhoff, Franz Starrey (mit Modell-Lok) vor dem Wandbild der Stralsunder Traditionslok 03 1090

Glänzender Goldbroiler

Nach der Vorbereitungsprozedur kam die Freigabe, so dass die Lok rückwärts an den Zug setzen konnte – „möglichst erschütterungsfrei wegen der Leute im Zug“, grinst Eickhoff. Erst dann konnte der Heizer ankoppeln. Noch eine Bremsprobe, bis der Wagenmeister vermeldete: „Bremsen in Ordnung!“ Mit dem Ölregler– 1965 wurde auf Flüssigtreibstoff umgestellt – musste der Heizer jetzt für Spitzendampfdruck sorgen und den Kesselwasserstand überprüfen.

Die Bw-Mannschaft am 30.5.1980 vor ihrer Lok in Stralsund

09.14 Uhr: Das Signal springt auf Grün. Die Bahnsteigaufsicht hebt die grüne Kelle.  „Ausfahrt frei!“, ruft Lokführer Franz Eickhoff, der auf der rechten Seite seinen Platz hat, dem Heizer zu.

Ein kurzer Pfiff und der 164-Tonnen-Koloss mit seinen zwei Meter hohen Rädern zieht an, eine Schlange von acht Reisezugwaggons am Haken.

Ihr Gewicht von 342 Tonnen sind kein Problem für die 2000-PS-Maschine. Dicke Dampfschwaden umhüllen die zahlreichen Zuschauer des morgendlichen Spektakels auf dem Bahnsteig. Die Stirnseite der blankgewienerten Lok ist mit Maigrün geschmückt, ein weißes Schild verkündet unübersehbar:

„Bw Stralsund – letzte planmäßige Dampfbespannung
D 813/D 914 am 31.5.1980“

Mit geübten Griffen an Regler und Steuerung beschleunigt Franz Eickhoff die 24 Meter lange 03 1010. Sie ist nicht nur der Star, sondern das einzige betriebsfähige Exemplar dieser Baureihe. Nach einem erneuten Umbau 1981 auf Rostfeuerung ist sie auch die schnellste kohlegefeuerte Dampflok Deutschlands. Von Lokführern bekam sie wegen ihres glänzenden Pflegezustands und Messing-Schornsteinrings den Spitznamen „Goldbroiler“.

Der Autor in Lokführer-Uniform auf dem 03 1010-Führerstand in Binz

Britisches Roaring Monster

Wenn man jemals erlebt hat, wie der Heizer im Schweiße seines Angesichts schaufelweise Steinkohle in die glühende Feuerbuchse schleudert, der bekommt Respekt.  Elf Tonnen, die für 400 bis 500 Kilometer reichen, lagern auf dem Tender. „Das war harte Arbeit, bei Wind und Wetter, aber wir mochten sie trotz allem“, sieht das Sobottka völlig unromantisch, „im Gegensatz zu den vielen Fans an den Strecken und in den Traditionszügen“.

Eickhoff ist mit seinen Gedanken wieder auf dem Führerstand: „Als ich die Streckengeschwindigkeit erreicht hatte, hab ich die Steuerung auf 30 Prozent und den Regler auf mittlere Dampfzufuhr gestellt.
Über Grimmen, Demmin, Neubrandenburg (mit Wasserergänzung), Neustrelitz und Oranienburg wurde Lichtenberg angesteuert. „Unterwegs“, leuchten Starreys Augen, „begeisterten sich immer wieder die Fans am markanten Auspuffschlags im Drillingstakt. Auf Grund dieses speziellen Klangs im  höheren Geschwindigkeitsbereich erhielt 03.1010 von britischen  Eisenbahnfans den Spitznamen ´Roaring Monster´”.

03 1010 mit Sonderzug vor der Volkswerft auf dem BhfRügendamm

Bewunderter Dampflok-Star

„Als unser Salondampfer“, lächelt Eickhoff, „in Berlin auf ihren von einer Diesellok gezogenen Dresdner Zug wartete, kam der deutlich später an. Wir holten bis Stralsund sogar noch zehn Minuten raus“. Peter Sobottka weiß zu berichten, dass heute die ICE-Fahrtzeiten fast identisch waren mit den damals 03 bespannten D-Zügen.
Die Drei machen sich stark für die Maschine. Man erfährt, dass der damals wie heute unverändert bewunderte Dampflok-Star am 7. November 1940 bei den Borsig-Werken in Hennigsdorf (zu DDR-Zeiten dann LEW) gebaut und im Bahnbetriebswerk Berlin-Grunewald in Dienst gestellt wurde. Wie auch ihre in Schwerin abgestellte, nicht betriebsfähige Stralsunder Schwester 03.1090 hat sie Eisenbahngeschichte geschrieben. Gegenüber der Vorgängerversion 03 wurde mit ihrem leistungsfähigeren Drillingstriebwerk auch eine höhere Laufruhe im Bereich der  Höchstgeschwindigkeit von 140 km/h erreicht.

In den Bestand der Deutschen Reichsbahn der DDR kamen nach dem Krieg insgesamt 21 Lokomotiven der Baureihe 03.10. Sie waren in den Betriebswerken Leipzig-West und Halle P  und Dresden stationiert. Ihre ursprüngliche schnittige Stromlinienverkleidung wurde, weil unnötig und störend, schon bald entfernt. Ab 1954 wurden sie allmählich nach Stralsund umbeheimatet.

Eindrucksvolles Lokleben

Meister Franz Eickhoff ließ die Dampfpfeife aufheulen. Mit bis zu Tempo 100 stampfte 03 1010 nach Süden, dass die Treibstangen die Zwei Meter-Treibräder nur so durch Felder und Wälder flogen. Als abends die Backsteinkulisse von Stralsund gegen 19.30 Uhr wieder in Sicht kam, ging eine 120 Jahre-Ära zu Ende.
Franz Starrey übernahm und brachte die Lok in den Schuppen: „Da kühlte sie dann ab“, sagt er rückblickend voller Wehmut, „und ging dann zurück ins RaW nach Halle“.
Er und seine Kollegen mussten auf Dieselbetrieb umsatteln.
Bis dahin legte die Maschine mehr als drei Millionen Schienen-Kilometer zurück.

Die drei Kollegen setzen sich jetzt dafür ein, dass das heiß geliebte Unikat 03 1010 mit seinem eindrucksvollen Lokleben erhalten bleibt und wieder unter Dampf kommt. Sie gehört zum Bestand der DB Nürnberg, aber braucht Spendengelder in Höhe von 850.000 Euro (s. Webseite von Traditionsgemeinschaft Bw Halle P e.V.), um in Meiningen wieder fahrfähig aufgearbeitet werden zu können und ihre Fans nach Stralsund und Rügen zu bringen.
www.lokschuppen4.de

Auch am 12.10.2013 zur 150-Jahrfeier des Bahnhofs Stralsund dabei

Fotos: Dr. Peer Schmidt-Walther

Info:
Wer mehr über den Dampflok-Star erfahren möchte, dem sei das Buch „Die Baureihe 03 10 der Deutschen Reichsbahn“ von Robin Garn empfohlen:
ISBN 3-935909-23-3
Zur Buchmesse 2020 erscheint der Roman von Arno Surminski „Irgendwo ist Prostken – aus dem Leben eines masurischen Lokführers“.